# taz.de -- Kolumbiens Verschwundene: Medellíns Schuttberg | |
> In Kolumbien suchen Frauen seit mehr als zwanzig Jahren nach ihren | |
> Kindern, die während der Paramilitärherrschaft verschwanden. | |
Bild: Margarita Restrepo denkt jeden Tag an ihre verschwundene Tochter Carol Va… | |
Medellín taz | An jenem Julitag, als sie das Mädchen in der Erde fanden, | |
brach Margarita Restrepo zusammen. Ihre Gesichtszüge entglitten, der Kopf | |
pochte vor Schmerz. „Ich weinte und weinte und weinte.“ Normalerweise ist | |
Margarita Restrepo gut darin, stark zu sein. Wenn die anderen Frauen nicht | |
mehr können, ist die kleine Frau da, reicht ihnen Kräutertee, umarmt sie in | |
ihrer Trauer, in ihrer Verzweiflung. | |
An jenem Tag aber steht sie [1][am Rand der Ausgrabungsstätte] und | |
betrachtete die Fundstücke aus dem Loch, eingetütet. Eine Bluse, die aussah | |
wie eine, die ihre Tochter getragen hatte. Der BH, halb gepolstert, wie | |
Carol Vanessa einen hatte. Eine blaue Perle, wie von der Kette, die sie so | |
gerne trug. Und dann die Zähne im Schädel, einfach perfekt. „Sie hatte kein | |
Karies, nicht eine einzige Füllung.“ Auch das Alter passt, zwischen 16 und | |
18 Jahren wohl. | |
Haben sie an diesem staubigen Ort, nach all den Jahren, endlich ihre | |
Tochter gefunden? Margarita Restrepo hofft es. Und hat zugleich Angst. | |
[2][Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens], liegt längs in einem Tal. | |
Rechts und links davon ist die Stadt die Berge hochgewachsen. In einem | |
dieser Berge befindet sich das größte Massengrab des Landes: La Escombrera, | |
auf deutsch etwa: Schuttabladeplatz. Seit Jahrzehnten wird hier der | |
Bauschutt der Millionenstadt tonnenweise abgeladen. Auch auf die Körper von | |
ermordeten Menschen. | |
Das ist seit mehr als 20 Jahren ein offenes Geheimnis in Medellín. Wo heute | |
der Eingang zum Steinbruch ist, befand sich mindestens zwischen Juni 2002 | |
bis 2003 eine Basis von Paramilitärs. Nur etwa 200 Meter entfernt von | |
Wohnhäusern. | |
„Es gab dieses Gerücht, dass sie in der Escombrera Menschen ermordeten und | |
dort vergruben. Die Leute sagten das. Aber niemand sah es, denn sie ließen | |
niemanden hinein“, sagt Gustavo Salazar. Er ist Richter des Sondergerichts | |
für Frieden und leitet seit 2018 Ermittlungen. | |
[3][Ehemalige Paramilitärs], allen voran Juan Carlos Villa Saldarriaga | |
alias Móvil 8, berichteten, wie Bauarbeiter in die Verbrechen hineingezogen | |
wurden: Auf Befehl mussten sie mit dem Bagger Gruben ausheben, in die die | |
Täter die Leichen warfen und die sie zuschütten ließen – manchmal erst nach | |
der Ermordung vor Ort. | |
Dass heute, nach mehr als 20 Jahren nach den Opfern gegraben wird, hat mit | |
dem Friedensabkommen zwischen Farc-Guerilla und dem kolumbianischem Staat | |
von 2016 zu tun. Es sah erstmals eine Sucheinheit für Verschwundene (UBPD) | |
vor – was Opferorganisationen seit Jahrzehnten gefordert hatten – und das | |
Sondergericht für den Frieden (JEP). | |
Es soll die strafrechtliche Verantwortung für schwere Verbrechen klären, | |
die während mehr als 50 Jahren bewaffneten Konflikts in Kolumbien begangen | |
wurden. In der Escombrera werden dabei Taten untersucht, an denen | |
staatliche Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs oder zivilen | |
Helfern beteiligt waren. | |
Doch noch bis 2020 wurde [4][in der Escombrera] Schutt abgeladen. Über | |
Jahrzehnte hinweg erteilte die Stadtverwaltung Medellín, trotz der | |
Beschwerden von Opfergruppen der Ombudsstelle und | |
Menschenrechtsorganisationen, den Eigentümern immer wieder die Genehmigung | |
dazu. | |
## Seit 2024 laufen die Grabungen in La Escombrera | |
Seit Juli 2024 graben sie an diesem Berg, das Team des Sondergerichts für | |
den Frieden, anfangs noch mit der [5][Sucheinheit für Verschwundene]. | |
Anthropolog:innen, Topograf:innen, Arbeiter:innen. Um zur Wahrheit zu | |
kommen, müssen sie wortwörtlich einen Berg versetzen. 43.000 Kubikmeter, | |
2.800 Lastwagen voller Schutt, Geröll, Erde und Müll haben sie bislang | |
abgetragen. | |
An der höchsten Stelle waren es etwa 25 Meter, die sie in die Tiefe graben | |
mussten. Gegen mögliche Erdrutsche leiten sie Wasser ab, verlegen | |
Drainagen. Mit schweren Maschinen haben sie sich in etwa sechs Monaten bis | |
zur Schicht des Jahres 2004 vorgearbeitet. Das Ziel ist jetzt, vorsichtiger | |
weitere drei Meter abzutragen, bis zum Jahr 2002. Denn in diese Zeit fallen | |
die meisten gewaltsam Verschwundenen aus der Comuna 13, die Margarita | |
Restrepo und andere Mütter hier suchen. | |
Kolumbien-Reisende kennen nur einen kleinen Ausschnitt [6][der riesigen | |
Comuna 13] – zwischen der Metrostation und den elektrischen Rolltreppen. | |
Hier erzählt die Stadt die Geschichte, die der rechte Bürgermeister | |
Federico Gutiérrez so gern mag: Wie aus der einst gefährlichsten Stadt der | |
Welt, Heimat des gleichnamigen Drogenkartells, die saubere, grüne, | |
graffitiverschönte Top-Destination der Digitalnomad:innen wurde. | |
In den 1980ern galt die Comuna 13 als der Ort, aus dem Pablo Escobar unter | |
den armen Jugendlichen seine Auftragsmörder rekrutierte. In den 90ern | |
ließen sich dort die urbanen Milizen der Guerillas nieder, Farc, ELN und | |
CAP. Danach kamen die Paramilitärs, um sie zu bekämpfen und sich den | |
Drogenkorridor in den Bergen zu sichern. | |
Zwischen 2001 und 2004 führten [7][die staatlichen Sicherheitskräfte 34 | |
Militäroperationen] in der Comuna 13 durch, mit dem Ziel, die Guerilla zu | |
besiegen und die Stadt wieder sicher zu machen. Die bekannteste war die | |
Operation Orion von Oktober 2002 bis September 2003. Mit 1.000 Soldaten, | |
Geheimdienstmitarbeitern, der Staatsanwaltschaft und Vermummten. | |
Paramilitärs hatten die Operation vorbereitet, arbeiteten mit Armee und | |
Polizei zusammen, die Menschen willkürlich festnahmen, die dann | |
verschwanden. | |
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den | |
kolumbianischen Staat deshalb verurteilt. Kampfhubschrauber schossen aus | |
der Luft, Panzer drangen ins Viertel ein, in dem die Bewohner:innen | |
eingekesselt waren. Am Ende war die Guerilla in der Comuna 13 vernichtet – | |
aber die Herrschaft der Paramilitärs vom Bloque Cacique Nutibara begann. | |
Für die Bewohner:innen bedeutete das: [8][noch mehr Terror]. Oder, in | |
den Worten eines Gerichtsurteils von Medellín, das vor zehn Jahren im Zuge | |
des Demobilisierungsgesetzes für Paramilitärs urteilte: „Die Mitglieder der | |
Bloque Cacique Nutibara holten ihre Opfer aus ihren Häusern, fesselten sie, | |
folterten und/oder erstickten sie mechanisch und zerstückelten, zerteilten | |
und/oder enthaupteten sie. Anschließend begruben sie sie an Orten, die | |
üblicherweise für diesen Zweck genutzt wurden, wie La Escombrera.“ | |
Laut Berichten der Sucheinheit nach Verschwundenen sind in der Comuna 13 in | |
den 40 Jahren vor dem Friedensabkommen rund 500 Menschen gewaltsam | |
verschwunden – allein im Jahr 2002 rund 20 Prozent, mit Abstand die | |
meisten. Laut Aussagen verschiedener Paramilitärs sollen rund 70 in der | |
Escombrera begraben sein. | |
## Seit über 20 Jahren nicht geschwiegen | |
Margarita Restrepo hat sich die Lippen rot geschminkt und ein buntes | |
Oberteil mit Glitzer übergeworfen beim Hausbesuch im Stadtteil, der | |
ungenannt bleiben soll. Mehrfach musste sie wegen Drohungen umziehen. Seit | |
über 20 Jahren will [9][sie dennoch nicht schweigen]. Sie engagiert sich in | |
der Gruppe Mujeres Caminando por la Verdad – Frauen marschieren für die | |
Wahrheit. | |
In der haben sich Angehörige aus der Comuna 13 vereinigt, um die Wahrheit | |
über die Verbrechen ans Licht zu bringen – von Vergewaltigungen bis | |
Verschwindenlassen. Sie sind Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Töchter von | |
Verschwundenen – und mittlerweile sogar Enkel. Die Jüngste ist 13 Jahre | |
alt. | |
Ihr immer noch mächtigster Gegner: [10][Ex-Präsident Álvaro Uribe], der | |
kurz vor der Operation Orion ins Amt kam, sie anordnete und sich auf die | |
Fahnen schrieb, mit seiner „demokratischen Sicherheit“ die Ordnung im Land | |
wieder herzustellen. Zu einem hohen Preis: Unter seiner Regierung | |
ermordeten staatliche Sicherheitskräfte unter anderem Unschuldige und | |
verkleideten sie als Guerilleros, um Erfolge vorzutäuschen, so genannte | |
falsos positivos. | |
Margarita Restrepo ist mehrfaches Gewaltopfer. Ihr Mann wurde verschleppt | |
und ermordet. Er hatte gesehen, wie Polizisten einen Jungen mitnahmen, der | |
nie wieder auftauchte. Restrepo fand ihn auf einem Friedhof in Medellín. | |
„Zumindest glaube ich das.“ Dann haben Kriminelle ihren Sohn Steven | |
erschossen, mitten in der Stadt. Da war er 17. | |
Und schließlich Carol Vanessa. Am 25. Oktober 2002 war sie mit zwei | |
Freunden für einen Besuch in die Comuna 13 gegangen, aus der die Familie | |
zuvor geflohen war, und kam nie wieder. Margarita Restrepo suchte die | |
Leichenhallen ab, reiste durchs Land. Bis Bewohner:innen der Comuna 13 | |
ihr erzählten, sie hätten Carol Vanessa und ihre beiden Freunde hoch zur | |
Escombrera gebracht. [11][Von ihren sechs Kindern sind der 62-Jährigen vier | |
geblieben] – und ein Enkel, den sie wie ihr siebtes aufzog. | |
Die Fläche in der Escombrera, wo sie die Menschen zu finden hoffen, ist | |
mittlerweile 7.000 Quadratmeter groß. Schräg oberhalb von ihr ist die | |
Plattform der Angehörigen. Ein paar Container, ein offenes Zelt und ein | |
Aussichtspunkt, von dem aus sie die Ausgrabung verfolgen können. Es sind | |
fast ausschließlich Frauen. Jeden Tag fahren Autos mit Sondergenehmigung im | |
Wechsel etwa zehn Frauen durch das Gelände der Baufirma hier hoch. | |
Dort oben sitzen sie jetzt unterm Zeltdach und hantieren mit Heilkräutern. | |
Eine Psychologin der Stadt Medellín und eine Psychologin der Corporación | |
Jurídica Libertad begleiten sie. Auch ein Sanitäter ist immer dabei und | |
misst vor der Abfahrt allen den Blutdruck. Das Warten, das Trauern, das | |
Bangen geht an die Substanz. | |
„Für die Frauen ist das emotional und körperlich sehr anstrengend. Es ist | |
für sie eine große Freude, die menschlichen Überreste zu finden – aber | |
gleichzeitig sind es schockierende, sehr intensive Momente“, sagt Adriana | |
Arboleda. Als in der Escombrera [12][die ersten menschlichen Überreste] | |
gefunden wurden, überlebte eine alte Dame die Aufregung nicht. Sie war | |
starb zwei Tage später. | |
Nach 146 Tagen Graben wurden sie fündig. Am 18. Dezember 2024 stießen sie | |
auf den ersten Beweis für das, was die Mütter immer gesagt hatten: die | |
Überreste zweier Menschen. Eine junge Frau, die auf dem Weg zum Treffen | |
einer Jugendsportgruppe war und dort von Paramilitärs verschleppt wurde. | |
Und ein 28-jähriger Mann, der geistig und körperlich behindert war. | |
Beide stammten aus armen Vierteln. „Keines der beiden Opfer hatte | |
Vorstrafen, war Gegenstand von Ermittlungen oder Verurteilungen oder in | |
Geheimdienstakten erfasst“, heißt es in der Pressemitteilung des | |
Sondergerichts. | |
Das war Richter Gustavo Salazar wichtig: „Die extreme Rechte hat immer | |
gesagt: Wenn sie dort begraben sind, dann aus einem bestimmten Grund. Das | |
heißt, sie waren [13][Kriminelle, Guerillakämpfer, Milizionäre] oder | |
Drogenabhängige. Aber wenn jemand körperlich und geistig behindert war, | |
konnte er nicht am Krieg teilnehmen. So einfach ist das.“ | |
Seither haben sie mindestens vier weitere Verschwundene hier gefunden. Im | |
Januar 2025 zwei junge Männer, einfache Arbeiter. Und Mitte Juli noch | |
einmal zwei Personen, den Körper der jungen Frau, die Carol Vanessa sein | |
könnte, und einen Mann. Mindestens – denn beim jüngsten Fund ist noch nicht | |
klar, zu wie vielen Menschen die Knochen gehören. Vier Opfer konnten bisher | |
identifiziert werden. Drei von ihnen hat das Sondergericht bereits | |
feierlich den Angehörigen übergeben. | |
Die bisherigen Funde und das Datum des Verschwindens belegen: „Seit Juli | |
2002 wurde hier gefoltert, gemordet und begraben“, sagt Richter Gustavo | |
Salazar. Über die ersten vier identifizierten Menschen weiß man, dass sie | |
an Schussverletzungen starben. „In mindestens einem Fall gibt es | |
ausreichende Beweise dafür, dass [14][das Opfer in einen Zustand völliger | |
Wehrlosigkeit gebracht und misshandelt] wurde, wobei auch Folter nicht | |
ausgeschlossen werden kann.“ Mindestens zwei wurden an Ort und Stelle | |
hingerichtet. | |
Der erste Fund in der Escombrera schlug in Kolumbien ein wie eine Bombe. | |
Ein Spruch war plötzlich überall: „Las cuchas tienen razón“ – die alten | |
Frauen haben Recht: Mütter wie Margarita Restrepo. An der Hauptstraße von | |
Norden nach Süden malten Künstler:innen und Aktivist:innen den | |
Spruch in Riesenbuchstaben auf eine Betonwand. Dazu Margarita Restrepo mit | |
erhobener Faust und einem Bild ihrer Tochter – und ein Porträt von | |
Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe über Totenschädeln. | |
„Dieses Wandbild bekräftigte, dass wir nicht verrückt waren, nicht gelogen | |
haben, dass es wirklich dort Tote gab“, sagt Margarita Restrepo. All das | |
hatten sich die Mütter über Jahrzehnte anhören müssen von denen, die nicht | |
wollten, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Bürgermeister Federico | |
Gutiérrez, ein parteinaher Verbündeter des Ex-Präsidenten Uribe, ließ das | |
Wandbild übermalen. | |
Die Empörung darüber war riesig, zumindest bei einem Teil der Gesellschaft. | |
„Die Mutter ist eine Respektsperson. Niemand legt sich mit der Mutter an“, | |
so Richter Salazar. Nun wurde der Spruch erneut gemalt. Diesmal nicht nur | |
in Medellín, sondern auch in anderen kolumbianischen Städten, im Ausland, | |
ja sogar in Berlin. | |
„[15][Das gewaltsame Verschwindenlassen] war nie ein bedeutendes Verbrechen | |
in Kolumbien, anders als die Entführungen“, erklärt Adriana Arboleda. | |
Entführungen wurden traditionell von der Guerilla begangen, Menschen | |
verschwinden lassen war die Handschrift der Paramilitärs. Und die | |
arbeiteten im bewaffneten Konflikt mit den Reichen und Mächtigen und dem | |
Staat zusammen. | |
„Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht nach den Verschwundenen der Comuna | |
13 gesucht?“, fragt Arboleda. „Weil sie nicht wollte. Weil dahinter | |
mächtige Personen steckten, weil wir hier Militäroperationen angeprangert | |
haben, die vom Präsidenten Álvaro Uribe angeordnet worden waren; weil Mario | |
Montoya Uribe, der sie befehligte, später Generalbefehlshaber der Armee | |
wurde.“ | |
Die Menschen sollten sterben – und sie mussten verschwinden, damit die Mär | |
von der neuen demokratischen Sicherheit und vor allem [16][der verbesserten | |
Mordstatistik in Medellín] keinen Knacks bekam. So sagte ein Gericht in | |
Medellin schon 2015, dass es Beweise dafür gebe, dass „das | |
Verschwindenlassen von Personen ein Mittel war, um die Mordrate in der | |
Stadt nicht weiter ansteigen zu lassen … da die Verschwundenen nicht | |
gezählt wurden, die Leichen hingegen schon.“ | |
## Die Knochen der Leichen werden untersucht | |
Auf der mittlerweile bloßgelegten Fläche steht der Kleinbagger und zieht | |
seine Schaufel in einem der abgemessenen Rechtecke zu sich. Daneben, | |
unberührt vom irren Panorama der Stadt im Tal, steht ein Anthropologe und | |
schaut in das Rechteck, bis auf die Augen vermummt gegen die brennende | |
Tropensonne. | |
Am blauen Himmel kreist ein Geier so nah, dass die weißen Flügelspitzen zu | |
erkennen sind. Die Zacken des Baggers sind abgedeckt, die Kante gerade. Das | |
Team ist auf einem Niveau, wo Vorsicht angebracht ist. Jedes Stück Plastik | |
kann ein Hinweis sein – etwa Verpackungen mit Haltbarkeitsdatum, alte | |
Telefon- oder Kreditkarten oder Süßigkeiten, die es nur in einer bestimmten | |
Zeit gab. | |
Unter den Augen der Angehörigen arbeitet Carlos Bacigalupo, 59 Jahre alt, | |
kurz rasierte Haare unter der Schiebemütze, tiefer Bass. Der Peruaner ist | |
seit mehr als 25 Jahren in der forensischen Anthropologie tätig, zum | |
Beispiel bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs | |
für das ehemalige Jugoslawien. | |
Seit 2014, als die Friedensgespräche mit der Farc-Guerilla begannen, ist er | |
in Kolumbien. Auf dem Balkan verliebte er sich in [17][eine kolumbianische | |
forensische Anthropologin]. In der Escombrera übernimmt er Aufgaben der | |
Kriminalpolizei als der Fachmann der Forensischen Technischen | |
Unterstützungsgruppe (Gatef) der Ermittlungs- und Anklageeinheit des | |
Sondergerichts. | |
Bacigalupo klickt sich durch Folien auf seinem Laptop. Fotos, Diagramme mit | |
einem Gewirr aus farbigen Linien, Querschnitte. Aus topografischer | |
Dokumentation, Satellitenbildern, Positionsbestimmung mit einem globalen | |
Navigationssatellitensystem – aus all dem haben die Fachleute | |
rekonstruiert, wie es hier aussah, als hier Menschen begraben wurden. Sie | |
waren mit ehemaligen Paramilitärs vor Ort. | |
Eiskalt seien die gewesen, sagt Bacigalupo, hätten ohne Emotionen | |
gesprochen. Er klickt durch Satellitenbilder. „Hier ist das Grün auf einmal | |
heller, was auf weniger Vegetation hindeutet. Das ist uns direkt | |
aufgefallen.“ Da hat sich also der Boden verändert. Es könnte ein Hinweis | |
sein, dass hier jemand vergraben wurde. Wann immer der Bagger auf etwas | |
stößt, das ein Mensch gewesen sein könnte, steht alles sofort still. | |
Die forensischen Anthropolog:innen legen die gefundenen Knochen | |
zusammen und bestimmen: [18][Wie viele Menschen waren das einmal?] Sie | |
interpretieren, was sie an der Fundstelle sehen. In der Rechtsmedizin | |
suchen sie mittels Autopsie nach der möglichen Todesursache, nach Spuren an | |
den Knochen, was den Menschen angetan wurde. | |
Parallel dazu werden die Zähne studiert und das Erbgut mit den gesammelten | |
DNS-Proben der Angehörigen verglichen. Am wertvollsten sind die der Mütter. | |
„Die Mütter erinnern sich an absolut alles. Es ist beeindruckend. Ihm | |
fehlte da unten ein Zahn. Oder: Er hatte ein wunderschönes Lächeln“, sagt | |
Richter Gustavo Salazar. | |
Wenn sie etwas finden, müssen sie die menschlichen Überreste am selben Tag | |
bergen und in die Rechtsmedizin bringen und wenn es bis spät in die Nacht | |
dauert. „Wir haben große Angst, dass jemand die Beweise stiehlt“, sagt | |
Margarita Restrepo. Der Baufirma Condor, der heute das Terrain gehört, | |
misstrauen die Frauen. „Das war eine der Firmen, die ihre Tore öffnete und | |
erlaubte, dass hier Körper hingebracht wurden. Condor hat uns Schaden | |
zugefügt.“ | |
Bacigalupo sagt, dass neben der Bürokratie und der Feinarbeit bei der | |
Ausgrabung an sich die emotionale Seite schwierig sei. „Wir arbeiten | |
permanent mit den Opfern. [19][Die Frauen passen immer auf, was wir tun], | |
was wir nicht tun.“ Jeden Tag bringt er sie auf den neuesten Stand, | |
erklärt. Die Frauen hören zu, fragen nach. Und notieren fürs tägliche | |
Protokoll. Beobachten später genau, wo die Arbeiter langgehen. | |
„Man muss ihre Angst verstehen“, sagt Bacigalupo. „Und für uns ist es au… | |
schwierig, weil wir auch diese Beklemmung spüren, dass wir bloß alles | |
richtig machen – und gleichzeitig finden müssen, was wir suchen.“ Seit dem | |
jüngsten Fund kann er wieder nicht schlafen. Es ist die Sorge, nichts zu | |
finden, sagt er. | |
Margarita Restrepo kommt unbegleitet zur Escombrera. Ihre Kinder würden am | |
liebsten alles vergessen. „Es tut ihnen weh. Sie sagen, dass sie es nicht | |
aushalten, mich weinen zu sehen. Und sie haben Angst um mich“. | |
## Zwischen Angst und Hoffnung | |
Wenn sie nicht mehr kann, legt sie sich auf das Sofa in dem fensterlosen | |
Zimmer, das sie zu einem Schrein aus Erinnerungen ihrer Suche, ihres | |
Kampfes gemacht hat, mit Fotos und Urkunden und einer riesigen | |
selbstbestickten Decke an der Wand, die all die Grausamkeiten in der Comuna | |
13 zeigt, den Hubschrauber der Armee, die Toten, die Menschen, [20][die mit | |
Lastwagen ihre Habe wegschaffen, die Paramilitärs], ihre Tochter. Dann | |
weint sie, bis der Schlaf sie überwältigt. | |
Sie hat für ihre Tochter Gedichte geschrieben. Eins lautet: „Ich weiß, dass | |
du dort bist und ich kann dich nicht sehen. Aber die Erinnerung daran lebt | |
noch, wie die Trümmer dein Bild auslöschen könnten hinter den Tränen, die | |
meine Augen bedecken.“ | |
Margarita Restrepo weiß noch nicht, was passieren wird, wenn die Überreste | |
der Leiche wirklich zu Carol Vanessa gehören. Sie hat Angst. Und | |
gleichzeitig hofft sie fieberhaft, dass sie es ist. Und dass Gott ihr die | |
Kraft und Gesundheit gibt, das auszuhalten. „Das Verschwindenlassen | |
verändert dich als Menschen. Ich [21][suche heute nicht nur nach Carol, | |
sondern nach allen Verschwundenen].“ | |
11 Sep 2025 | |
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Katharina Wojczenko | |
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