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# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Meer in ihm
> Er ist Seemann, Aktivist, Model und Meerjungfrau. Zu Besuch bei Sören
> Moje, der in einem Zirkuswagen in Hamburg-Altona lebt.
Bild: Sören Moje vor seinem Zirkuswagen. Aktuell lebt er auf einem Wagenplatz …
Am Ende von fünf Jahren als Seenotretter war ihm das Meer verleidet. Als
Seejungfrau erobert sich Sören Moje sein Element wieder zurück.
Draußen: „Welcome in Paradise“ steht zwischen dem Eingangstor und der
Freebox, einem Regal, in dem Leute Dinge zum Verschenken ablegen. „Früher
war hier eine Mülldeponie, heute ist es eine grüne Oase“, sagt Sören Moje.
In einem Industriegebiet am Rande von Hamburg-Altona entstand in den 1990er
Jahren der Wagenplatz, auf dem Moje seit fünf Jahren wohnt. In der Erde
können die Bewohner*innen nichts anbauen, der Boden sei noch heute
vergiftet, heißt es. Deshalb pflanzen sie ihr Gemüse und ihre Beeren in
Hochbeete. Dank der Pionier*innen hört man heute nicht nur das Rauschen
der angrenzenden Autobahn und die laute Schnackenburgallee, sondern auch
Singvögel und Insekten – vor allem nachts, wenn der Verkehrslärm abnimmt.
Es riecht nach der vom Regen nassen Wiese und nach einem bereits
erloschenen Lagerfeuer.
Drinnen: Draußen, vor seiner Tür, sei für Sören Moje wie „drinnen“. In
seinem Zirkuswagen aus den 1950er Jahren gibt es nur sein Bett, einen
Sandwichmaker und eine Kaffeemaschine. Seit 15 Jahren ist der Truck seine
Wohnung, mit ihm machte er auf verschiedenen Wagenplätzen in
Norddeutschland Station. Zusammen mit den anderen Wagen bildet er einen
Kreis mit einer Feuerstelle in der Mitte – eine Art Wohnzimmer. Unter dem
Sonnenschirm steht der Esstisch, eine Bank dient als Couch. In seiner
Werkstatt bewahrt Moje Erinnerungsstücke an das Meer auf: ein hölzernes
Steuerrad mit einer Uhr, das Modell für einen Dreizack, den er sich gießen
will, einen kaputten Kompass aus einem Geflüchtetenboot, den er während
seiner Arbeit [1][als Seenotretter] bekam. Unter einer Plane steckt sein
Boot, er muss es noch reparieren. Und auf einem Biertisch liegt der 3.000
Euro teure und 17 Kilo schwere, einem Fisch nachempfundene Hinterleib, den
Moje benutzt, um sich als Mermaid – als männliche Meerjungfrau – im Wasser
zu bewegen.
Meerwesen: Beim Anfassen und unter Wasser wirkt der glitschige Fischleib,
in den Sören Moje schlüpft, fast wie echt. „Das Faszinierendste an diesem
Hobby ist der Moment, in dem wir von wilden Tieren beobachtet werden, die
neugierig auf uns sind, wenn wir in ihre Lebensräumen abtauchen.“ Beim
Mermaiding, so der Name des Hobbys, schlüpfen Menschen in
Meerjungfrauenkostüme und schwimmen. Wellenartig wie Delfine bewegen sie
sich fort, vor allem unter Wasser. Dabei verbinden sie körperliches
Training mit Performance, Fotografie und Selbstdarstellung – und manchmal,
wie bei Sören Moje, auch mit Aktivismus. Er nutzt die Aufmerksamkeit, die
er als einer der wenigen Meermänner bekommt, um für Meeresschutz und
Menschenschutz im Seeraum zu werben.
Plastikmüll: Auch als Model, als „Merman Mo“, so sein Künstlername, ist er
unterwegs, zum Beispiel für eine Mineralwassermarke. Im September reist
Moje auf die Malediven, um an einem Mermaiding-Treffen teilzunehmen und mit
Mantas zu schwimmen. Moje nutzt jede Gelegenheit, um seine Botschaften zu
verbreiten. Unter Wasser macht er häufig Beach Clean-ups mit seiner Flosse.
Dazu taucht er bei Korallenriffen ab und sammelt Plastik ein. „Auch wenn es
nur eine Handvoll ist – wir müssen etwas gegen diese Plastikflut tun!“
Arielle: Als Kind war Moje von Meerjungfrauen fasziniert. „Ich habe Disneys
‚Arielle, die Meerjungfrau‘ rauf und runter geguckt.“ Doch als er mit 17
eine Ausbildung zum Schiffsmechaniker begann, träumte er nicht mehr davon,
selbst einmal eine Meerjungfrau (oder ein „Mermate“ wie er sich auf
Englisch gern nennt) zu werden. Später war Moje Schiffsbetriebstechniker
und leitender Maschinist auf Seeschiffen. „Aber nur auf so einem
Containerschiff zu sein, war nie ganz meins. Mir fehlte der soziale Aspekt,
bis ich entdeckt habe, dass ich beides verbinden kann.“ Deshalb engagierte
er sich bei NGOs [2][wie Sea Shepherd] und Sea-Watch im Meeresschutz und in
der Seenotrettung. Aus dem „Ich schaue mir das einmal an“ wurden sieben
Jahre.
Spuren: Nach seiner Zeit als Seenotretter habe er das Meer nur noch mit
„Leid und Elend“ in Verbindung gebracht, erzählt Moje. Auch wenn er nicht
auf See im Einsatz war, besuchte er Veranstaltungen und setzte sich für
gute Zwecke ein. Irgendwann wurde ihm das zu viel. „Ich hatte alles
verdrängt, als würden solche Erfahrungen keine Spuren hinterlassen. Bis ich
merkte, dass ich zu viel trank und eine Therapie brauchte.“ Er suchte nach
einem Hobby. Dann fand er im Internet etwas über Mermaiding und wusste:
„Das ist es.“ Das erste Mal, als er es ausprobierte, „war das, als hätte
ich das schon immer gemacht“. Sören Moje sagt: „Mermaiding hat mir die
Freude am Wasser zurückgegeben.“
Wasser: „Wenn mich als Kind jemand nicht finden konnte, dann war ich im
Wasser. Ich war da nie rauszukriegen“, erzählt Sören Moje. „Ich tauche und
schwimme super gerne, Wasser war schon immer mein Element.“ Außerdem sei er
im Sternzeichen Krebs mit Aszendent Krebs und Mond in Krebs, fügt er hinzu
und lacht.
Trocken: Einen Tag bevor er 39 wird, raucht Sören Moje beim Morgenkaffee am
Tisch vor seinem Wagen eine der letzten Zigaretten seines Lebens. So sein
Plan, danach möchte er damit aufhören. Genauso hat er es ein Jahr zuvor mit
dem Alkohol gemacht und ist stolz darauf, seitdem trocken zu sein. „Ich
hatte keinen Bock mehr, mich weiter mit Alkohol zu vergiften.“
Balance: Vieles hat sich in letzter Zeit verändert für Sören Moje. Er sei
clean, erzählt er, habe eine Partnerin und auch ein Grundstück auf dem Land
von seinen Großeltern, das er in Zukunft herrichten und zu seinem Wohnsitz
machen möchte. Sogar mit dem Mermaiding legte er eine kurze Pause ein:
„Aktivismus ist wesentlich für mich, aber ich musste mir einen Job besorgen
und mich um mein Leben kümmern.“ Deshalb hat er jetzt einen normalen Job
auf einem Schlepperschiff in Kiel. „Wir sind die Traktoren des Meeres“,
erklärt er. Große Container- oder Maschinenschiffe zieht Sören Moje mit dem
Schlepper bis in den Hafen. Eine Woche verbringt er auf See, die nächste an
Land.
Seeleute: Wenn Moje an Land ist, engagiert er sich als Mitglied beim Verein
„Freunde des Besanewer Johanna“, der sich auf den Erhalt von
Traditionsseglern fokussiert. Sein Urgroßvater ließ 1903 selbst so ein
Schiff bauen. Heute ist es ein Museumsschiff. Der Opa war Kapitän, der
Vater und die Brüder sind es auch. Mit fünf Jahren durfte Moje mit seinem
Vater auf einem Containerschiff mitfahren. Das habe ihn geprägt, sagt er.
Aber sein Vater habe ihn nicht dazu gedrängt, Seemann zu werden, im
Gegenteil: „Überlegt es euch gut“, sagte er zu seinen Söhnen.
Frauen: Die Frauen in Mojes Familie hatten immer „traditionelle Rollen“.
Auch in dem Milieu, in dem er heute arbeitet, muss er oft die Augen
verdrehen, weil es so wenige Frauen gibt – oder sie nur in der Verwaltung
oder in der Gastronomie zu finden sind, aber nicht auf See oder im Hafen.
Nur bei den Seenotrettungs-NGOs, sagt er, sei das Verhältnis etwa 50/50
gewesen. „Meine Kolleginnen waren überrascht oder bedankten sich bei mir
dafür, dass ich sie auf Augenhöhe behandelte, was vollkommen absurd ist.“
Nebenwirkung: Ob er öfter angesprochen wird, weil er als Mann die Rolle
einer Mermaid übernimmt? Moje denkt nach. „Manche belächeln es, während
andere es cool finden – aber ich tue das nur, weil es mir Spaß macht“, sagt
er. Es sei ihm schon immer egal gewesen, was andere über ihn denken.
Dennoch setzt sich Moje [3][mit kritischer Männlichkeit] auseinander. „Wenn
meine Rolle als Mermate etwas dazu beiträgt, sehe ich das als schöne
Nebenwirkung.“ Dass Männer sensibel und verletzlich sein können – und es
auch sind –, war ihm schon als Kind klar. Auch das war eine Lehre des
Meeres.
Erkenntnis: Als der neunjährige Moje und sein Vater einmal eine Tour über
das Mittelmeer machten, fiel der Motor des Beibootes mehrere hundert Meter
vom Containerschiff entfernt plötzlich aus. „Wir mussten zurückrudern. Das
war vielleicht das prägendste Erlebnis meines Lebens“, erzählt Sören Moje.
„Auf einmal merkte ich, wie man von einem Moment auf den anderen komplett
hilflos sein kann. Da ist niemand, du bist mitten im Nichts und auf dich
allein gestellt. Du musst mit dir selbst klarkommen.“ Wenn er später als
Seenotretter die Angst in den Augen der Geflüchteten sah, erinnerte er sich
an diesen Moment – und das Gefühl.
7 Sep 2025
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## AUTOREN
Luciana Ferrando
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