| # taz.de -- Gaza-Protest in Berlin-Friedrichshain: Im Hunger vereint | |
| > Eine Palästinenserin und ein Deutsch-Israeli verweigern aus Solidarität | |
| > mit Gaza seit 60 Tagen das Essen. Sie haben die vage Hoffnung auf | |
| > Verständigung. | |
| Bild: Mai Shahin und David Ginati, die beiden Hungernden, Berlin-Friedrichshain… | |
| Berlin taz | Das Interview hat noch gar nicht richtig begonnen, da wird es | |
| schon unterbrochen. Mai Shahin schaut gebannt auf ihr Handy, das die dürre, | |
| kleingewachsene Frau mit beiden Händen halten muss, während sie im | |
| Schneidersitz am Fenster einer Altbauwohnung in Berlin-Friedrichshain | |
| sitzt. Sie vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Schwach sagt sie: „Sie | |
| haben Anas al-Sharif getötet.“ David Ginati, Deutschisraeli mit kräftigem | |
| Vollbart und dürren Fingern, legt seinen Kopf in die Knie der | |
| Palästinenserin, die mit einer weiß-schwarzen Kufija zugedeckt sind. Kurz | |
| trösten sich beide gegenseitig. | |
| Am Sonntagabend, während das Interview stattfindet, verbreitet sich die | |
| Nachricht, [1][dass die israelische Armee den] | |
| [2][Al-Jazeera][3][-Journalisten al-Sharif wohl gezielt getötet hat]. „Sie | |
| haben keine Ahnung, wen sie da töten“, murmelt Shahin immer wieder. Dann | |
| schaut sie dem Reporter in die Augen: „Genau das ist der Grund für unseren | |
| Hungerstreik. Das muss aufhören. Wir wollen, dass die ganze Welt versteht, | |
| das sind gute Menschen, die getötet werden. Keine Terroristen, sondern | |
| Menschen wie sie.“ | |
| Für dieses Ziel verweigern Shahin und Ginati am Donnerstag nun schon 60 | |
| Tage die Nahrungsaufnahme. Sie tun dies im Rahmen [4][der Kampagne „Their | |
| Hunger is Ours“], die sich gegen Genozid und Hunger in Gaza, Siedlergewalt | |
| in der Westbank und für die sichere Rückkehr der israelischen Geiseln | |
| einsetzt. Es ist eine Initiative [5][des Friedenscenters Satyam Homeland] | |
| im palästinensischen Beit Jala, nahe Bethlehem. Nach dem 7. Oktober haben | |
| Aktivist:innen dort das nach eigenen Angaben einzig verbleibende | |
| palästinensisch-israelische Friedenszentrum in der Westbank aufgebaut. Hier | |
| vernetzen sich lokale Aktivist:innen, es finden Bildungs- und | |
| Begegnungsveranstaltungen mit Israelis und Palästinenser:innen statt, | |
| sowie Trainings in gewaltfreiem Aktivismus. | |
| Seit Beginn des Hungerstreiks veranstaltet die Kampagne auch tägliche | |
| Zoomsessions, um die „systematische Entmenschlichung“ von | |
| Palästinenser:innen zu durchbrechen, wie Ginati sagt. In diesen | |
| stellen sich Hilfs- und Friedensinitiativen vor und berichten von der | |
| Realität aus Gaza und der Westbank. Dazu ruft die Kampagne zur Teilnahme an | |
| einem globalen Hungerstreik aus Solidarität mit Gaza auf. [6][Auf einer | |
| Karte im Internet] können sich Menschen für den Essensverzicht eintragen – | |
| das Spektrum reicht nach Angaben der Initiative von einem Mahlzeitverzicht | |
| täglich bis zum mehrwöchigen Hungerstreik. | |
| ## Lebensbedrohlich | |
| Es ist ein Vorhaben, dass für Ginati bereits lebensbedrohlich geworden ist. | |
| Der Hungerstreik wird von einem medizinischen Team begleitet, die beiden | |
| nehmen Vitamine und Säfte zu sich, um länger durchzuhalten. Doch am Ende | |
| vergangener Woche versagte sein Herz erstmals, erzählt Ginati: „Ich hatte | |
| Kurzatmung und konnte nicht mehr laufen.“ Im Krankenhaus hätten ihn die | |
| Ärzte gewarnt: Es drohen irreparable Herzschäden, wenn er den Hungerstreik | |
| fortsetzt. Ginati nimmt jetzt wenigstens zunächst die wichtigsten | |
| Nährstoffe zu sich. „Ich will weitermachen. Nur in welcher Form, das muss | |
| ich jetzt entscheiden“, sagt er mit fast trotziger Stimme. | |
| Was bringt Menschen dazu, sich für den verzweifelten Schritt zu | |
| entscheiden, das eigene Leben derart zu gefährden? Shahin guckt in die | |
| Leere. „Ich möchte, dass David lebt, dass er gesund ist, dass er isst“, | |
| sagt sie. Doch jeden Tag würden in Gaza Hunderte Menschen durch Bomben und | |
| Mangelversorgung sterben. „Wir entscheiden uns zu hungern, um ein Licht auf | |
| die zu werfen, die keine Wahl haben“, sagt sie. Es scheint, als treibe die | |
| beiden auch die persönliche Motivation an, das Leid in Gaza selbst | |
| mitzufühlen. | |
| Tatsächlich sind Politiker:innen nicht der primäre Adressat ihres | |
| Streiks. Es gibt zwar Forderungen – ein Waffenstillstand, genügend | |
| Hilfslieferungen und eine internationale Kontrolle ihrer Verteilung –, aber | |
| sie wüssten, dass ihre Stimme in Jerusalem oder im Kanzleramt nicht gehört | |
| werde, sagt Ginati: „Damit das Töten aufhört, braucht es ein globales | |
| Aufwachen und Widerstand“, sagt er. Dazu wollen die beiden beitragen. Dafür | |
| wollen sie nun verstärkt in die Öffentlichkeit treten. Am vergangenen | |
| Freitag trat Shahin etwa auf einem Protest der israelischen | |
| Friedensinitiative Standing Together in Berlin auf. | |
| ## Mantra | |
| Im Interview sprechen beide langsam, man merkt, dass das Sprechen Kraft | |
| kostet. Doch wenn Shahin in Fahrt kommt, steigert sie sich in eine Art | |
| Mantra hinein, dabei wird ihre Stimme kraftvoll. „Wir werden niemals | |
| aufhören, alle Namen zu nennen, die der Hungernden, der Geiseln, der | |
| Gefangenen“, sagt sie dann. „Als Palästinenserin weigere ich mich, nur die | |
| eine Seite zu nennen und selbst zur Unterdrückerin zu werden. From the | |
| river to the sea. Everyone shall be free“, sagt sie – und betont jede | |
| Silbe. | |
| Die Sprache, die sie anschlägt und die im so verhärteten Nahostdiskurs | |
| selten geworden ist, ist die der gewaltfreien Kommunikation, der Tradition, | |
| in der sich beide verorten. Shahin ist seit Jahren bei vielen | |
| Friedensinitiativen engagiert, etwa bei den Combatants for Peace, einer | |
| gewaltfreien Graswurzelbewegung, gegründet von Ex-Soldat:innen der | |
| israelischen Armee und palästinensischen Paramilitärs. Ginati ist neben | |
| seiner Arbeit als Friedensaktivist Therapeut und Coach für gewaltfreie | |
| Kommunikation und spirituelle Themen. Shahin sagt: „Wir stehen in der | |
| Tradition von Gandhi, der auch gehungert hat, damit es Gerechtigkeit und | |
| Freiheit für alle geben kann.“ | |
| Gelegentlich tritt im Gespräch dieser spirituelle Einschlag zutage. „Unsere | |
| Identitäten sind die Wurzel vielen Übels, es sind Ablenkungen von unserer | |
| Menschlichkeit“, sagt Ginati dann – und kurz klingt es, als hätten er und | |
| Shahin in ihrer Beziehung den Nahostkonflikt schon transzendiert. Doch so | |
| einfach sei das nicht. „Wenn wir heilen wollen, müssen wir uns mit unseren | |
| Schmerzen und Traumata auseinandersetzen“, sagt Ginati. „Dieser Schmerz ist | |
| unter anderem Resultat von Jahrhunderten der Kolonisierung, des Rassismus | |
| und der Ideologie der weißen Vorherrschaft.“ Erst durch die tiefgreifende | |
| Arbeit der gegenseitigen Anerkennung sei es möglich, die Gewaltspirale zu | |
| durchbrechen. | |
| ## Mitverantwortlich | |
| Insofern sei der Frieden eine Mammutaufgabe. „Es geht um viel mehr, als nur | |
| den Hunger zu stoppen. Das ist ein Tropfen in dem Meer, das kommen muss“, | |
| sagt Shahin. Auch der von Bundeskanzler Merz verkündete Stopp deutscher | |
| Waffenlieferungen nach Israel könne nur der Anfang sein. „Deutschland ist | |
| mitverantwortlich“, sagt sie. Die Menschen im Globalen Norden hätten die | |
| Macht und die Verantwortung, Israel in die Schranken zu verweisen. Doch in | |
| Berlin habe sie erlebt, wie sich auf den Straßen ähnliche Gewalt abspiele, | |
| wie bei den Friedensdemos in Tel Aviv oder Jerusalem. „Diese Gewalt wird | |
| auch Deutschland verfolgen. Die Polizist:innen, die sie ausüben, gehen | |
| abends nach Hause. Doch die Gewalt nehmen sie mit“, sagt sie. | |
| Für den Frieden sei das Verständnis zentral, betont Ginati. „Wessen Familie | |
| zu Asche bombardiert wird, dem wird es schwerfallen, die Namen der Geiseln | |
| zu sagen“, sagt er. Das sei verständlich, gerade im proisraelisch | |
| verzerrten Diskursklima. „Wir müssen diesen Schmerz anerkennen, statt die | |
| Opfer zu Tätern zu machen“, ist er überzeugt. Für die Verständigung sei es | |
| zentral, dass Palästinenser:innen und Israelis gemeinsam auftreten. | |
| Ob das Hungern mit dem vagen Ziel, so zu einem Umdenken beizutragen, eine | |
| sinnvolle Strategie ist? „Wir wollen nicht sterben, sondern durch unser | |
| Hungern die Menschen aufwecken“, sagt Ginati. Wie lange das noch | |
| weitergehen kann? „Ich gebe die Frage weiter, an alle Menschen: Wie lange | |
| sollen wir noch hungern? Ihr habt die Verantwortung, zu verhindern, dass | |
| mein Herz und Tausende andere in Gaza aufhören zu schlagen“, sagt sie. Man | |
| fürchtet, sie könnte es ernst meinen. | |
| 13 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
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