# taz.de -- Plädoyer für Jugendreisen: Die Freiheit, das Falsche zu tun | |
> Auf Jugendreisen muss es Schutzkonzepte geben, schreibt die 18-jährige | |
> Autorin. Denn alle jungen Menschen sollten diese Erfahrung der | |
> Unabhängigkeit machen können. | |
Bild: Auf einer Jugendreise kann man sich vom Blick der Eltern lösen | |
Jetzt hier den Berg hoch“, erklärte mir der Betreuer mit mildem Lächeln, | |
als ich aus dem klimatisierten Bus in die Wärme des kroatischen Biograd na | |
Moru stieg. Meinen Koffer musste ich den brüchig asphaltierten Weg | |
hochzerren. Ich merkte: Diese Jugendreise wird wahrlich kein Luxusurlaub. | |
Der Eindruck bestätigte sich im Hotelzimmer, wo uns der Geruch verriet, | |
dass die Bettwäsche nach dem letzten Gast mit schwitzigen Füßen nicht mehr | |
gewechselt wurde. Die saubere(re) Bettwäsche haben wir uns dann selbst aus | |
dem Waschkeller geholt. | |
Angenehm war das nicht. Aber auf Jugendreisen muss man mit genau solchen | |
Situationen umgehen. Dabei habe ich ein Maß an Autonomie erlernt, was ich | |
sonst mit 15 Jahren nicht erreicht hätte. Das ist jetzt drei Jahre her, | |
aber ich erinnere mich noch gut an die Fahrt. Auf Jugendreisen ist man | |
gezwungen, sich mit ZimmergenossInnen zu koordinieren, um für die Dauer der | |
Reise friedlich zu wohnen, trotz geteiltem Bad oder unterschiedlichem | |
Temperatur- und Ordnungsempfinden. | |
In den letzten Wochen sind Jugendreisen in die Kritik geraten. In einer | |
[1][Recherche des SWR] berichteten ehemalige TeilnehmerInnen, dass es auf | |
diesen Reisen zu sexualisierter Gewalt kam, wobei die BetreuerInnen | |
entweder nicht geholfen haben oder sogar selbst zu Tätern wurden. Die | |
Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, | |
Kerstin Claus, fordert deshalb, dass Veranstalter von Kinder- und | |
Jugendreisen künftig Schutzkonzepte vorlegen müssen. | |
## Ohne Aufsicht der Eltern | |
Es ist wichtig, dass es diesen Schutz gibt. Denn kein Jugendlicher sollte | |
durch Sorge vor sexualisierten Übergriffen von der Erfahrung einer | |
Jugendreise abgehalten werden. Was sich für viele so besonders anfühlt, ist | |
die Möglichkeit, sich ohne Aufsicht der Eltern einmal [2][vollkommen frei | |
zu bewegen]. Wie lange halte ich das am Strand ohne Schatten aus? Sind die | |
scheußlichen, glibschigen Wasserschuhe es wert, oder lasse ich mir meine | |
Füße doch lieber von den Steinen zerfetzen? | |
Vielen Eltern ist nicht klar, wie befreiend es sein kann, auch mal das | |
„Falsche“ anzuziehen, ohne dass es jemand direkt kommentiert. Ja, | |
vielleicht stellt man fest, dass sich Polyacryl bei 32 Grad Celsius | |
tatsächlich nicht schön auf der Haut anfühlt. Und manche Juckreize müssen | |
wirklich einmal gekratzt werden, um zu verstehen, warum das den Juckreiz | |
verschlimmert. | |
Auch kann man auf den Jugendreisen man „sinnlosen“ Aktivitäten nachgehen, | |
für die sich sonst niemand Zeit freiräumen würde. Kein erwachsener Mensch | |
hat je die Liebe von einem Jugendlichen zu seinem lokalen Supermarkt | |
begriffen. Und wenn man den 17 Mal am Tag besuchen will, dann macht das auf | |
der Reise nichts aus. | |
Diese Experimentierfreude hat natürlich auch ihre Schattenseiten. | |
Vielleicht ist es tatsächlich nicht so schlau, sich den ganzen Tag von | |
abgelaufenen Sandwiches zu ernähren und sich am Abend durch das | |
Cocktailsortiment der Strandbar zu probieren. Die Erfahrungen mancher | |
anderer gehen dabei über einen Abend über dem Klo hinaus. Das hat zuletzt | |
auch die Recherche des SWR gezeigt. | |
## Die BetreuerInnen und wir | |
Womit wir wieder bei den BetreuerInnen wären. Die sind oft selbst noch | |
jung, auf meiner Jugendreise waren sie kaum älter als wir. Wer unerfahren | |
ist, weiß vielleicht selbst nicht, wann es an der Zeit ist, einzugreifen. | |
Gleichzeitig bieten die Veranstalter den Betreuerinnen nicht viel. | |
So ging es in der SWR-Geschichte auch um die schlechten Arbeitsbedingungen: | |
Die BetreuerInnen mussten in diesem Fall lange arbeiten, erhielten dafür | |
aber keinen Lohn, sondern nur eine Aufwandsentschädigung von elf Euro. Sie | |
machen die Reise mit, weil sie selbst Spaß haben wollen. | |
Man könnte jetzt natürlich fordern, dass sie ein richtiges Gehalt bekommen | |
sollen. Aber dann würden auch die Jugendreisen teurer und für weniger | |
Menschen zugänglich. Ein Dilemma. | |
Ich weiß noch gut, wie wir die Betreuerin Paula auf dem Bootsausflug genau | |
zu ihrem Leben befragt haben und feststellten, wie klein der Sprung von uns | |
zu ihr wirklich ist. Vielleicht hätte Paula im Ernstfall nicht gewusst, was | |
bei einem Quallenstich zu tun ist. Aber sonst wusste Paula sehr viel | |
darüber, wie man aus jeder Situation das Beste macht. Denn noch vier Jahre | |
zuvor hatte Paula selbst bei dieser Jugendreise mitgemacht. | |
14 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/vollbild-partyurlaub-2025-100.… | |
[2] /Heatwave-Festival-in-Berlin/!6098721 | |
## AUTOREN | |
Luzie Winkelmann | |
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