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# taz.de -- Neuer Roman von Marius Goldhorn: Die Schönheit des Aussterbens
> In Marius Goldhorns neuem Roman arbeiten Kommunarden an einer neuen
> Geschichtsschreibung: eine Forschungsreise zu okkulten Bloggern und
> linken Theoretikern.
Bild: Brüssel im Morgenlicht: Wie überwinden wir den kapitalistischen Realism…
So viel vorneweg: Man kann dieses keinesfalls nur dystopische Buch auf
zweierlei Arten lesen. „Die Prozesse“, der zweite Roman [1][des jungen
Schriftstellers Marius Goldhorn,] stellt die große Frage danach, wie eine
Zukunftsperspektive in unserer krisengeplagten Welt aussehen könnte.
„Nichts Menschliches wird die nahe Zukunft erreichen“, heißt es an einer
Stelle des Texts. Aber ist das wirklich der Fall und vor allem: Sieht das
der Protagonist ebenso?
Also, zwei Lesarten: Abzweig eins funktioniert nach dem Motto „Lesen, was
ist“. Eine Geschichte über ein zerfallendes Europa, das langsam
austrocknet, das von den Folgen von Kriegen und Konflikten geplagt ist –
mit einigen Nebenschauplätzen. Einem sich verselbstständigenden
Computerspiel zum Beispiel, in dem die Figuren in abgekapselten
Dorfgemeinschaften leben und Rituale an einer Weide abhalten, um die Rache
der Toten abzuwehren. Ein freiberuflicher 3D-Designer, die Hauptfigur des
Buches, hat die Weide für das Spiel designt.
Diese namenlose und auch weitestgehend geschlechtslose Hauptfigur bewegt
sich mit ihrem reichen und schwerkranken Freund Ezra durch Brüssel. Dann
brechen Proteste aus, weil ein Video aus einem libyschen Internierungslager
die Runde macht. Das Haus der europäischen Geschichte wird besetzt,
Polizisten laufen auf die Seite der Protestierenden über. Eine kleine
Revolution.
Aus den Protesten heraus entsteht eine Kommune, die ein wenig an die
Ursprünge der Freistadt Christiania in Kopenhagen erinnert. Ezra, der unter
dem Namen Deborn über die Schönheit im Aussterben der Menschheit bloggt und
deswegen ein Problem mit utopischen Ideen hat, wird bei einer Ausstellung
in Brüssel vor den Augen des Protagonisten angegriffen und verletzt.
## Hunger und Dürre haben Europa erreicht
Die beiden reisen fluchtartig ins brennende, vertrocknete Ligurien, in dem
längst das Denguefieber ausgebrochen ist, ursprünglich eine
Tropenkrankheit. Da wächst nichts mehr, da kann irgendwann nur noch Hirse
überleben. Über Soldaten, die die Gegend unterworfen haben und die indische
und afrikanische Erntehelfer in Townships verrotten lassen, heißt es: „Die
Anhänger der Riconquista aber wollen lieber sterben, als afrikanische Hirse
zu essen“. Der Hunger und die Dürre haben Europa erreicht, wohin viele aus
genau diesen Gründen zuvor geflohen waren.
Ezra stirbt, der Protagonist findet sein Glück als Kommunarde in Brüssel.
Er lässt seinen Pass verbrennen, er verrichtet einfache körperliche Arbeit,
er beginnt an einer neuen Geschichtsschreibung mitzuarbeiten, indem er
Bilder so bearbeitet, dass die „Verdammten“ verschwinden. Die Köpfe von
Tätern werden aus Bildern retuschiert. Tribunale zu Kriegsverbrechern wie
Assad werden in der Kommune als Theaterstück abgehalten. In der Kommune
beginnt eine neue Zeitrechnung.
Man kann Goldhorns knapper, hochpräziser Sprache folgen, die man schon aus
seinem Debütroman „Park“ kennt. Kein Wort zu viel steht in diesen
entrückten Szenen, kein aufgeplustertes Adjektiv. Die Sätze sind wie eine
Art Vorstudie für ein Schreibprojekt des Protagonisten angelegt, dem man
folgt. „Ich habe schon alles aufgeschrieben“, sagt dieser am Ende des
Buches zu einer Freundin. „Alles?“, fragt sie. „Ich bin noch im Juli, jet…
ist schon wieder August. Ich nähere mich dem Jetzt, dem Ende.“
Die Poesie dieses Romans wird getragen von nüchternen, emotional etwas
entrückten Beschreibungen der Hauptfigur, die über Deborn, das Alter Ego
von Ezra, sagt: „Jedes Sprechen über Hoffnungen, Revolutionen,
Projektionen, Zukunftspläne fand er schrecklich. Er wollte über das Jetzt
sprechen, den Moment, in dem nichts geschah, müde flüstern. Unter dem
Horizont des Aussterbens lag der Frieden.“
## Überwinden des Kapitalismus
Womit wir beim zweiten Abzweig sind. Der funktioniert wie eine
Forschungsreise, die einen zu Nischenbloggern, Theoretikern mit Hang zum
Okkulten und dem Nachdenken über Degrowth, also die Verlangsamung des
Wirtschaftswachstums, führen und schließlich zum linken Konzept der
Räterepublik. Man findet Spuren zum von Amphetaminen angeregtem Denken von
Theoretikern aus Großbritannien wie dem [2][nach rechts außen abgedrifteten
Philosophen Nick Land] und dem mittlerweile verstorbenen [3][Mark Fisher.]
Der setzte sich aus einer linken Perspektive mit dem Überwinden des
Kapitalismus auseinander. Auch der Philosoph Reza Negarestani, der den
Nahen Osten als ein fühlendes Wesen beschreibt und Erdöl als Schmiermittel
historischer und politischer Narrative sieht, taucht indirekt auf.
Tatsächlich brennen in Ligurien plötzlich Ölfelder, und Ezras Arzt, der
eher wie ein Einflüsterer wirkt, ist nach ihm benannt.
Goldhorn offenbart, wenn man diesen Denkschulen folgt, in seinem Buch den
Konflikt zwischen einem radikalen, vom Menschen entrückten
Akzelerationismus, also einer zerstörerischen Hyperbeschleunigung, deren
Spuren sich in Goldhorns kaputter Welt widerspiegeln, und einer parallel
dazu verlaufenden Abwendung von staatlichen Strukturen, kapitalistischer
Hegemonie und damit auch von Demokratie im Rätesystem der Kommunarden, die
sich hier als das vorerst bessere System entpuppt.
Im Vergleich zu „1979“ von [4][Christian Kracht,] wo ein Protagonist
ebenfalls seinen Partner verliert und schließlich in einem chinesischen
Arbeitslager landet (was ihm durchaus zu gefallen scheint), begibt sich
Goldhorns Hauptfigur selbstgewählt in das neue System und begreift Arbeit
als menschlichen Selbstzweck.
## Maschine des Neuschreibens
„Endlich konnten wir uns ausruhen und vergessen. Die gesamte Kommune war
eine riesige, hochkomplexe Maschine des Vergessens und Neuschreibens“,
reflektiert der Protagonist an einer Stelle. „Schnell wurde mir klar, der
Einzelne existierte hier nicht, niemand schenkte einem individuellen
Ausdruck Beachtung, Körper flossen ineinander“, an einer anderen.
„Die Prozesse“ ist ein hochpolitisches Buch, aber keinesfalls Agitprop. Es
offenbart eine Vorstellung davon, wie man den von Fisher entworfenen
kapitalistischen Realismus überwinden kann – zumindest im Kleinen. Wie man
rechten Disruptoren von Nick Land über Peter Thiel bis hin zu Javier Milei
etwas entgegenhalten kann.
Goldhorn schreibt dabei aber nicht wie, sagen wir, Peter Weiss in seinem
schwer zu durchdringenden Monumentalwerk „Die Ästhetik des Widerstands“,
das nur den Abzweig des Forschungsreisenden zulässt, um die Revolution
greifen zu können. Denn „Die Prozesse“ ist neben all den theoretischen
Verlinkungen vor allem auch eine gute Geschichte, die von menschlichen
Beziehungen und einer Selbstgewisswerdung handelt und die in einer
greifbaren Welt verankert ist.
Es ist dann sehr angenehm, wenn Goldhorns Protagonist irgendwann einfach
nur Moules-Frites essen möchte. Das ist diese eigentümliche belgische
Delikatesse, bestehend aus Miesmuscheln im Gemüsesud und Pommes. Lecker.
25 Aug 2025
## LINKS
[1] /Autor-Marius-Goldhorn/!5780206
[2] /Philosophie-Kongress-in-Berlin/!5023444
[3] /Kulturkritiker-Mark-Fisher/!5753052
[4] /Neuer-Roman-Air-von-Christian-Kracht/!6071798
## AUTOREN
Johann Voigt
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Zukunftsmusik mit menschlichen Empfindungen. Stimmen stöhnen
Unverständliches.
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