| # taz.de -- Konferenz über Gewalt in Mexiko: „Kein Körper löst sich in Luf… | |
| > „Dunkle Materie“ galt der Aufarbeitung von Verbrechen und der Rolle der | |
| > Kunst für die Erinnerung. Vorbild war der Umgang Deutschlands mit dem | |
| > Holocaust. | |
| Bild: Erinnerung an die verschwundenen Lehramtsstudenten am „Tag der Toten“ | |
| Es ist eine erschreckende Zahl: Nach offiziellen Statistiken gelten in | |
| Mexiko rund 27.000 Menschen als verschwunden. Wobei schon die Rede vom | |
| „Verschwinden“ ein Euphemismus sei, sagt die deutsche | |
| Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid. Denn „kein Körper löst sich in | |
| Luft auf“, und man müsse stattdessen vom „Verschwindenlassen“ sprechen. | |
| Dahinter stehe die „perfide Strategie, Menschen bewusst zu Untoten zu | |
| machen und betroffene Familien in einem Zustand der Unsicherheit | |
| zurückzulassen“. | |
| Seit im September 2014 in der kleinen Ortschaft Ayotzinapa unter weiterhin | |
| ungeklärten Umständen 43 Lehramtsstudenten „verschwanden“, sind in Mexiko | |
| mehrere Massengräber gefunden worden. Bei der Aufarbeitung dieser | |
| Verbrechen spielen forensische Anthropologen eine wichtige Rolle. Diese | |
| „Knochenleser“ genannten Wissenschaftler identifizieren anhand körperlicher | |
| Überreste namenlose Tote und ermöglichen den Familien dadurch erst, mit der | |
| Trauerarbeit zu beginnen. | |
| Die akribische Arbeit der forensischen Anthropologen war ein Ausgangspunkt | |
| für die Konferenz „Dunkle Materie“, die Huffschmid gemeinsam mit der | |
| mexikanischen Künstlerin Mariana Castillo Deball kuratiert hat. Anlässlich | |
| des „Deutschland-Jahres“ in Mexiko und unterstützt vom Goethe-Institut | |
| waren Ende vergangener Woche Forensiker, internationale Kunstschaffende | |
| sowie Kuratoren in das Nationale Kunstmuseum in Mexiko-Stadt eingeladen, um | |
| gemeinsam Fragen nachzugehen: Wie können die Künste strukturelle Gewalt | |
| verarbeiten? Das sichtbar machen, was die Gesellschaft lieber vergessen | |
| würde? | |
| „Uns ging es um die globale Erfahrung extremer Gewalt, gestern und heute – | |
| und eben nicht nur um Mexiko“, so Castillo Deball. „Wichtig war uns, was | |
| wir zum Beispiel aus den Erfahrungen des Holocaust und von den | |
| ‚Gegen-Monumenten‘ in Deutschland lernen können.“ | |
| ## Die Ethik des toten Körpers | |
| Einleitend sprach die argentinische Forensikerin und Philosophin Celeste | |
| Perosino. Sie gehört zum berühmten EAAF-Forensikerteam, das seit Mitte der | |
| 80er Jahre in Argentinien viele Opfer der Militärdiktatur ausgegraben und | |
| identifiziert hat. In ihrer Doktorarbeit hat Perosino eine Ethik des toten | |
| Körpers entwickelt. Dessen Rechte – etwa auf Identität und Wahrung seiner | |
| Interessen – müssten laut Perosino posthum geltend gemacht werden. | |
| Die Arbeiten, welche die Künstlerin Esther Shalev-Gerz auf der Konferenz | |
| vorstellte, richteten den Blick dann nicht nur auf den von Deutschen | |
| begangenen Zivilisationsbruch, sondern sie zeigten auch Parallelen zur | |
| archäologischen Vorgehensweise der Forensiker. In ihrem Projekt | |
| „MenschenDinge“ hat Shalev-Gerz etwa Alltagsgegenstände, die in der Erde | |
| des KZ Buchenwald gefunden wurden, durch Videointerviews wieder zum | |
| Sprechen gebracht. | |
| Doch auch die Frage, was Mexiko zu einem besonderen Fall macht, wurde | |
| aufgeworfen. Im Unterschied zu den südamerikanischen Militärdiktaturen hat | |
| man es hier nicht mehr nur mit einem Akteur – dem Staat – zu tun, und die | |
| Gewalt hält weiter an. Bei der Konferenz ging es deshalb auch darum, wie | |
| Erinnerung an eine gewaltsame Gegenwart geschaffen werden kann. | |
| ## Mit schwarzer Kordel umwickelt | |
| Die mexikanische Künstlerin Laura Valencia berichtete etwa von ihrem | |
| Projekt „Cuenda“. Dafür wurden auf der Reforma, dem Hauptboulevard von | |
| Mexiko-Stadt, Statuen von Nationalhelden aus dem 19. Jahrhundert mit einer | |
| schwarzen Kordel umwickelt – und diese so zum Verschwinden gebracht. Die | |
| bizarren Figuren lösten Irritationen bei den Passanten aus. Man musste | |
| schon näher kommen und einen Blick auf Infotafeln werfen, um zu verstehen, | |
| worum es hier ging: Valencia hatte – in enger Zusammenarbeit mit | |
| Angehörigen – anhand von Größe und Umfang von konkreten „Verschwundenen�… | |
| die Länge der jeweiligen Kordel errechnen lassen. „Jeder Mensch hinterlässt | |
| eine spezifische Lücke“, so Valencia. Auf diese Weise wurde jedem der | |
| „desaparecidos“ individuell gedacht. | |
| Zum Abschluss lenkte die Istanbuler Künstlerin Banu Cennetoğlu den Blick | |
| erneut auf Europa und präsentierte ihr Projekt „Die Liste“. In dem von der | |
| NGO United for Intercultural Action erstellten nüchternen wie | |
| erschütternden Dokument sind alle Flüchtlinge und Asylsuchenden | |
| verzeichnet, die zwischen 1993 und Juni 2015 innerhalb oder an den Grenzen | |
| Europas ums Leben gekommen sind: insgesamt 22.394 Menschen. Die Liste sei | |
| kein Kunstprojekt, sagte Cennetoğlu, aber sie habe ihre Rolle als | |
| Künstlerin dafür genutzt, die Liste auf Plakaten im öffentlichen Raum | |
| europäischer Städte sichtbar zu machen. Bis ihr das gelang, musste sie | |
| viele Widerstände überwinden. Sie ist überzeugt: „Wäre es ein Projekt üb… | |
| die mexikanisch-amerikanische Grenze gewesen, dann hätte ich dafür in | |
| Europa viel leichter Gelder bekommen.“ | |
| 7 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ole Schulz | |
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