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# taz.de -- Megatrend Tätowierungen: Diffuse Botschaften
> Tattoos sind nicht nur Mainstream geworden, sie haben sich auch
> stilistisch verändert. Tätowierte Rollstuhlfahrende werden trotzdem
> schräg angeschaut.
Bild: Voll im Trend des Tatoo-Durcheinanders: Fußballer Leonardo Bittencourt 2…
Als ich Kind war, sah ich Tätowierungen nur bei den Leuten, die vor dem
Supermarkt mit Bierdosen herumstanden. Heute ist gefühlt jeder zweite
Mensch angemalt, auch wenn es laut Statistik nur jeder Vierte ist. Mit
Tätowierungen möchte man oft etwas ausdrücken: Individualität, dass man
Bayern-Fan ist oder eine Tochter namens Stella-Allegra hat.
Beliebt scheinen auch Daten von Geburts- oder Hochzeitstagen – eine
durchaus praktische Erinnerungshilfe! Trotzdem tätowiere ich mir lieber
nicht meine Handy- oder Krankenkassennummer. Laut Google könnte nämlich so
ziemlich jede Zahl auch ein Code für den Geburtstag von Hitlers Katze sein
oder „Deutschland den Deutschen“ bedeuten.
Auch mit Symbolen ist Vorsicht geboten. Ob Tränen, Flügel oder nur ein paar
Punkte: Je nachdem, ob man irgendein Gangmitglied ist, im Gefängnis
gesessen hat oder nur ein Volltrottel ist, kann so was von „Ich bin ein
Massenmörder“ bis hin zu „Ich habe einen scheiß Geschmack“ so ziemlich
alles bedeuten.
Man findet im Internet auch sehr lustige Fotos von Menschen, die sich
bedeutungsschwangere Sinnspruch-Phrasen in geschwungenen Lettern inklusive
Rechtschreibfehler haben stechen lassen. Ich frage mich, ob das nicht in
Kombination mit einem Organspende-Bereitschafts-Tattoo vielleicht
gefährlich sein könnte, weil man es als Nachweis für einen Hirntod
heranziehen könnte.
Egal. Ich hatte auf jeden Fall erwartet, dass die Generationen nach mir mit
Tätowierungen nur noch in der Altenpflege Kontakt haben würden. Damit lag
ich völlig falsch.
Stilistisch hat sich aber [1][eine Menge verändert]. Der Trend scheint weg
von großflächigen Tribals und Drachen hin zu einzelnen, scheinbar wahllos
verteilten Strichzeichnungen überall am Körper gegangen zu sein. Es
erinnert mich stark an die Schreibtischunterlagen, auf denen früher unser
Festnetztelefon stand: Kunstwerke, gewachsen aus einstmals wichtigen Zahlen
und Worten, umgeben von jeder Menge kleiner Bildchen, Mustern und
Kritzeleien, geboren aus der Langeweile. Wahrscheinlich ist [2][der neue
Tattoo-Stil] schlichtweg die logische Konsequenz daraus, dass wir heute mit
unseren Telefonen praktisch verwachsen sind.
Angeblich sollen viele Tattoos neben der Betonung der Persönlichkeit ihres
Besitzers auch einen Gesprächsanstoß für die Auseinandersetzung mit
gesellschaftlichen Themen bieten. Ich persönlich frage aber nie nach
[3][Tattoo]-Bedeutungen – ich finde das übergriffig. Ich gehe einfach davon
aus, dass die Arzthelferin mit der Lavalampe und dem Sponge Bob auf dem
Unterarm Lavalampen und Sponge Bob mag. Meinem Mann habe ich vorgeschlagen,
sich als starke persönliche Botschaft den Rücken und die Glatze mit
Solarmodulen vollzutätowieren. Aber er will nicht.
Apropos übergriffig: Tätowierte Rollstuhlfahrende bekommen anscheinend
recht häufig mitgeteilt, dass man es wahlweise besonders cool oder
besonders unpassend findet, dass sie als „solche Menschen“ tätowiert seien.
Für „solche Menschen“ wie unseren Sohn – also mit geistiger Behinderunge…
ist es schwierig, sich den Wunsch nach einer [4][Tätowierung] zu erfüllen.
In den Tattoo-Studios will man dafür in der Regel eine Einwilligung der
gesetzlichen Betreuer sehen – oft also von den Eltern. Und wenn sich Willi
jetzt gerne einen Dönerteller für zwei Personen auf den Oberschenkel
stechen lassen möchte, würde ich das auch nicht so toll finden. Während
viele junge Menschen so verzweifelt auf der Suche nach Individualität sind,
sortieren wir Kinder mit Besonderheiten schon im Vorfeld aus. Irgendwie
seltsam.
Für Angehörige von Menschen mit Downsyndrom gibt es übrigens auch ein
spezielles Tattoo. Es zeigt drei nach oben zeigende Pfeilspitzen und nennt
sich aus gegebenen Anlass „The Lucky Few“ – die wenigen Glücklichen.
13 Sep 2025
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## AUTOREN
Birte Müller
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Hinter den Kirschblüten
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