# taz.de -- Unterwegs in Australien: Auf überkommene Weise europäisch | |
> Reisen schärft den Blick, auch auf den Ort, in dem man lebt. In Melbourne | |
> hat unsere Kolumnistin jedenfalls das Gefühl, aus der Vergangenheit zu | |
> kommen. | |
Bild: Wer solche Minikängurus streicheln will, findet die vor allem in Austral… | |
Es ist ja eigentlich ganz unmöglich, eine Kolumne über etwas zu schreiben, | |
wo man noch mitten drinsteckt – so wie ich gerade in Australien. Wobei so | |
gesehen von mittendrin keine Rede sein kann, in Australien wohnt man ja | |
meistens eher am Rand, was allerdings wiederum sehr schön ist, denn Rand | |
heißt hier ja immer auch: Meer respektive Ozean. Da war ich nicht drin, | |
schon gar nicht mitten, denn in Australien ist erstens gerade Winter und | |
das Wasser ist kalt, zweitens soll das Meer hier außerdem voller Haie sein, | |
weshalb ich sicherheitshalber gar keinen Badeanzug mitgenommen habe. | |
Sie merken: Ich bin eine eher vorsichtige Reisende und insbesondere für | |
jemanden, der Ethnologie studiert hat, insgesamt eher wenig gereist – meine | |
bevorzugten Reiseziele bisher waren die Türkei und Ostfriesland. Wobei ich | |
nun entdeckt habe, dass letzteres viel mit Australien gemeinsam hat: Das | |
ist zum einen die schöne, oft eher flache Landschaft, von der ich in | |
Australien bisher allerdings noch nicht viel gesehen habe – ich halte mich | |
eher in Städten auf, außer auf einer kleinen Insel vor Perth an der | |
Westküste, die schöne Strände hat und die ich mit dem Fahrrad erkundet habe | |
– also eigentlich alles wie in Ostfriesland, außer natürlich den | |
Minikängurus, die auf der Insel wohnen und die man, [1][wie die Schafe in | |
Ostfriesland], streicheln kann, wenn man sich traut. | |
Zum zweiten hat mich Perth an Emden erinnert, die ostfriesische Stadt, in | |
der ich meinen letzten längeren Urlaub verbracht habe. | |
Gut, Emden hat keine Skyline aus Hochhäusern, keine Chinatown und auch nur | |
rund zwei Prozent der Bevölkerung von Perth. Aber es gibt Ähnlichkeiten: | |
Die Perther*- und die Emdener*innen sind ähnlich entspannt, sie plaudern | |
gerne ein bisschen mit Fremden, ohne dabei aufdringlich zu sein; „easy“ ist | |
das Wort, das ich in Perth am häufigsten gehört habe. (In Ostfriesland gibt | |
es dafür kein Wort, sondern eine Art geraunten Laut, den ich nicht | |
schriftlich wiedergeben kann, aber „Moin“ und „G’day, mate“ sind ja a… | |
nicht so weit auseinander.) Vielleicht liegt das daran, dass die nächste | |
Großstadt jeweils weit entfernt ist: von Perth knapp 2.700 Kilometer, drei | |
Tage mit dem Auto, wie mir ein Perther erklärt: „Easy, mate!“ | |
Jetzt bin ich in Melbourne. Hier ist es anders. Auch hier gibt es, wie in | |
Perth, Platanen, die der australische Winter entblättert hat, neben Palmen | |
und Bäumen, an denen Zitronen wachsen, und Kakadus und Papageien in den | |
Parks. Aber „easy“ höre ich hier seltener, es geht auch, anders als in | |
Perth, niemand barfuß durch die Stadt, und manchmal wird sogar gehupt. | |
Wie Emden liegt Melbourne an einer Meeresbucht und hat einen großen Hafen, | |
in den ich von meinem Apartment aus die großen Schiffe einfahren sehen | |
kann. Doch sonst erinnert hier nichts an Ostfriesland – und, außer | |
vielleicht den Graffitis und den Straßenbahnen, auch nichts an Berlin. Die | |
Nachrichten im Fernsehen berichten über [2][Bangladesch] und Papua, Korea | |
und China, Indien, Malaysia und Indonesien – Bundeskanzler Merz habe ich | |
seit Wochen nur auf meinem Handybildschirm gesehen. Dafür sehe ich Menschen | |
aus all diesen Ländern auf den Straßen von Melbourne – vor allem junge. Sie | |
suchen hier ihre Zukunft, ihre Chance auf Glück. | |
Melbourne ist eine multikulturelle Weltstadt, wie ich sie bisher nicht | |
kannte, auf verwirrende Weise gleichzeitig fremd und vertraut. Dabei macht | |
sie es mir leicht, sie zu entdecken, denn sie begegnet mir mit freundlichem | |
Desinteresse, als wüsste sie: Ich will hier nichts, ich gehöre gar nicht | |
hierher. | |
Diese Stadt ist voller junger Menschen, die hier hingehören wollen – und | |
sie vermittelt, anders als New York oder Berlin, das Gefühl, dass die | |
Chance dazu tatsächlich besteht. Ich habe mich noch in keiner anderen Stadt | |
der Welt auf so überkommene Weise europäisch gefühlt wie hier: Ich komme | |
aus der Vergangenheit. Ich komme aus der Alten Welt. | |
10 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Mit-Schafen-und-Radlern-unterwegs/!5941603 | |
[2] /Bangladesch/!6101854 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Kolumne Die Fußgängerin | |
Multikulti | |
Australien | |
Europa | |
Kolumne Speckgürtelpunks | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Schwerpunkt Stadtland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Alltagsspiel auf der Konsole: Hauswirtschaft im Märchenland | |
Während unser Kolumnist als virtueller Hobbit Rhabarber säht, fällt sein | |
Offline-Hochbeet im Garten trocken. Das kann so nicht weitergehen, sagt er. | |
Sehr prekäres Wohnen in der Stadt: Durch die Schlafzimmer anderer Menschen | |
Dass so viele Menschen draußen schlafen müssen, lässt sich in Berlin nicht | |
übersehen. Das lässt unsere Kolumnistin um die eigene Zukunft bangen. | |
Erinnerung an „Löwenzahn“: Peter Lustig als Coping-Strategie | |
Vor 45 Jahren kam unser Kolumnist aus Kabul nach Berlin, im Fernsehen | |
startete „Löwenzahn“. Dessen Titelmelodie, meint er, kann in schweren | |
Zeiten helfen. |