# taz.de -- Waffengewalt in den USA: Krieg im Klassenraum | |
> In den USA stecken Eltern ihren Kindern Schutz-Schildkröten in den | |
> Rucksack. Eine eigene surreale Waffenindustrie soll vor Amokläufern | |
> schützen. | |
Bild: Sieht so wirklich die Sicherheit von Schulkindern aus? Hier schützen sic… | |
Die lachende Schildkröte „[1][Tank the turtle]“ schaut hinter einem Schild | |
hervor. Es ist nicht ihr eigener Panzer, denn ihn ziert die Flagge der USA, | |
links die Sterne, rechts die weiß-roten Streifen. Der Eindruck mag | |
täuschen, doch es handelt sich nicht um ein Spielzeug. | |
Im Gegenteil, die 25 mal 30 Zentimeter große Platte aus Polyethylen soll | |
das Leben von Kindern und Jugendlichen schützen. Laut Angaben stoppt die | |
Platte alle Stichwaffen und Kaliber bis hin zu den Kugeln einer | |
Kalaschnikow. | |
Für den Schulalltag können Eltern sie ihren Kindern ganz simpel in den | |
Rucksack stecken, schon läuft der Nachwuchs gepanzert umher. Das soll sie | |
vor Amokläufen schützen, denn die Opfer der „school shootings“ sind in | |
erster Linie Kinder und Jugendliche. Es ist surreal, was weite Teile der | |
US-Gesellschaft alles unternehmen, bevor sie ihren geheiligten zweiten | |
Zusatzartikel – das Recht auf Waffenbesitz – abschaffen oder auch nur | |
regulieren. | |
## Militaristische Industrie zum Schutz vor Waffengewalt | |
Das [2][Gun Violence Archive] zählte allein 2024 fast eintausend Fälle von | |
Schusswaffeneinsatz auf Schulgelände. Jeder davon hätte einen oder mehrere | |
Tote nach sich ziehen können. Insgesamt kosteten Amokläufe an US-Schulen | |
letztes Jahr 69 Menschen das Leben, 194 wurden verletzt. | |
Aus dieser Waffengewalt hat sich eine neue, perfide wie opportunistische | |
Industrie herausgebildet. Aus dem Leid an Kindern wird Kapital geschlagen. | |
So beginnt der Kaufpreis von Schutzplatten für den Kinderrucksack bei rund | |
150 US-Dollar mit reichlich Luft nach oben. Und damit nicht genug, denn | |
inzwischen sollen Kinder auch mit schusssicheren Mäppchen, Tablet-Hüllen | |
oder direkt einer Ganzkörperweste geschützt werden. | |
Die Produkte tragen martialische Titel wie „Defender“, „Ninja“ und | |
„BulletBlocker“. Manche von ihnen – wie die „Tank the turtle“-Schutzp… | |
– haben eine kindergerechte, verspielte Optik, um von ihrer eigentlichen | |
Funktion abzulenken. Für viele Hersteller:innen ist es darüber hinaus | |
wichtig zu erwähnen, dass es sich bei ihnen um ein Geschäft in den Händen | |
von Veteranen handelt. | |
Auch Accessoires für Lehrkräfte sollen angeblich dabei helfen, Opfer bei | |
Amokläufen zu verhindern. Stürmt jemand eine Schule, kann zum Beispiel die | |
mit Rollen ausgestattete und kugelsichere Tafel bewegt werden, damit sie | |
die Tür oder den Gang blockiert. Auch schusssichere Tische sollen | |
umgedreht und als Schild genutzt werden. | |
Einige Schulen, besonders die weiterführenden High Schools, setzen | |
Metalldetektoren ein, um eine Mitnahme von Schusswaffen zu verhindern. Was | |
an Krieg erinnert, ist noch immer ein Klassenraum. | |
## Der Waffenbesitz ist ein hohes Gut – und bleibt es wohl auch | |
Es wirkt surreal, dass aus den Amokläufen eine eigene Industrie entstanden | |
ist. Andererseits hatte das Kapital noch nie eine Moral, ganz gleich, ob es | |
um Kinder, Jugendliche oder Erwachsene geht. Würde man ernsthaft Opfer | |
verhindern wollen, ist eine Änderung oder Abschaffung des zweiten | |
Zusatzartikels dringend notwendig. In ihm heißt es: „Da eine wohlgeordnete | |
Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht | |
des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ | |
Doch dieses Gesetz stammt von 1791, als die USA ihre Unabhängigkeit | |
gegenüber Großbritannien noch nicht vollends gesichert hatten. Heute, über | |
zwei Jahrhunderte später, ist es ein antiquierter Zusatz, der primär von | |
Republikaner:innen verteidigt wird. Aber eben nicht nur: Auch | |
[3][Kamala Harris] und ihr Vizekandidat Tim Walz sprachen im letztjährigen | |
Präsidentschaftswahlkampf davon, dass sie Waffen besitzen. Während eines | |
Interviews mit Oprah Winfrey im September sprach Harris sogar davon, dass | |
sie einen Einbrecher sofort erschießen würde. | |
Es ist unwahrscheinlich – um nicht zu sagen unmöglich –, dass sich die | |
Waffengesetze unter einer trumpschen Regentschaft zum Besseren ändern. | |
Stattdessen sorgt die republikanische Regierung explizit für den Rückbau | |
von Programmen zur Prävention von Waffengewalt und will den Zugang zu | |
Munition erleichtern. Auch das „concealed carry“, das verdeckte Tragen | |
einer Waffe, soll vielerorts ermöglicht werden, sogar bei Lehrkräften. In | |
Staaten wie Florida, Arkansas, Illinois, Arizona und Texas ist das bereits | |
erlaubt – ohne jedwede Lizenz. Auch in Mississippi, Alabama und Louisiana | |
kann man die Waffen offen tragen, obwohl gerade diese drei Staaten die | |
proportional die meisten Toten durch Schusswaffengewalt haben. | |
## Die Fetischisierung von Schusswaffen kostet Leben | |
Der Konflikt des Waffenrechts ist kein neuer und längst ein fester | |
Bestandteil der alltäglichen US-Politik. Während die demokratische Seite | |
stärkere Regulation, Hintergrund-Checks und mehr Prävention fordert, | |
argumentiert das republikanische Lager mit der Verfassung, den | |
individuellen Rechten und seinem Lieblingsargument – der Freiheit – | |
dagegen. Was bleibt, ist ein juristisch vages Feld, das von den jeweiligen | |
Staaten meist selbst bestimmt wird. | |
Die Leidtragenden sind letztendlich Kinder, wie auch beim [4][Amoklauf an | |
der Apalachee High School im September 2024]. Dabei starben zwei Kinder und | |
zwei Lehrkräfte, neun weitere wurden verletzt. Schutzplatten, Tafeln, | |
Mäppchen und sonstige angeblich kugelsichere und lebensrettende Ausrüstung | |
hat kein Leben geschützt. Der 14-jährige Schütze soll die Tatwaffe, ein | |
halbautomatisches Sturmgewehr, als Weihnachtsgeschenk von seinem Vater | |
bekommen haben. | |
Dass eine tödliche Waffe in den USA als Geschenk für ein Kind gilt, zeigt | |
das tief verwurzelte Problem des Landes. Und im Ernstfall bieten Platten | |
und Rucksäcke den Kindern keinen Schutz vor jemandem, der sie töten will. | |
Doch Schusswaffen sind längst beständiger Teil der US-amerikanischen DNA | |
und für viele zu einem großen Fetisch geworden. Einer, in dem eine | |
vermeintliche Freiheit und Sicherheit gesehen wird – auch wenn sie die | |
eigenen Kinder das Leben kostet. | |
28 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/interactive/2024/09/18/science/bulletproofing-schoo… | |
[2] https://www.gunviolencearchive.org/ | |
[3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-09/kamala-harris-interview-recht-w… | |
[4] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/das-reine-bose-14-jahrige… | |
## AUTOREN | |
Martin Seng | |
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