# taz.de -- Titelessay von Harald Welzer: Zahlen des Grauens | |
> Geschichten sind stärker als Zahlen, das sieht man an der Ideologisierung | |
> von Migration wie an der Ignoranz gegenüber einer Klimakatastrophe. Wir | |
> bevorzugen Fakten! | |
Bild: Verkörpert den Grusel der Mathematik, aber auch in der berühmten Sesams… | |
[1][taz FUTURZWEI] | In Krisenzeiten hat die Dummheit Konjunktur, in | |
Dauerkrisenzeiten wird sie infektiös. Würde man Debatten, wie sie vor zehn | |
Jahren etwa zum Thema [2][Migration] oder [3][Bürgergeld] (was damals noch | |
nicht so hieß) geführt wurden, mit heutigen vergleichen, fände man eine | |
radikale Ideologisierung beider Themen und zugleich eine argumentative | |
Verflachung, die deprimierend ist. | |
Man erinnert sich vielleicht, wie [4][Angela Merkels] Flüchtlingspolitik | |
2015 seitens der [5][CSU] attackiert wurde, aber weite Teile der [6][CDU] | |
noch im liberal-konservativen Lager standen und zumindest anfangs eher | |
einer „Willkommenskultur“ das Wort redeten als radikaler Bekämpfung | |
„irregulärer“ Migration (was mittlerweile ein gängiger Topos ist, ohne da… | |
mal jemand sagt, dass „forced migration“ aufgrund von Krieg, Vertreibung, | |
Hunger, Verfolgung, Extremwetter et cetera immer irregulär ist, ganz | |
besonders für das Leben der Betroffenen). | |
Und heute? Übertreffen sich die „Mitteparteien“ in Deutschland in Sachen | |
Migration im Übertreffen der [7][AfD] und haben einen Wahlkampf geführt, | |
der nicht wenigen Menschen mit Einwanderungsgeschichte große Beunruhigung | |
und ein Gefühl der Entheimatung beschert hat. | |
Sie begründen das originell damit, dass man damit die AfD bekämpfe. | |
Man erinnert sich vielleicht auch daran, wie die Sozialdemokratie zur | |
selben Zeit unter dem [8][Hartz-IV]-Trauma litt und dringend wieder Boden | |
als Partei der sozialen Gerechtigkeit gutmachen wollte. | |
## Mythos der Leistungsverweigerer | |
Heute erzählt besonders der [9][SPD-Vorsitzende] unermüdlich eine | |
Kitschgeschichte, in der „hart arbeitende Menschen“ und solche, „die | |
morgens früh aufstehen“, die Hauptrolle spielen, weshalb beim Bürgergeld | |
aber endlich der Missbrauch abgestellt gehöre (ein Hit, der so alt ist wie | |
die Sozialgesetzgebung überhaupt: Wer arbeiten will, der findet auch | |
Arbeit!). | |
Wer demgegenüber die Statistik bemüht, ist überrascht: 0,8 Prozent der | |
Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld waren von Leistungsminderungen | |
betroffen, weil sie irgendetwas Zumutbares vonseiten der Arbeitsagentur | |
verweigert hatten – das sind bei knapp vier Millionen erwerbsfähigen | |
Bürgergeldbeziehern etwa 32.000 Menschen! | |
Dieser Missbrauch, so der Bundesrechnungshof, kostet jährlich etwa 260 | |
Millionen Euro, während der jährliche Schaden durch Steuerhinterziehung, | |
Steuervermeidung oder „aggressive Steuergestaltung“ von internationalen | |
Konzernen bei rund 200 Milliarden Euro liegt (wie der Vorsitzende der | |
Deutschen Steuer-Gewerkschaft vorrechnet (Frankfurter Rundschau 2025). Dazu | |
hört man aus der Partei der Arbeit so gar keine Geschichte. | |
Und nun zurück zur Migration. Hetze gegen Migration und migrantische | |
Bevölkerungsteile, Forderungen nach Abschiebungen, verschärfter | |
Grenzkontrolle, Abschaffung des Grundrechts auf [10][Asyl] – dieser | |
politische Formenkreis bildet die DNA des [11][Rechtspopulismus]. | |
In einem grenzdebilen Zirkelschluss hat die politische Klasse daraus | |
gefolgert, dass Migration der Hauptgrund für den massenweisen Zulauf zur | |
AfD sei, weshalb jener nun endlich das Wasser abgegraben gehöre – ohne, | |
dass irgendjemand mal die Frage stellt, wer warum wo die AfD tatsächlich | |
wählt und was das mit faktischer oder gefühlter Migration zu tun hätte. | |
## Die AfD in Ostdeutschland | |
Schon ein schneller Blick auf die regionalen Wahlergebnisse der AfD zeigt | |
einen nahezu einheitlichen Schwerpunkt in [12][Ostdeutschland] und ein | |
Level von 20 Prozent oder weniger in Westdeutschland, was dort schlicht der | |
im gleichen Umfang schon seit Langem feststellbaren „gruppenbezogenen | |
Menschenfeindlichkeit“ entspricht. | |
Einen Sockel von rund einem Fünftel besonders vorurteilshafter, | |
antisemitischer oder fremdenfeindlicher Personen haben alle demokratischen | |
Gesellschaften; nur hatte dieses Fünftel in Deutschland bis zum Auftreten | |
der AfD keine Partei. | |
Wenn in Ostdeutschland aber bis zur Hälfte der Wählerschaft sein Kreuzchen | |
bei den Ausgrenzungspopulisten macht, zugleich aber der Anteil der Menschen | |
mit Einwanderungsgeschichte weit geringer ist als in westdeutschen | |
Bundesländern – nu, ist dann wohl Migration ursächlich für den dortigen | |
Marsch nach rechts? | |
Oder ist es nicht viel mehr der geringere Frauenanteil in diesen | |
Bundesländern, der auf zwei Abwanderungswellen (unmittelbar nach dem | |
Mauerfall und in den Nullerjahren) zurückgeht und gerade in ländlichen | |
Regionen dazu geführt hat, dass ein stellenweise groteskes Missverhältnis | |
(wie im brandenburgischen Buckautal) von 80 Prozent Männern und 20 Prozent | |
Frauen (unter 29 Jahren) zu verzeichnen ist. | |
Wenn man darüber hinaus weiß, dass Männer überproportional AfD wählen und | |
der Rechtspopulismus die rassistische Erzählung pflegt, dass den armen | |
guten deutschen Männern junge männliche „Afrikaner“ oder „Afghanen“ d… | |
Frauen wegnehmen wollen, findet man wohl eine plausiblere Erklärung für den | |
AfD-Erfolg in Ostdeutschland, zugleich aber keine Antwort auf das Rätsel, | |
wie man denn die Fortsetzung dieses Erfolgs bei den nächsten Landtagswahlen | |
verhindern könnte. | |
Und eine weitere Abwanderung von Frauen, die nachvollziehbarerweise keine | |
Lust haben, unter überwiegend dumpfen Typen zu leben. | |
Schon heute ist die AfD in Ostdeutschland in Parteienlandschaft und | |
Alltagskultur völlig normalisiert und ihre Kernbotschaften sind in die | |
Programmatik der etablierten Parteien eingewandert, ohne jede | |
Grenzkontrolle. | |
## Der Vibe-Shift? | |
Die Mitte ist nach rechts gewandert und fühlt sich dort sehr wohl; man kann | |
es am triumphierenden Kulturkampf ablesen. Wir sehen hier eine shifting | |
baseline, womit das Phänomen bezeichnet wird, dass Menschen hinsichtlich | |
ihrer Wahrnehmungen und Überzeugungen keine fixen, sondern nur fließende | |
Referenzpunkte haben und daher Dingen zustimmen können, die sie nur wenige | |
Jahre oder Monate zuvor strikt zurückgewiesen hätten. | |
Dabei shiftet besonders auch das begriffliche Inventar im politischen | |
Haushalt, neue Worte tauchen auf wie „militärische Fähigkeiten“ oder | |
„Kriegstüchtigkeit“, neue Feindbegriffe wie „linksgrün Versiffte“ oder | |
„Shitbürger“, neue Optionen wie „massenweise Abschiebung“ oder „dies… | |
Gerichtsurteil entspricht nicht dem Wählerwillen“. | |
Zahlen und Statistik bilden mitunter ein gutes Mittel gegen freidrehende | |
Mythenproduktion – zum Beispiel im Zusammenhang der unhinterfragten | |
Behauptung, Deutschland gäbe nicht genug Geld für Rüstung aus, aber viel zu | |
viel für Entwicklungszusammenarbeit, habe ein massives Problem mit | |
Terroranschlägen aus migrantischen, insbesondere muslimischen | |
Populationen, dafür aber anscheinend keins mit Femiziden und biodeutscher | |
Gewalt gegen Frauen. | |
Alle diese Mythen sind politisch instrumentalisierbar, weshalb sie gern | |
immer wieder und weiter und so lange erzählt werden, bis sie als | |
unhinterfragbare Selbstverständlichkeiten gelten. | |
Geschichten, das erleben wir gerade in absurder Dimension am Beispiel der | |
Abmoderierung der [13][Klimakatastrophe], sind stärker als Zahlen und | |
Statistiken, weil sie Sinn zu geben scheinen. Zahlen hingegen müssen | |
interpretiert werden, stehen ungedeutet erstmal für gar nichts. | |
Trotzdem, und das war Hans Roslings großer mythenstürmerischer Versuch in | |
Factfulness, können sie allgemein kursierende Selbstverständlichkeiten wie | |
die, dass die Welt immer schlechter würde, mit ausgewählten Zahlen | |
korrigieren. | |
Und besonders dort, wo Sachverhalte und Zusammenhänge absichtsvoll | |
konstruiert werden, kann man mit Zahlen transparent dagegenhalten und | |
versuchen, diskursive Räume offenzuhalten, auch wenn andere sie zu | |
schließen versuchen. Ein wirklich gutes Beispiel zur sachlichen Einordnung | |
von Zahlen bietet zum Beispiel das [14][Bundeskriminalamt], wenn es die | |
Statistik nicht-deutscher Tatverdächtiger diskutiert (BKA 2024). | |
## Ideologiekritik und Lüge | |
Vielleicht braucht es auch einfach eine Exhumierung der guten alten | |
[15][Ideologiekritik], bei der Fakten immer eine wichtige Substantiierung | |
von Argumenten lieferten, gerade in einer Zeit, wo die Redlichkeit in der | |
politischen Kommunikation sichtbar auf der ehemals konservativen Seite | |
schwindet und man den Eindruck hat, die christlichen Parteien in | |
Deutschland wählten nunmehr denselben gegenaufklärerischen Weg, den die | |
[16][Republikaner] in den [17][USA] schon seit Langem eingeschlagen haben. | |
Interpretation is reality, und auch historisch ist es oft ein vergeblicher | |
Versuch gewesen, mit Mitteln der Aufklärung gegen die Verführung | |
vorzugehen, dümmer zu bleiben, als man es sein müsste. | |
Gerade in Zeiten, in denen das Lügen politisch salonfähig geworden ist und | |
man dem politischen Personal kaum die Kompetenz attestieren möchte, die | |
Nachhaltigkeit ihrer Entscheidungen zu überblicken, würden wir gern mit ein | |
paar Fakten helfen. | |
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2 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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