# taz.de -- taz-Sommerserie „Berlin geht baden“ (6): Kindheit, Chlor, Klasse | |
> Zwischen Pommes und Sprungbrett ist das Freibad ein Ort gelebter Utopie. | |
> Es ist ein Stück Sommer, das immer auch verloren zu gehen droht. Ein | |
> Essay. | |
Bild: Das Becken im Außenbereich des Kombibads Gropiusstadt. Dass sich Hochhä… | |
BERLIN taz | Wenn das Wasser ganz still ist, spiegeln sich darin die | |
Hochhäuser. Eine gleißende Umarmung aus Chlor, Wasser und Beton, die | |
zerplatzt, sobald ein Kind einen Doppelsalto macht – oder eine Arschbombe. | |
Im Kombibad Gropiusstadt gibt es zwar Gesetze, doch keine Garantien. | |
„Um sieben war das?“ Ali schaut Ines an. „Oder halb acht?“ „Um sieben… | |
Ines, kurzes Haar, Blumen auf dem Badeanzug und auf dem Handtuch. | |
Lindenblüten rieseln auf die Handtücher, bleiben dort liegen wie | |
aufgeplatztes Popcorn. Sie und Ali haben mittlerweile Liegestühle, sie | |
kommen seit Jahrzehnten her. „Um sieben. Kurz bevor das Bad zumachte. Da | |
wurden wir beim Bademeister gesammelt, bekamen eine Mülltüte, und los | |
ging’s.“ Ines nickt, bestätigend. Ein Nicken wie ein Schulterklopfen. | |
Nostalgische Erinnerung: Die Kinder haben alles aufgeräumt! „Und wenn man | |
fertig war, hat man den Müll zum Imbiss gebracht“, führt Ali fort. „Dann | |
gab’s eine Freikarte für den nächsten Tag.“ | |
In den Entwürfen der Gropiusstadt war nicht vorgesehen, dass sich | |
Hochhäuser im Wasser spiegeln. Architekt Walter Gropius, hatte drei- bis | |
vierstöckige Häuser geplant, pompöse Grünflächen wie die Azoren im | |
Atlantik. Es sollte ein Bezirk ohne rauchende Schornsteine werden, wo | |
„Fußgänger ihr ganzes Recht“ bekämen. Doch es fehlte ein verbindlicher | |
Gesamtplan, und das führte zu einer Zersplitterung der Planungsinstanzen, | |
es gab keine klaren Entscheidungsträger, es mangelte an Kommunikation. Mit | |
der Berliner Mauer kam dann noch Platznot dazu. Die Häuser wurden nach oben | |
statt in die Fläche gebaut. 30 Stockwerke in den Himmel. | |
Doch die Idee eines Kombibads hat überlebt. Es wurde zu einem | |
[1][Naherholungsgebiet zwischen Erdbeerfeldern und Hochhäusern]. Eine | |
knallbunte Oase, die schon als „Ersatz zum Neckermannurlaub“ hergehalten | |
hat, Freilichtmuseum der Anime- und Disneywelt. | |
## Freikarte manchmal mit Ketchup-Toast | |
Als der Betreiber 1975 am Eingang Gummibärchen verkauft, berühren die | |
Kinder gerade so mit den Nasenspitzen die Kronen der Kiefern. Nicht, weil | |
sie hinaufklettern, sondern weil die schlafenden Giganten selbst noch so | |
klein sind. „Und manchmal“ sagt Ali, „gab es zur Freikarte noch ein | |
Toastbrot mit Ketchup.“ Das Zwinkern im Gesicht. Geschmäcker der Kindheit. | |
„Oder Schrippe mit Schokokuss“, ergänzt Ines. | |
In einer sich rasend verändernden Gegenwart, [2][in Debatten um Krieg], | |
Flexibilisierung, Klima, Armut – ist das Kombibad Gropiusstadt da womöglich | |
einer der letzten Orte transgenerationaler Allgemeingültigkeit? Jahr um | |
Jahr die gleichen Abläufe: Du bibberst. Im Meer der Handtuchinseln hast du | |
deine Mutter verloren. Du rennst, Füße nach vorne, Kopf nach hinten. | |
Knallst gegen Beine. Du schläfst. Sonnenschlaf, glitschig und tief. | |
Ein Junge im Stimmbruch rauscht vorbei, hundert Prozent mehr Dezibel als | |
die Trillerpfeife des Bademeisters. Kämpfe mit Wespen, deren Schicksal | |
immer schlimmer ist als deins. Auge in Auge, mit Freund:innen Köpfe unter | |
Handtüchern, Strategieplanung auf Gänseblümchen. | |
Sätze wie: „Warum sind die Pommer so heiß?“, „Alter, hast du den Pfiff | |
nicht gehört?“ oder der Klassiker: „Ja klar, ist Ketchup.“ Väter und S�… | |
auf Picknickdecken, verknotete Ellbogen und Knie. Zeichen einer Zeit, die | |
so zart ist, dass alle sie auf ewig vermissen werden. In der gleißenden | |
Sonne auf der Liegewiese zwischen Sonnenhüten, Beatmungsgeräten, | |
Pikachu-Handtüchern und knallroten Rücken ist die Frage nie: Hast du Geld? | |
Die Frage ist: Hast du Schwimmflügel, auf denen Intex steht oder welche mit | |
Spiderman? | |
## Blitzschnelle Kinder | |
Durdu stellt ihre leere Tasse Chai neben die Süßigkeiten für die Enkel. Der | |
Löffel klirrt im Glas. „Na Mama, hast du wieder wen zum Reden gefunden?“ | |
Durdu ist mit ihrer Tochter da. Eine Sekunde später eilt diese ihrem | |
eigenen Kind hinterher, das gefährlich wankt – eine Mischung aus | |
einstürzendem Jenga Turm und sprintendem Igel. | |
Verschollen gehen im Freibad, noch so ein Evergreen. Durdu hat mal ihren | |
Enkel verloren. Sie wirft die Augen zur Stirn, als sie erzählt, wie alle es | |
tun, wenn von großer Gefahr gesprochen wird: „Ich hab nur gesagt, wir | |
müssen uns anziehen und los. Kaum dreh ich mich um, ist er weg.“ Kinder | |
sind schnell. Auf mysteriöse Weise klettert ihre Geschwindigkeit im Freibad | |
auf Blitzgeschwindigkeit hoch, ein Sommergewitter, vor dem sich alle | |
fürchten. Wie gepeitschter Regen fliegen sie über Zaungrenzen hinweg, an | |
mehrspurigen Straßen vorbei, über Ampeln, zum Lidl-Parkplatz. Dann werden | |
sie zurückgebracht, weil „alle ein Auge aufeinander haben.“ | |
Wären die Füße der Kinder mit Farbe bemalt, würden sich Genealogien der | |
Bekanntschaft im Gras abzeichnen. Kunstwerke aus Zick-Zack-Kurven und | |
Unendlichkeitszeichen. Wer kennt wen, wer liegt wo, wer braucht was? Die | |
Wiese beherbergt Familien, erweiterte Familien, Wahl-Familien, | |
Als-ob-Familien, Wohngruppenleitende, Nachbar:innen, Freundeskreise. Lieben | |
oder hassen, und manchmal nur grüßen. Oft getauscht: Wassermelone, | |
Sonnenblumenkerne, Schwimmreifen, Tagesaktualitäten. Soundtrack dieser | |
Tage: „HAHA“ von Charlotte Adigery. Dröhnendes Geplauder, klatschende | |
Handflächen auf Plastikbälle und Wasser. Dazwischen Mischungen aus | |
Lach-Stakkato und Geheule. | |
Der Sommer ist wie eine glitzernde Flosse des Regenbogenfisches. Er gehört | |
allen. Nur wo sich der Sommer abspielt, ist begrenzt. Berlins Bäder gehören | |
seit 1996 den Berliner Bäder Betrieben, der Senatsverwaltung für Inneres | |
und Sport unterstellt. Seither wird Chlor in Sammelbestellungen geordert. | |
Anders als in anderen Städten sind die Wasserflächen in Berlin für Vereine | |
und Schulen kostenlos. Seit diesem Jahr gibt es jeden Tag Sport im | |
Kombibad, dafür wurde extra gebaut. Schwitzen auf blauem Gummigranulat, | |
Bewegung als Regulation. Auch für Geringverdienende oder | |
Bürgergeldempfangende gibt es Ermäßigungen. Doch wenn man von der gelben | |
Rutsche im Kombibad auf die Hochhäuser schaut, wird es Kinder geben, die | |
hinter den Fenstern zurückschauen. | |
## Parken jetzt für 1,50 die Stunde | |
Ermäßigungen sind wie Tinte auf einem Blatt Papier, das ins Wasser fällt. | |
Sie lösen sich innerhalb kurzer Zeit auf. [3][Bevor sich Menschen auf dem | |
Amt beschämen lassen] oder gegen Anträge kämpfen, die undurchschaubar sind | |
wie Milchglas, wird womöglich lieber ein Planschbecken im Hof aufgestellt. | |
Kinder sind abhängig von Eltern, von anonymen Institutionen und einem | |
unternehmerischen Staat. Öffentliches Schwimmen bleibt ein exklusives | |
Vergnügen, zu dem man nur mit Geld, Selbstbewusstsein und Lichtbildausweis | |
Zugang bekommt. | |
„Currywurst mit Pommes, zehn Euro!“ Eine Clique sonnenverwöhnter Männer a… | |
der Liegewiese. „Im Angebot. Da weiß man nicht, wo der Hammer hängt!“ Sie | |
sind Stammkunden. Auch schon, als die Bäume noch Zwerge waren. Als das | |
Parken gar nichts kostete, dann drei Euro am Tag und jetzt, wo es vom | |
Unternehmen MobilityHub betrieben wird, ein Euro fünfzig die Stunde. „Ich | |
habe einen Schwerbehindertenausweis“, sagt einer. „Die Gebühren werden mir | |
trotzdem nicht erlassen.“ Er habe E-Mails geschrieben, doch keine Reaktion. | |
MobilityHub stand schon häufiger in der Kritik. Nicht, weil | |
Parkdienstleister ohnehin immer von allen gehasst werden, sondern wegen | |
versteckter Kosten und unerreichbarem Kundenservice. Parken kann heute nur, | |
wer Handy und App-Verständnis besitzt. | |
Die Inflation betrug 2022 und 2023 etwa sechs bis acht Prozent, wodurch | |
[4][die Reallöhne inflationsbereinigt in diesen Jahren nur minimal stiegen | |
oder sogar sanken]. Durdu ist Bäckereifachverkäuferin, sie berichtet, dass | |
manche Bäckereien nicht mehr als acht Euro die Stunde zahlen – trotz | |
Mindestlohns von derzeit 12,82 Euro. „Wer soll sich davon irgendwas leisten | |
können?“, fragt sie. Es ist nicht nur das Leben in Armut, das belastet. Es | |
ist die Angst, ärmer zu werden, Orte zu verlieren, Freundschaften. Es ist | |
die Unsicherheit, die Armut belastend macht. | |
Doch [5][alle sollen sich sicher fühlen, das ist dem Senat wichtig]. | |
Deswegen kooperieren die Berliner Bäder seit 2014 mit externen | |
Sicherheitsunternehmen. Immer akzeptierter wird das Präventionsparadigma, | |
das Sicherheit zur Dienstleistung macht. Seit 2010 verzeichnet die | |
Sicherheitsbranche 37 Prozent mehr Beschäftigte, 2023 wurde 13,4 Milliarden | |
Euro Umsatz gemacht. Das sind 12,6 Prozent mehr als im Vorjahr. | |
## Geld umverteilen als bessere Prävention | |
„Aber was soll sie machen, wenn sich hier jetzt gekloppt wird?“ Der | |
sonnengebräunte Herr zeigt auf eine junge Person mit T-Shirt des | |
Sicherheitsunternehmens WeWatch. Sie schlendert über die Wiese, kein | |
Einsatz, alles ist ruhig. Was soll sie schon machen? Wo werden die | |
Mitarbeitenden wohl eingesetzt, wenn der Außenbereich am Ende der | |
Sommerferien schließt? Wer von ihnen kommt wieder? Wer kennt den Ort, wer | |
kennt wen? Sicherheit durch Solidarität, nicht als Service oder Strafe, | |
Prävention durch Umverteilung von Geld, freie Freizeitbeschäftigungen, das | |
Freibad [6][als Ort gelebter Utopien]. | |
Klassenlosigkeit und diverse Körper – davon weiterträumen im glitschigen | |
Schlaf unter der heißer werdenden Sonne. Weiter fordern, wenn die Blätter | |
gelb werden wie die Mayo im Gras. | |
2 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anna Kücking | |
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