Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumbiens Verschwundene: Medellíns Schuttberg
> In Kolumbien suchen Frauen seit mehr als zwanzig Jahren nach ihren
> Kindern, die während der Paramilitärherrschaft verschwanden.
Bild: Margarita Restrepo denkt jeden Tag an ihre verschwundene Tochter Carol Va…
Medellín taz | An jenem Julitag, als sie das Mädchen in der Erde fanden,
brach Margarita Restrepo zusammen. Ihre Gesichtszüge entglitten, der Kopf
pochte vor Schmerz. „Ich weinte und weinte und weinte.“ Normalerweise ist
Margarita Restrepo gut darin, stark zu sein. Wenn die anderen Frauen nicht
mehr können, ist die kleine Frau da, reicht ihnen Kräutertee, umarmt sie in
ihrer Trauer, in ihrer Verzweiflung.
An jenem Tag aber steht sie [1][am Rand der Ausgrabungsstätte] und
betrachtete die Fundstücke aus dem Loch, eingetütet. Eine Bluse, die aussah
wie eine, die ihre Tochter getragen hatte. Der BH, halb gepolstert, wie
Carol Vanessa einen hatte. Eine blaue Perle, wie von der Kette, die sie so
gerne trug. Und dann die Zähne im Schädel, einfach perfekt. „Sie hatte kein
Karies, nicht eine einzige Füllung.“ Auch das Alter passt, zwischen 16 und
18 Jahren wohl.
Haben sie an diesem staubigen Ort, nach all den Jahren, endlich ihre
Tochter gefunden? Margarita Restrepo hofft es. Und hat zugleich Angst.
[2][Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens], liegt längs in einem Tal.
Rechts und links davon ist die Stadt die Berge hochgewachsen. In einem
dieser Berge befindet sich das größte Massengrab des Landes: La Escombrera,
auf deutsch etwa: Schuttabladeplatz. Seit Jahrzehnten wird hier der
Bauschutt der Millionenstadt tonnenweise abgeladen. Auch auf die Körper von
ermordeten Menschen.
Das ist seit mehr als 20 Jahren ein offenes Geheimnis in Medellín. Wo heute
der Eingang zum Steinbruch ist, befand sich mindestens zwischen Juni 2002
bis 2003 eine Basis von Paramilitärs. Nur etwa 200 Meter entfernt von
Wohnhäusern.
„Es gab dieses Gerücht, dass sie in der Escombrera Menschen ermordeten und
dort vergruben. Die Leute sagten das. Aber niemand sah es, denn sie ließen
niemanden hinein“, sagt Gustavo Salazar. Er ist Richter des Sondergerichts
für Frieden und leitet seit 2018 Ermittlungen.
[3][Ehemalige Paramilitärs], allen voran Juan Carlos Villa Saldarriaga
alias Móvil 8, berichteten, wie Bauarbeiter in die Verbrechen hineingezogen
wurden: Auf Befehl mussten sie mit dem Bagger Gruben ausheben, in die die
Täter die Leichen warfen und die sie zuschütten ließen – manchmal erst nach
der Ermordung vor Ort.
Dass heute, nach mehr als 20 Jahren nach den Opfern gegraben wird, hat mit
dem Friedensabkommen zwischen Farc-Guerilla und dem kolumbianischem Staat
von 2016 zu tun. Es sah erstmals eine Sucheinheit für Verschwundene (UBPD)
vor – was Opferorganisationen seit Jahrzehnten gefordert hatten – und das
Sondergericht für den Frieden (JEP).
Es soll die strafrechtliche Verantwortung für schwere Verbrechen klären,
die während mehr als 50 Jahren bewaffneten Konflikts in Kolumbien begangen
wurden. In der Escombrera werden dabei Taten untersucht, an denen
staatliche Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs oder zivilen
Helfern beteiligt waren.
Doch noch bis 2020 wurde [4][in der Escombrera] Schutt abgeladen. Über
Jahrzehnte hinweg erteilte die Stadtverwaltung Medellín, trotz der
Beschwerden von Opfergruppen der Ombudsstelle und
Menschenrechtsorganisationen, den Eigentümern immer wieder die Genehmigung
dazu.
## Seit 2024 laufen die Grabungen in La Escombrera
Seit Juli 2024 graben sie an diesem Berg, das Team des Sondergerichts für
den Frieden, anfangs noch mit der [5][Sucheinheit für Verschwundene].
Anthropolog:innen, Topograf:innen, Arbeiter:innen. Um zur Wahrheit zu
kommen, müssen sie wortwörtlich einen Berg versetzen. 43.000 Kubikmeter,
2.800 Lastwagen voller Schutt, Geröll, Erde und Müll haben sie bislang
abgetragen.
An der höchsten Stelle waren es etwa 25 Meter, die sie in die Tiefe graben
mussten. Gegen mögliche Erdrutsche leiten sie Wasser ab, verlegen
Drainagen. Mit schweren Maschinen haben sie sich in etwa sechs Monaten bis
zur Schicht des Jahres 2004 vorgearbeitet. Das Ziel ist jetzt, vorsichtiger
weitere drei Meter abzutragen, bis zum Jahr 2002. Denn in diese Zeit fallen
die meisten gewaltsam Verschwundenen aus der Comuna 13, die Margarita
Restrepo und andere Mütter hier suchen.
Kolumbien-Reisende kennen nur einen kleinen Ausschnitt [6][der riesigen
Comuna 13] – zwischen der Metrostation und den elektrischen Rolltreppen.
Hier erzählt die Stadt die Geschichte, die der rechte Bürgermeister
Federico Gutiérrez so gern mag: Wie aus der einst gefährlichsten Stadt der
Welt, Heimat des gleichnamigen Drogenkartells, die saubere, grüne,
graffitiverschönte Top-Destination der Digitalnomad:innen wurde.
In den 1980ern galt die Comuna 13 als der Ort, aus dem Pablo Escobar unter
den armen Jugendlichen seine Auftragsmörder rekrutierte. In den 90ern
ließen sich dort die urbanen Milizen der Guerillas nieder, Farc, ELN und
CAP. Danach kamen die Paramilitärs, um sie zu bekämpfen und sich den
Drogenkorridor in den Bergen zu sichern.
Zwischen 2001 und 2004 führten [7][die staatlichen Sicherheitskräfte 34
Militäroperationen] in der Comuna 13 durch, mit dem Ziel, die Guerilla zu
besiegen und die Stadt wieder sicher zu machen. Die bekannteste war die
Operation Orion von Oktober 2002 bis September 2003. Mit 1.000 Soldaten,
Geheimdienstmitarbeitern, der Staatsanwaltschaft und Vermummten.
Paramilitärs hatten die Operation vorbereitet, arbeiteten mit Armee und
Polizei zusammen, die Menschen willkürlich festnahmen, die dann
verschwanden.
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den
kolumbianischen Staat deshalb verurteilt. Kampfhubschrauber schossen aus
der Luft, Panzer drangen ins Viertel ein, in dem die Bewohner:innen
eingekesselt waren. Am Ende war die Guerilla in der Comuna 13 vernichtet –
aber die Herrschaft der Paramilitärs vom Bloque Cacique Nutibara begann.
Für die Bewohner:innen bedeutete das: [8][noch mehr Terror]. Oder, in
den Worten eines Gerichtsurteils von Medellín, das vor zehn Jahren im Zuge
des Demobilisierungsgesetzes für Paramilitärs urteilte: „Die Mitglieder der
Bloque Cacique Nutibara holten ihre Opfer aus ihren Häusern, fesselten sie,
folterten und/oder erstickten sie mechanisch und zerstückelten, zerteilten
und/oder enthaupteten sie. Anschließend begruben sie sie an Orten, die
üblicherweise für diesen Zweck genutzt wurden, wie La Escombrera.“
Laut Berichten der Sucheinheit nach Verschwundenen sind in der Comuna 13 in
den 40 Jahren vor dem Friedensabkommen rund 500 Menschen gewaltsam
verschwunden – allein im Jahr 2002 rund 20 Prozent, mit Abstand die
meisten. Laut Aussagen verschiedener Paramilitärs sollen rund 70 in der
Escombrera begraben sein.
## Seit über 20 Jahren nicht geschwiegen
Margarita Restrepo hat sich die Lippen rot geschminkt und ein buntes
Oberteil mit Glitzer übergeworfen beim Hausbesuch im Stadtteil, der
ungenannt bleiben soll. Mehrfach musste sie wegen Drohungen umziehen. Seit
über 20 Jahren will [9][sie dennoch nicht schweigen]. Sie engagiert sich in
der Gruppe Mujeres Caminando por la Verdad – Frauen marschieren für die
Wahrheit.
In der haben sich Angehörige aus der Comuna 13 vereinigt, um die Wahrheit
über die Verbrechen ans Licht zu bringen – von Vergewaltigungen bis
Verschwindenlassen. Sie sind Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Töchter von
Verschwundenen – und mittlerweile sogar Enkel. Die Jüngste ist 13 Jahre
alt.
Ihr immer noch mächtigster Gegner: [10][Ex-Präsident Álvaro Uribe], der
kurz vor der Operation Orion ins Amt kam, sie anordnete und sich auf die
Fahnen schrieb, mit seiner „demokratischen Sicherheit“ die Ordnung im Land
wieder herzustellen. Zu einem hohen Preis: Unter seiner Regierung
ermordeten staatliche Sicherheitskräfte unter anderem Unschuldige und
verkleideten sie als Guerilleros, um Erfolge vorzutäuschen, so genannte
falsos positivos.
Margarita Restrepo ist mehrfaches Gewaltopfer. Ihr Mann wurde verschleppt
und ermordet. Er hatte gesehen, wie Polizisten einen Jungen mitnahmen, der
nie wieder auftauchte. Restrepo fand ihn auf einem Friedhof in Medellín.
„Zumindest glaube ich das.“ Dann haben Kriminelle ihren Sohn Steven
erschossen, mitten in der Stadt. Da war er 17.
Und schließlich Carol Vanessa. Am 25. Oktober 2002 war sie mit zwei
Freunden für einen Besuch in die Comuna 13 gegangen, aus der die Familie
zuvor geflohen war, und kam nie wieder. Margarita Restrepo suchte die
Leichenhallen ab, reiste durchs Land. Bis Bewohner:innen der Comuna 13
ihr erzählten, sie hätten Carol Vanessa und ihre beiden Freunde hoch zur
Escombrera gebracht. [11][Von ihren sechs Kindern sind der 62-Jährigen vier
geblieben] – und ein Enkel, den sie wie ihr siebtes aufzog.
Die Fläche in der Escombrera, wo sie die Menschen zu finden hoffen, ist
mittlerweile 7.000 Quadratmeter groß. Schräg oberhalb von ihr ist die
Plattform der Angehörigen. Ein paar Container, ein offenes Zelt und ein
Aussichtspunkt, von dem aus sie die Ausgrabung verfolgen können. Es sind
fast ausschließlich Frauen. Jeden Tag fahren Autos mit Sondergenehmigung im
Wechsel etwa zehn Frauen durch das Gelände der Baufirma hier hoch.
Dort oben sitzen sie jetzt unterm Zeltdach und hantieren mit Heilkräutern.
Eine Psychologin der Stadt Medellín und eine Psychologin der Corporación
Jurídica Libertad begleiten sie. Auch ein Sanitäter ist immer dabei und
misst vor der Abfahrt allen den Blutdruck. Das Warten, das Trauern, das
Bangen geht an die Substanz.
„Für die Frauen ist das emotional und körperlich sehr anstrengend. Es ist
für sie eine große Freude, die menschlichen Überreste zu finden – aber
gleichzeitig sind es schockierende, sehr intensive Momente“, sagt Adriana
Arboleda. Als in der Escombrera [12][die ersten menschlichen Überreste]
gefunden wurden, überlebte eine alte Dame die Aufregung nicht. Sie war
starb zwei Tage später.
Nach 146 Tagen Graben wurden sie fündig. Am 18. Dezember 2024 stießen sie
auf den ersten Beweis für das, was die Mütter immer gesagt hatten: die
Überreste zweier Menschen. Eine junge Frau, die auf dem Weg zum Treffen
einer Jugendsportgruppe war und dort von Paramilitärs verschleppt wurde.
Und ein 28-jähriger Mann, der geistig und körperlich behindert war.
Beide stammten aus armen Vierteln. „Keines der beiden Opfer hatte
Vorstrafen, war Gegenstand von Ermittlungen oder Verurteilungen oder in
Geheimdienstakten erfasst“, heißt es in der Pressemitteilung des
Sondergerichts.
Das war Richter Gustavo Salazar wichtig: „Die extreme Rechte hat immer
gesagt: Wenn sie dort begraben sind, dann aus einem bestimmten Grund. Das
heißt, sie waren [13][Kriminelle, Guerillakämpfer, Milizionäre] oder
Drogenabhängige. Aber wenn jemand körperlich und geistig behindert war,
konnte er nicht am Krieg teilnehmen. So einfach ist das.“
Seither haben sie mindestens vier weitere Verschwundene hier gefunden. Im
Januar 2025 zwei junge Männer, einfache Arbeiter. Und Mitte Juli noch
einmal zwei Personen, den Körper der jungen Frau, die Carol Vanessa sein
könnte, und einen Mann. Mindestens – denn beim jüngsten Fund ist noch nicht
klar, zu wie vielen Menschen die Knochen gehören. Vier Opfer konnten bisher
identifiziert werden. Drei von ihnen hat das Sondergericht bereits
feierlich den Angehörigen übergeben.
Die bisherigen Funde und das Datum des Verschwindens belegen: „Seit Juli
2002 wurde hier gefoltert, gemordet und begraben“, sagt Richter Gustavo
Salazar. Über die ersten vier identifizierten Menschen weiß man, dass sie
an Schussverletzungen starben. „In mindestens einem Fall gibt es
ausreichende Beweise dafür, dass [14][das Opfer in einen Zustand völliger
Wehrlosigkeit gebracht und misshandelt] wurde, wobei auch Folter nicht
ausgeschlossen werden kann.“ Mindestens zwei wurden an Ort und Stelle
hingerichtet.
Der erste Fund in der Escombrera schlug in Kolumbien ein wie eine Bombe.
Ein Spruch war plötzlich überall: „Las cuchas tienen razón“ – die alten
Frauen haben Recht: Mütter wie Margarita Restrepo. An der Hauptstraße von
Norden nach Süden malten Künstler:innen und Aktivist:innen den
Spruch in Riesenbuchstaben auf eine Betonwand. Dazu Margarita Restrepo mit
erhobener Faust und einem Bild ihrer Tochter – und ein Porträt von
Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe über Totenschädeln.
„Dieses Wandbild bekräftigte, dass wir nicht verrückt waren, nicht gelogen
haben, dass es wirklich dort Tote gab“, sagt Margarita Restrepo. All das
hatten sich die Mütter über Jahrzehnte anhören müssen von denen, die nicht
wollten, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Bürgermeister Federico
Gutiérrez, ein parteinaher Verbündeter des Ex-Präsidenten Uribe, ließ das
Wandbild übermalen.
Die Empörung darüber war riesig, zumindest bei einem Teil der Gesellschaft.
„Die Mutter ist eine Respektsperson. Niemand legt sich mit der Mutter an“,
so Richter Salazar. Nun wurde der Spruch erneut gemalt. Diesmal nicht nur
in Medellín, sondern auch in anderen kolumbianischen Städten, im Ausland,
ja sogar in Berlin.
„[15][Das gewaltsame Verschwindenlassen] war nie ein bedeutendes Verbrechen
in Kolumbien, anders als die Entführungen“, erklärt Adriana Arboleda.
Entführungen wurden traditionell von der Guerilla begangen, Menschen
verschwinden lassen war die Handschrift der Paramilitärs. Und die
arbeiteten im bewaffneten Konflikt mit den Reichen und Mächtigen und dem
Staat zusammen.
„Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht nach den Verschwundenen der Comuna
13 gesucht?“, fragt Arboleda. „Weil sie nicht wollte. Weil dahinter
mächtige Personen steckten, weil wir hier Militäroperationen angeprangert
haben, die vom Präsidenten Álvaro Uribe angeordnet worden waren; weil Mario
Montoya Uribe, der sie befehligte, später Generalbefehlshaber der Armee
wurde.“
Die Menschen sollten sterben – und sie mussten verschwinden, damit die Mär
von der neuen demokratischen Sicherheit und vor allem [16][der verbesserten
Mordstatistik in Medellín] keinen Knacks bekam. So sagte ein Gericht in
Medellin schon 2015, dass es Beweise dafür gebe, dass „das
Verschwindenlassen von Personen ein Mittel war, um die Mordrate in der
Stadt nicht weiter ansteigen zu lassen … da die Verschwundenen nicht
gezählt wurden, die Leichen hingegen schon.“
## Die Knochen der Leichen werden untersucht
Auf der mittlerweile bloßgelegten Fläche steht der Kleinbagger und zieht
seine Schaufel in einem der abgemessenen Rechtecke zu sich. Daneben,
unberührt vom irren Panorama der Stadt im Tal, steht ein Anthropologe und
schaut in das Rechteck, bis auf die Augen vermummt gegen die brennende
Tropensonne.
Am blauen Himmel kreist ein Geier so nah, dass die weißen Flügelspitzen zu
erkennen sind. Die Zacken des Baggers sind abgedeckt, die Kante gerade. Das
Team ist auf einem Niveau, wo Vorsicht angebracht ist. Jedes Stück Plastik
kann ein Hinweis sein – etwa Verpackungen mit Haltbarkeitsdatum, alte
Telefon- oder Kreditkarten oder Süßigkeiten, die es nur in einer bestimmten
Zeit gab.
Unter den Augen der Angehörigen arbeitet Carlos Bacigalupo, 59 Jahre alt,
kurz rasierte Haare unter der Schiebemütze, tiefer Bass. Der Peruaner ist
seit mehr als 25 Jahren in der forensischen Anthropologie tätig, zum
Beispiel bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs
für das ehemalige Jugoslawien.
Seit 2014, als die Friedensgespräche mit der Farc-Guerilla begannen, ist er
in Kolumbien. Auf dem Balkan verliebte er sich in [17][eine kolumbianische
forensische Anthropologin]. In der Escombrera übernimmt er Aufgaben der
Kriminalpolizei als der Fachmann der Forensischen Technischen
Unterstützungsgruppe (Gatef) der Ermittlungs- und Anklageeinheit des
Sondergerichts.
Bacigalupo klickt sich durch Folien auf seinem Laptop. Fotos, Diagramme mit
einem Gewirr aus farbigen Linien, Querschnitte. Aus topografischer
Dokumentation, Satellitenbildern, Positionsbestimmung mit einem globalen
Navigationssatellitensystem – aus all dem haben die Fachleute
rekonstruiert, wie es hier aussah, als hier Menschen begraben wurden. Sie
waren mit ehemaligen Paramilitärs vor Ort.
Eiskalt seien die gewesen, sagt Bacigalupo, hätten ohne Emotionen
gesprochen. Er klickt durch Satellitenbilder. „Hier ist das Grün auf einmal
heller, was auf weniger Vegetation hindeutet. Das ist uns direkt
aufgefallen.“ Da hat sich also der Boden verändert. Es könnte ein Hinweis
sein, dass hier jemand vergraben wurde. Wann immer der Bagger auf etwas
stößt, das ein Mensch gewesen sein könnte, steht alles sofort still.
Die forensischen Anthropolog:innen legen die gefundenen Knochen
zusammen und bestimmen: [18][Wie viele Menschen waren das einmal?] Sie
interpretieren, was sie an der Fundstelle sehen. In der Rechtsmedizin
suchen sie mittels Autopsie nach der möglichen Todesursache, nach Spuren an
den Knochen, was den Menschen angetan wurde.
Parallel dazu werden die Zähne studiert und das Erbgut mit den gesammelten
DNS-Proben der Angehörigen verglichen. Am wertvollsten sind die der Mütter.
„Die Mütter erinnern sich an absolut alles. Es ist beeindruckend. Ihm
fehlte da unten ein Zahn. Oder: Er hatte ein wunderschönes Lächeln“, sagt
Richter Gustavo Salazar.
Wenn sie etwas finden, müssen sie die menschlichen Überreste am selben Tag
bergen und in die Rechtsmedizin bringen und wenn es bis spät in die Nacht
dauert. „Wir haben große Angst, dass jemand die Beweise stiehlt“, sagt
Margarita Restrepo. Der Baufirma Condor, der heute das Terrain gehört,
misstrauen die Frauen. „Das war eine der Firmen, die ihre Tore öffnete und
erlaubte, dass hier Körper hingebracht wurden. Condor hat uns Schaden
zugefügt.“
Bacigalupo sagt, dass neben der Bürokratie und der Feinarbeit bei der
Ausgrabung an sich die emotionale Seite schwierig sei. „Wir arbeiten
permanent mit den Opfern. [19][Die Frauen passen immer auf, was wir tun],
was wir nicht tun.“ Jeden Tag bringt er sie auf den neuesten Stand,
erklärt. Die Frauen hören zu, fragen nach. Und notieren fürs tägliche
Protokoll. Beobachten später genau, wo die Arbeiter langgehen.
„Man muss ihre Angst verstehen“, sagt Bacigalupo. „Und für uns ist es au…
schwierig, weil wir auch diese Beklemmung spüren, dass wir bloß alles
richtig machen – und gleichzeitig finden müssen, was wir suchen.“ Seit dem
jüngsten Fund kann er wieder nicht schlafen. Es ist die Sorge, nichts zu
finden, sagt er.
Margarita Restrepo kommt unbegleitet zur Escombrera. Ihre Kinder würden am
liebsten alles vergessen. „Es tut ihnen weh. Sie sagen, dass sie es nicht
aushalten, mich weinen zu sehen. Und sie haben Angst um mich“.
## Zwischen Angst und Hoffnung
Wenn sie nicht mehr kann, legt sie sich auf das Sofa in dem fensterlosen
Zimmer, das sie zu einem Schrein aus Erinnerungen ihrer Suche, ihres
Kampfes gemacht hat, mit Fotos und Urkunden und einer riesigen
selbstbestickten Decke an der Wand, die all die Grausamkeiten in der Comuna
13 zeigt, den Hubschrauber der Armee, die Toten, die Menschen, [20][die mit
Lastwagen ihre Habe wegschaffen, die Paramilitärs], ihre Tochter. Dann
weint sie, bis der Schlaf sie überwältigt.
Sie hat für ihre Tochter Gedichte geschrieben. Eins lautet: „Ich weiß, dass
du dort bist und ich kann dich nicht sehen. Aber die Erinnerung daran lebt
noch, wie die Trümmer dein Bild auslöschen könnten hinter den Tränen, die
meine Augen bedecken.“
Margarita Restrepo weiß noch nicht, was passieren wird, wenn die Überreste
der Leiche wirklich zu Carol Vanessa gehören. Sie hat Angst. Und
gleichzeitig hofft sie fieberhaft, dass sie es ist. Und dass Gott ihr die
Kraft und Gesundheit gibt, das auszuhalten. „Das Verschwindenlassen
verändert dich als Menschen. Ich [21][suche heute nicht nur nach Carol,
sondern nach allen Verschwundenen].“
11 Sep 2025
## LINKS
[1] /Suche-nach-Opfern-der-Paramilitaers/!5213258/
[2] /Reportage-aus-Kolumbien/!5169646
[3] /Kolumbiens-Ex-Praesident-verurteilt-/!6101761
[4] /Kolumbiens-Vorzeigemetropole-Medellin/!5270841
[5] /Aufarbeitung-von-Verbrechen-des-Militaers/!5851372
[6] /Reportage-aus-Kolumbien/!5169646
[7] /50-Jahre-Paramiliaers-in-Kolumbien/!5142466
[8] /Farc-Dissidenten-in-Kolumbien-toeten-Kinder/!5936574
[9] /Konferenz-ueber-Gewalt-in-Mexiko/!5354718
[10] /Kolumbiens-Sonderjustiz-fuer-den-Frieden/!5957358
[11] /Friedensvertrag-in-Kolumbien/!5339441
[12] /Virtuelle-Ausstellung-ueber-paramilitaerischen-Terror/!5823480
[13] /Bildung-in-Kolumbien/!5859627
[14] /Buergerkrieg-in-Kolumbien/!5062488
[15] /Kolumbien-mit-neuem-Parlament/!5046374
[16] /Sozialaktivisten-in-Kolumbien/!5567632
[17] /Gewalt-gegen-kolumbianische-Aktivisten/!6036125
[18] /Wahrheitskomission-in-Kolumbien/!5861222
[19] /Doku-Anhell69-ueber-Jugend-in-Kolumbien/!5959950
[20] /Umweltkonflikte-in-Kolumbien/!5838529
[21] /Buergerkrieg-in-Kolumbien/!5906903
## AUTOREN
Katharina Wojczenko
## TAGS
Kolumbien
Medellin
Paramilitärs
Recherchefonds Ausland
Kriminalität
Mord
GNS
Reden wir darüber
Kolumbien
Kolumbien
Mexiko
Kolumbien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aufarbeitung des Krieges in Kolumbien: Erstes Urteil gegen Kolumbiens Farc-Guer…
Wegen über 20.000 Entführungen sollen frühere Kommandeure der Farc-Guerilla
in Kolumbien Wiedergutmachungsarbeit leisten. Es ist das erste Urteil der
Sonderjustiz.
Hessischer Friedenspreis: Kolumbianische Wächterin Jani Silva erhält Auszeich…
Ihr droht der Tod, denn sie kämpft für Öko-Landwirtschaft, gegen
Erdölförderung und Raubbau. Am Dienstagabend wird die Klimaaktivistin
ausgezeichnet.
Konferenz über Gewalt in Mexiko: „Kein Körper löst sich in Luft auf“
„Dunkle Materie“ galt der Aufarbeitung von Verbrechen und der Rolle der
Kunst für die Erinnerung. Vorbild war der Umgang Deutschlands mit dem
Holocaust.
Kolumbiens Vorzeigemetropole Medellín: Unter dem Deckmantel der Innovation
In Lateinamerika gilt Medellín als moderne Metropole – dank Investitionen
wurde die Stadt der Gewalt befriedet. Das stimmt nur auf den ersten Blick.
Reportage aus Kolumbien: Vom Begraben der Geschichte
Am Stadtrand von Medellín liegen mehrere hundert Opfer der Paramilitärs in
einem Massengrab. Die Stadt nutzt den Ort als Schuttplatz. Angehörige
fordern die Schließung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.