| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sonne, Mond und Kekse | |
| > Sinem Ergun würde gerne ein Café eröffnen, aber so weit ist es noch | |
| > nicht. Gerade versucht sie ihr Glück als Gastronomin in einem Eckhaus in | |
| > Lindau. | |
| Bild: Das Zuhause: Sinem Ergun lebt in einer winzigen Wohnung unter dem Dach | |
| Sie muss so vieles sein. Sie muss so vieles wissen. Sie muss an so viel | |
| denken. Manchmal schaut Sinem Ergun lieber in den Mond. | |
| Draußen: Vor ihren Fenstern öffnet sich ein Labyrinth aus Dächern und | |
| Balkonen. Schräg, verwinkelt, ein Haus ans andere gebaut, eines das andere | |
| stützend. Treppenabsätze sind dazwischengesetzt, auf denen Sukkulenten | |
| stehen oder Oleander. Krähen jagen sich in den verwinkelten Dachkavernen. | |
| Das hier, das kann unmöglich Deutschland sein. Eher Frankreich. Eher | |
| Italien. Eher irgendwo auf dem Balkan. Aber nein, ist es nicht. Es ist am | |
| Bodensee, auf der Insel Lindau. | |
| Drinnen: Wie draußen fließt auch drinnen alles ineinander. Der Flur ist | |
| Küche, die Küche ist Wohnzimmer, der Kühlschrank steht gegenüber dem | |
| Spiegel, der Trockner neben dem Fernseher, gebügelt wird auf der Couch. | |
| Überhaupt, der Trockner, kommt man in die kleine Höhle unterm Dach, fällt | |
| er als Erstes in den Blick. Er steht auf einem Orientteppich, den ihre | |
| Großmutter geknüpft hat. Und über dem Trockner hängt eine Girlande mit der | |
| Aufschrift „Welcome Home“. Sinem Ergun lebt hier über den Dächern von | |
| Lindau auf engstem Raum. Ihr Lieblingsplatz ist der kleine Balkon. Auch im | |
| Winter sitzt sie dank Heizstrahler dort. Jetzt, im Sommer, zieht sie Gurken | |
| und Tomaten, Rosmarin, Salat und Basilikum. Solange sie keinen Garten hat, | |
| muss das reichen. „Die Menschen haben vergessen, wie wir mit der Natur | |
| verbunden sind.“ | |
| Vision: Der Garten, von dem sie träumt, wäre voller verwunschener Ecken. | |
| Dort würde sie ihr Café eröffnen. „Oben wohnen, unten Café.“ Eines, wo … | |
| nur gutes Essen gibt. Kein Fastfood, keine hochverarbeiteten Lebensmittel, | |
| sondern echte, solche, die dem Körper guttun. „Die Leute verstehen nicht, | |
| wie wichtig das ist.“ Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche mit | |
| Quellwasser. „Ich bin so was von glücklich mit meinem Körper, dass ich ihm | |
| nicht schaden will. Der muss so viel abwehren, die Abgase, die Chemikalien. | |
| Der Körper ist so ein Wunder.“ | |
| Momentum: [1][Corona] habe sie diesbezüglich zum Umdenken gebracht. Weil | |
| sie ihrem Körper nicht schaden wollte, habe sie hinterfragt, ob die | |
| Regierung etwas Gutes für die Menschen will. In einem Fach beim | |
| Küchenschrank steckt ein Buch: „Leben ohne Pillen“. Sie ist da sehr | |
| kritisch. Das mit dem Impfen in der Coronazeit habe ihr nicht richtig | |
| behagt. Andererseits: „Ich wäre schon tot, wenn es die klassische Medizin | |
| nicht gäbe. Ich hatte mal einen Blinddarmdurchbruch.“ Nicht als Kind, als | |
| Erwachsene. | |
| Früher: Kind war sie in Buchloe, 1996 geboren. Die bayrische Kleinstadt sei | |
| fürs Umsteigen wichtig. Sie meint: „Umsteigen bei der Bahn und so.“ Ihr | |
| Großvater kam einst als „Gastarbeiter“ nach Buchloe, er wurde von den | |
| Karwendel-Werken angeheuert, „die machen Exquisa, den Frischkäse. Kennen | |
| Sie den?“ Der Großvater zog in eine Werkswohnung und wohnt bis heute da. | |
| Dort ging auch die Enkelin ein und aus. | |
| Herkunft: Natürlich, meint sie, habe der Großvater gedacht, als er Anfang | |
| der 70er Jahre von der Türkei nach Deutschland ging, er bliebe nicht lange. | |
| Er war Bauer und kommt aus einem Dorf in der Nähe von Konya. „Da ist es | |
| sehr trocken. Ohne Esel geht gar nichts. Wir waren sehr arm.“ „Wir“, sagt | |
| sie und im nächsten Satz: „Leben kann ich da nicht.“ | |
| Schicksale: Ihren Vater hat der Großvater in der [2][Türkei] | |
| zurückgelassen, als er mit seiner Frau nach Deutschland ging. Erst mit 11 | |
| Jahren kam der Junge, Sinem Erguns Vater, nach. Ihre Mutter wiederum war 19 | |
| Jahre alt, als sie Buchloe zum ersten Mal sah. Auch sie stammt aus dem Dorf | |
| in Konya. Per Post sei die Ehe ausgehandelt worden. Der Vater der Mutter | |
| sei Lehrer gewesen. „Und voll der Atatürkfan.“ Zwei Stunden brauchte er zu | |
| Fuß zum Lehrerkolleg. Zwei Stunden hin und zwei zurück. „Männer wurden mehr | |
| gefördert, Frauen nicht. Meine Oma, die, die Teppiche knüpft, durfte nur | |
| bis sie zehn Jahre alt war zur Schule. Sie hat sehr darunter gelitten.“ | |
| Sinem Erguns Vater, der elfjährig nachgeholt wurde, habe sich durch die | |
| Schule in Buchloe gekämpft. Jetzt ist er, wie auch sein Bruder, Maler und | |
| Lackierer. Ihre Mutter wiederum mache bald die Deutschprüfung B2 nach. Aber | |
| für sie, die Tochter, die doch Migrantionserfahrung in dritter Generation | |
| hat, sei das Leben in Buchloe schön gewesen. Draußen rumstromern und | |
| gleichzeitig so eingebunden sein in die überschaubare türkische Community | |
| in der Kleinstadt. | |
| Realistische Einschätzung: Trotzdem war sie in der Grundschule das einzige | |
| Kind mit Migrationshintergrund. Erst in der siebten Klasse der Realschule | |
| kamen noch zwei Mädchen, die türkische Eltern hatten, und eines mit | |
| italienischem Background. „In Buchloe gab es kein Gymnasium, aber ich hätte | |
| es eh nicht geschafft.“ Sie habe ihr Umfeld herausgefordert mit ihrer | |
| Fröhlichkeit, Leichtigkeit, dem Leichtsinn. Der Stoßseufzer „Oh Sinem“, | |
| der klingt ihr im Ohr. | |
| Religion: Samstags muss Sinem Ergun in den Religionsunterricht beim | |
| Hodscha, wie man im Türkischen einen islamischen Religionsgelehrten nennt. | |
| „Die Geschichten, die er erzählte, waren für mich wie Märchen.“ Da sie a… | |
| auch in einer Volleyballmannschaft spielt und die Turniere oft aufs | |
| Wochenende fallen, muss sie sich entscheiden. „Ich wollte Volleyball | |
| spielen. Im Religionsunterricht bin ich nicht mehr mitgekommen. Und | |
| ehrlich, es hat mich auch nicht interessiert.“ Religion und Politik sind | |
| nicht ihr Ding. Wobei sie das Machtgehabe von Machtmenschen fasziniere. Wie | |
| bei Erdoğan. „Wenn der nur nicht so viel Geld in die Moscheen pumpen | |
| würde“, meint sie. | |
| Nach der Schule: „Ich wollte immer schon etwas mit [3][Tourismus] machen, | |
| wollte Reiseführerin werden.“ Als sie dann aber aus der Realschule kam, war | |
| sie ratlos. „Blind habe ich mich für eine Lehre als Hotelfachfrau | |
| beworben.“ Im zweiten Lehrjahr kommt sie dank einer Bekannten an den | |
| Bayrischen Hof in Lindau. „Dort hatte ich wunderbare Anleiter. Frau Malek | |
| und Herr Krebs. Die haben mich beschützt. Mir hat das gefallen.“ Sie | |
| durchläuft alle Stationen in der Hotellerie, Küche, Rezeption, | |
| Housekeeping, Kellnern, Frühstück vorbereiten. „Die Kaffeeküche hat mir am | |
| meisten Spaß gemacht. Das hab ich geliebt.“ Dass sie heute ein Café hat, | |
| sei kein Zufall. Elf Jahre jobbte sie nach der Lehre in verschiedenen | |
| Restaurants und Cafés auf der Insel, bis letzten Herbst. | |
| Das Café: Sinem sei ein Sonnenscheinkind, sagen ihre Freundinnen und | |
| Freunde. Ihr Lachen ist leicht, Nachdenklichkeit entdecke aber, wer sie | |
| kenne. Gern lacht sie über sich selbst. Aber die gute Laune hat ihr nicht | |
| geholfen, als sie anfing, sich im Job in der Gastronomie zu langweilen. | |
| „Ich wollte immer schon was Eigenes machen.“ Dann sei der Laden in der | |
| Bürstergasse im Internet aufgeploppt und sie springt. Springt ins kalte | |
| Wasser. „Ich mach das.“ Ein einfaches Café mit wenigen Dingen in | |
| Bioqualität und mit Herz. In Pastellfarben eingerichtet. „Oh Sinem“, sagen | |
| die Eltern. Trotzdem: Ihr Vater, ihr Onkel und ihr Freund helfen bei der | |
| Renovierung. | |
| Das Angebot: Ein weiterer Zufall will es, dass sie eine kleine Manufaktur | |
| übernehmen kann, wo Florentiner herstellt werden. „Bodenseeflorentiner.“ | |
| Die backt sie jetzt. Es gibt sie im Café neben ein paar anderen | |
| Süßigkeiten. „Weniger ist mehr. Bei Currywurstständen gibt es auch meist | |
| nur ein Ding“, sagt sie. Dem alten Inhaber der Manufaktur habe sie von dem | |
| Seufzer erzählt, den andere gerne mal ausstoßen, wenn sie mit ihren Ideen | |
| um die Ecke kommt. „Dann nenn dein Café doch so“, soll der gesagt haben. | |
| „Oh S!nem“ heißt es jetzt. Im September, pünktlich zur Saisonflaute, | |
| eröffnete sie. „Die Entscheidung war zu schnell. Heute würde ich es nicht | |
| mehr so machen.“ Jetzt hofft sie auf ihren ersten kompletten Sommer. | |
| Das Firmament: „Früher kam ich von der geregelten Schicht nach Hause und | |
| war irgendwie unglücklich und leer. Jetzt komme ich von der langen | |
| Arbeitszeit im Café nach Hause, bin müde und glücklich.“ Am liebsten sitzt | |
| sie abends mit einer Freundin auf dem Balkon. Fernsehen und Telefon hält | |
| sie für Zeitverschwendung. Sie hat sich ein Fernglas gekauft. „Damit schau | |
| ich in den Mond.“ | |
| 13 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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