# taz.de -- Weltraumbehörde über Amazonas: „Das System erreicht seinen Kipp… | |
> Unter Präsident Lula hatte sich der brasilianische Amazonaswald erholt. | |
> Nun macht sich der schleichende Waldverlust bemerkbar, erklären zwei | |
> Forscher. | |
Bild: Absichtlich gelegte Brände schädigen den Amazonas seit Jahrzehnten | |
taz: Die Weltraumbehörde INPE liefert seit Jahren verlässliche Zahlen über | |
die Abholzung im Amazonasgebiet. Zuletzt war diese im brasilianischen Teil | |
deutlich zurückgegangen. Wie erklären Sie das? | |
Cláudio Almeida: Das hängt mit der Zunahme an staatlicher Kontrolle und | |
Strafverfolgung zusammen. Sprich: Die klassische Polizeiarbeit des Staates | |
funktioniert nach dem letzten Regierungswechsel wieder. Das kann eine | |
Geldstrafe sein oder die Sperrung eines Grundstücks aufgrund illegaler | |
Aktivitäten. | |
Aber jetzt kommen wir in eine zweite Phase, [1][in der Kontrollen allein | |
nicht reichen]. Wir brauchen zusätzlich wirtschaftliche | |
Steuerungsinstrumente, zum Beispiel: Kein Kredit mehr für diejenigen, die | |
illegal roden. Oder Förderung nachhaltiger Wirtschaftsketten, also | |
Produktion mit möglichst geringem Umwelteinfluss. | |
taz: Das klang doch zunächst gut. Aber seit Mai zeigen die Daten nun wieder | |
deutliche Waldverluste. Woher kommt das? | |
Miguel Monteiro: Das hängt mit schleichenden Degradationsprozessen | |
zusammen. Ein Beispiel: An einem bestimmten Tag beginnt dieser Prozess, | |
etwa durch selektiven Holzeinschlag oder ein Feuer in einem bestimmten | |
Gebiet. | |
Trotzdem behält der Wald dort zunächst noch seine ökologischen Funktionen. | |
Er bleibt also funktional ein Wald. Das Messsystem erkennt in diesem Fall | |
eine Degradation, aber noch keinen vollständigen Waldverlust. | |
Im zweiten Jahr passiert wieder etwas, im dritten Jahr auch – und so | |
weiter. Irgendwann erreicht dieser Prozess aber einen Kipppunkt: Die | |
Schädigung ist so weit fortgeschritten, dass man nicht mehr sagen kann, | |
hier steht noch ein Wald. Erst dann spricht das System von „Abholzung“ – | |
obwohl dieser Zustand schon Jahre vorher begonnen hatte. | |
Genau das ist im Mai passiert: Viele Gebiete, die sich über Jahre hinweg | |
schleichend verschlechtert hatten, erreichten nun den Punkt, an dem wir sie | |
offiziell als „abgeholzt“ klassifizieren mussten. | |
taz: Spielen dabei auch klimatische Veränderungen eine Rolle? | |
Almeida: Ja, in den letzten zehn Jahren hat Amazonien drei schwere | |
Dürreperioden erlebt, die den Wald zusätzlich geschwächt haben. Diese | |
extreme Trockenheit macht den Wald anfälliger für weitere Schäden. Die | |
Dürre ist nicht nur eine natürliche Erscheinung, sondern steht auch im | |
Zusammenhang mit dem Klimawandel. | |
Das sind also menschlich beeinflusste Prozesse auf globaler Ebene – mit | |
lokalen Folgen. Wenn dann noch Feuer dazukommt – ob durch kulturelle | |
Praktiken, durch illegale Brandrodung oder Fahrlässigkeit – entsteht eine | |
hochgefährliche Situation: Hitze, Trockenheit, jede Menge brennbares | |
Material. Feuer ist einer der wichtigsten Faktoren der Walddegradation. | |
taz: Sie können immer relativ genau sagen, wo gerodet wurde. Woher haben | |
Sie Ihre Daten? | |
Monteiro: Brasilien besitzt vollständig selbst entwickelte Satelliten. | |
Außerdem haben wir ein wichtiges Kooperationsprogramm mit China, seit | |
vielen Jahren arbeiten wir auch mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und | |
Raumfahrt DLR zusammen. Aktuell entwickeln für einen neuen Satellit, der | |
CO₂-Emissionen mit sehr hoher Auflösung messen soll. | |
taz: Wie kann man mithilfe von Satellitendaten die Abholzung von Wäldern | |
nachweisen? | |
Almeida: Wir arbeiten mit Satellitenbildern, die auf der Reflexion des | |
Sonnenlichts beruhen. Das Sonnenlicht trifft auf die Erdoberfläche, auf | |
Bäume, Boden oder Gebäude, und wird zurückgeworfen. Der Satellit erfasst | |
dieses reflektierte Licht. Durch Veränderungen in dieser Reflexion und | |
speziell entwickelte Algorithmen können wir erkennen, welche Waldflächen | |
zerstört oder degradiert wurden. | |
taz: Ihre jährliche Entwaldungsrate ist über die Grenzen hinaus bekannt. | |
Monteiro: Genau, das ist eine Kennziffer, die in der politischen Debatte | |
und in internationalen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielt. Wir können | |
feststellen, wo besonders viel oder wenig abgeholzt wurde – das ist | |
entscheidend für gezielte Maßnahmen. | |
taz: Sind die Hauptursachen der Abholzung natürlich oder menschengemacht? | |
Almeida: Sie sind anthropogen – [2][also vom Menschen verursacht]. | |
Natürliche Ereignisse wie Stürme oder Blitzeinschläge spielen eine sehr | |
geringe Rolle. | |
taz: Die Abholzungszahlen sind regional sehr unterschiedlich. In den | |
Feuchtsavannen des Cerrado etwa steigen sie teilweise schon länger stark | |
an, während es im Amazonasgebiet ja bis vor kurzem noch gut aussah. Gibt es | |
da einen Zusammenhang? | |
Almeida: Ja, die zunehmende Kontrolle und Überwachung im Amazonasgebiet | |
wirkt sich auf andere Regionen aus. Dort, wo stärker kontrolliert wird, | |
ziehen sich Landbesetzer oder illegale Akteure zurück und weichen auf | |
weniger überwachte Regionen aus, wie etwa den Cerrado. Nur etwa sechs | |
Prozent des Cerrado stehen unter strengem Schutz. Das ist deutlich weniger | |
als im Amazonasgebiet. | |
Außerdem ist die Gesetzgebung für den Cerrado deutlich lockerer: Auf | |
privaten Grundstücken darf bis zu 80 Prozent der Fläche legal gerodet | |
werden. In Amazonien dagegen müssen 80 Prozent der Fläche erhalten bleiben. | |
Deshalb ist ein großer Teil der Entwaldung im Cerrado legal, weil er | |
innerhalb der zulässigen Grenzen stattfindet. Zudem wächst dort die | |
landwirtschaftliche Nutzung stark. Die Böden sind sehr günstig, leicht zu | |
erschließen und gut mechanisierbar. | |
taz: Während der Amtszeit von Präsident Bolsonaro kam es zu Konflikten mit | |
dem INPE, er entließ sogar Ihren damaligen Chef. Wie hat sich die Situation | |
unter Präsident Lula verändert? | |
Monteiro: Was wir damals erlebt haben, war eine Ausnahmesituation. Jetzt | |
kehren wir zu normalen Arbeitsbeziehungen zurück – so wie sie früher üblich | |
waren. Wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus, weil unter | |
Bolsonaro viele Dinge verloren gingen, etwa gesetzliche Regelungen. Sowohl | |
das Umweltministerium als auch das Ministerium für Wissenschaft und | |
Technologie arbeiten nun daran, das Monitoring-System wieder zu stärken. | |
taz: Präsident Lula fordert mehr Verantwortung, vor allem finanzieller | |
Natur, der reichen Länder beim Schutz des Amazonasgebiets. Wie sehen Sie | |
das? | |
Almeida: Das ist nicht nur seine persönliche Meinung, diese Haltung ist | |
seit Langem Bestandteil der internationalen Verhandlungen, [3][insbesondere | |
auf den UN-Klimakonferenzen]. Für uns gilt das Prinzip der gemeinsamen, | |
aber differenzierten Verantwortung. Bedeutet: Alle Länder tragen | |
Verantwortung, aber reiche Länder haben aufgrund ihrer Vergangenheit eine | |
größere Last zu tragen. | |
Wenn man berechnet, wie viel jedes Land historisch an Emissionen verursacht | |
hat, sieht man, dass die Industrieländer durch ihre Emissionen zugleich | |
wirtschaftlich stark profitiert haben. Deshalb muss die Verantwortung zwar | |
formal gleich sein, aber in der praktischen Umsetzung unterschiedlich | |
gewichtet – eben differenziert. | |
7 Oct 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Indigene-in-Brasilien-/!6103579 | |
[2] /Waldbraende-in-Brasilien/!6112165 | |
[3] /Strasse-durch-Amazonien/!6103870 | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Amazonas | |
Brasilien | |
Luiz Inácio Lula da Silva | |
Rodung | |
Amazonien im Fokus | |
Amazonien im Fokus | |
Amazonien im Fokus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weltklimakonferenz in Brasilien: Wenn der Regen schweigt | |
Unsere Autorin lebt in der Amazonasmetropole Belém, in der im November die | |
Weltklimakonferenz COP30 stattfindet. Die Klimakrise verändert ihre Stadt. | |
Landwirtschaft in Brasilien: Mit der Kraft des Cupuaçu | |
Die RECA Cooperativa betreibt seit 1989 mitten im brasilianischen Regenwald | |
nachhaltige Agrarwirtschaft. Inzwischen hat sich die Genossenschaft | |
etabliert. | |
Indigene in Suriname: Die neue Kolonialisierung | |
Im kleinsten Land Südamerikas bedrohen Gold- und Holzfirmen die indigene | |
Bevölkerung. Zwei Aktivistinnen wollen sich davon nicht einschüchtern | |
lassen. |