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# taz.de -- Korruption in der Ukraine: Selenskyjs Schritt weg von Europa
> Ukraines Präsident Selenskyj wollte per Gesetz die Unabhängigkeit der
> Antikorruptionsbehörden beenden. Nach Protesten lenkt er ein. Wird sein
> Volk ihm verzeihen?
Bild: Scheint nicht mit Protesten in diesem Ausmaß gerechnet zu haben: Wolodym…
Berlin taz | Diese Woche fanden in der Ukraine die ersten massiven
politischen Proteste seit Beginn der Vollinvasion Russlands im Jahr 2022
statt. Auslöser war die Verabschiedung des Gesetzes 12414 durch die
Werchowna Rada. Das ukrainische Parlament hat die beiden
Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die
Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP), damit der
Generalstaatsanwalt unterstellt.
Faktisch bedeutet das, die Unabhängigkeit dieser Behörden zu demontieren.
Am selben Tag, als die Menschen bereits massenhaft zu Protesten auf die
Straße gingen, unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
das umstrittene Gesetz. Das führte zu noch größerer Empörung in der
Bevölkerung und zu massiver Kritik internationaler Partner.
Die beiden Antikorruptionsbehörden NABU und SAP wurden unmittelbar nach dem
Sieg der Euromaidan-Revolution gegründet. Einerseits war dies eine Antwort
auf eine zentrale Forderung der damaligen Demonstranten: die Bekämpfung der
Korruption im Land. Andererseits war der Aufbau von NABU und SAP eine
Bedingung der EU für die Gewährung finanzieller Unterstützung und
Visafreiheit für die Ukraine. Das Land hatte somit endgültig den Weg zur
europäischen Integration eingeschlagen – ebenfalls eine Forderung des
Euromaidan.
Das Gesetz, mit dem diese Institutionen geschaffen wurden, sah vor, dass
ausschließlich sie strafrechtliche Ermittlungen wegen Korruption in Höhe
von mehr als 4 Millionen Hrywnja (etwa 83.000 Euro) unter Beteiligung von
Top-Beamten durchführen dürfen und dass sich niemand in ihre Arbeit
einmischen darf. Das NABU ist dafür zuständig, vor der Anklageerhebung die
Ermittlungen durchzuführen, und leitet die Fälle dann an die SAP weiter.
Die SAP ist eine separate Abteilung der Staatsanwaltschaft, die diese Fälle
vor Gericht vertritt. Die Leiter der Behörden werden in offenen
Ausschreibungen gewählt. In den Wahlkommissionen beider Behörden sind
Vertreter internationaler Organisationen und der Zivilgesellschaft.
## Ein Rückschritt um zehn Jahre
Mit dem neuen Gesetz fällt die Ukraine in der [1][Korruptionsbekämpfung] um
zehn Jahre zurück. Es gewährt dem Generalstaatsanwalt direkte Kontrolle
über die Mitarbeiter der SAP und das Recht, Fälle vom NABU zu übernehmen
und „im Falle einer ineffizienten Voruntersuchung“ an andere Behörden
weiterzuleiten. Da der Generalstaatsanwalt vom Präsidenten ernannt wird und
das Parlament nur über den vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten
abstimmt, verursachte das neue Gesetz auch die Sorge, dass der Präsident
direkten Einfluss auf die Ermittlungen der Antikorruptionsbehörden nehmen
kann.
Bisher konnte nur der Leiter der SAP ein Verfahren wegen
Korruptionsverdacht gegen hochrangige Beamte erheben und nur ihm
unterstanden die Staatsanwälte der SAP. Nun hat der Generalstaatsanwalt
diese Rolle. Ebenso wird befürchtet, dass er Einfluss auf bereits eröffnete
Verfahren nehmen kann.
Darüber hinaus gibt auch die Art und Weise, wie dieses Gesetz im Parlament
verabschiedet wurde, Anlass zur Besorgnis. Ursprünglich betraf es die
Untersuchung von Fällen verschwundener Personen in der Frontzone. Das
Parlament hatte den Entwurf im April bereits verabschiedet. Am 22. Juli
wurden jedoch unerwartet Änderungen hinzugefügt, die die Arbeit der NABU
und der SAP sowie die Befugnisse des Staatsanwalts betrafen.
Für das Gesetz stimmten 263 Abgeordnete, die meisten davon aus der
Mehrheitspartei des Präsidenten „Diener des Volkes“. Gleichzeitig stimmten
mehrere Mitglieder der Präsidentenpartei nicht nur dagegen, sondern riefen
offen dazu auf, das Gesetz abzulehnen. Noch am selben Tag begannen in
Kyjiw, Lwiw und Odessa erste Massenproteste. Dennoch unterzeichnete
Selenskyj in derselben Nacht das Gesetz.
## Friedliche Demonstrationen gegen das Gesetz
Am nächsten Tag breiteten sich friedliche Demonstrationen mit der Forderung
nach einer Aufhebung des Gesetzes bereits auf [2][15 Städte] in der Ukraine
aus, darunter auf die Frontstädte Charkiw und Sumy. An der Kundgebung in
Kyjiw nahmen etwa 9.000 Demonstranten teil.
Die Arbeit des NABU und der SAP war zwar vor diesen Ereignissen in der
Gesellschaft kritisiert worden. Eine vollständige Prüfung der Institution
im Jahr 2025 [3][durch die unabhängige Kommission] ergab eine Effizienz von
1,4 von 3. Aber es war gerade der Angriff auf die Unabhängigkeit der
Antikorruptionsbehörden, der die Bevölkerung empörte.
Mit dem Gesetz 12414 verstieß Selenskyj gegen einen stillschweigenden
Gesellschaftsvertrag, der in der Ukraine seit 2022 bestand: Die
Zivilgesellschaft unterstützt den Präsidenten trotz zahlreicher kleinerer
Fehler, solange er den Widerstand der Ukraine gegen Russland anführt und
nicht vom Weg in die EU abweicht.
## „Alle Kämpfe und Leiden umsonst“
Sie habe das Gefühl, dass „all ihre Kämpfe und Leiden umsonst waren“,
erklärt eine der Demonstrantinnen in Charkiw, Inessa, und so ginge es
vielen. Der Fehler könnte Wolodymyr Selenskyj nicht nur die Unterstützung,
sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung kosten. Warum Selenskyj sich für
diesen Schritt entschied, erschließt sich den meisten Ukrainern nicht.
Mit [4][Protesten in diesem Ausmaß] scheint Selenskyj nicht gerechnet zu
haben. Am Tag nach der Unterzeichnung des Gesetzes berief er die Leiter
aller Strafverfolgungsbehörden – darunter den Generalstaatsanwalt, die SAP
und die NABU – zu einem Treffen ein. Er bat sie, innerhalb von zwei Wochen
ein Dokument zur effektiveren Zusammenarbeit dieser Behörden auszuarbeiten,
und versprach, einen entsprechenden Gesetzentwurf in das Parlament
einzubringen. Gleichzeitig haben 48 Abgeordnete aus verschiedenen
Fraktionen einen eigenen Gesetzentwurf im Parlament eingereicht, der die
Befugnisse der SAP und des NABU wiederherstellen soll.
Kritik kam auch aus dem Ausland. Internationale Institutionen und die EU
forderten von Selenskyj, das Gesetz 12414 wieder aufzuheben. Fällt die
internationale Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten weg, sind die
gesamte finanzielle und militärische Hilfe, die die Ukraine für den Kampf
gegen Russland [5][dringend benötigt], sowie Investitionen in den
Wiederaufbau gefährdet.
Seit dem Euromaidan ist in der Ukraine eine Generation junger Menschen
herangewachsen, für die der Weg des Landes in die EU und das Leben in einem
demokratischen Rechtsstaat unverhandelbar sind. Die meisten derjenigen, die
derzeit auf die Straße gehen, sind genau diese jungen Menschen. Von ihnen
hat jeder entweder Angehörige oder Freunde an der Front verloren oder jetzt
dort.
## Neuer Gesetzentwurf im Parlament
Am Donnerstagabend legte Selenskyj [6][dann doch schon den von ihm
angekündigten Gesetzentwurf] dem Parlament zur Prüfung vor. „Der Text ist
ausgewogen. Er enthält reale Instrumente, jeglicher russischer Einfluss
wurde ausgeschlossen und die Unabhängigkeit des NABU und der SAP ist
gewährleistet“, schrieb er. Der neue Gesetzentwurf sieht vor, dass der
Generalstaatsanwalt und seine Stellvertreter keine Weisungen an die
Staatsanwälte der SAP erteilen dürfen. Außerdem wird festgelegt, dass die
Mitarbeiter der SAP nur der Leitung der SAP unterstehen. Laut dem
Gesetzentwurf ist es dem Generalstaatsanwalt auch untersagt, den Ermittlern
des NABU Weisungen zu erteilen.
Das NABU unterstützte seinerseits den Gesetzentwurf des Präsidenten. „Er
stellt alle Verfahrensbefugnisse und Garantien für die Unabhängigkeit des
NABU und der SAP wieder her“, erklärte das NABU und wies darauf hin, dass
es an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt war. Es forderte das
Parlament auf, den Gesetzentwurf so schnell wie möglich zu verabschieden.
Starker interner Druck und internationale Kritik zwangen den ukrainischen
Präsidenten, von seinen Absichten abzurücken. Doch der Nachgeschmack dieser
Maßnahmen wird noch lange anhalten. Nun könnte Selenskyj mit einem neuen
Problem konfrontiert sein. Für die Verabschiedung des neuen Gesetzentwurfs
fehlen ihm Stimmen im Parlament. Für den Gesetzentwurf 12414 hatten auch
die mitgestimmt, die aus Eigeninteresse keine Unabhängigkeit der
Antikorruptionsbehörden wollen. Mit ihnen muss Selenskyj nun verhandeln.
Mit den Protesten gegen Selenskyjs Maßnahmen streben die Ukrainer nicht
seine Stürzung an – schon gar nicht in Zeiten eines existenziellen Krieges.
Sie werden ihre Entscheidung bei den Wahlen treffen, wenn die Zeit gekommen
ist. Mit den lautstarken Protesten wollen die Ukrainer den Präsidenten und
die Parlamentarier dazu bringen, auf die Gesellschaft zu hören.
Eine aktive und geeinte Zivilgesellschaft, die sich bereits seit
dreieinhalb Jahren gegen Russland stellt.
25 Jul 2025
## LINKS
[1] /Korruption-in-der-Ukraine/!6099049
[2] /Ukrainisches-Korruptionsgesetz/!6102546
[3] https://www.kmu.gov.ua/storage/app/sites/1/otsinka_nabu/final-report-eng.pdf
[4] /Korruption-in-der-Ukraine/!6099049
[5] /Russische-Angriffe-auf-die-Ukraine/!6099143
[6] /Ukraine/!6103718
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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