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# taz.de -- Vom Netz auf die Straße: Berlin follows Tiktok
> Immer größer wird der Einfluss von Tiktok darauf, wer Berlin wie
> wahrnimmt. Das hat auch Auswirkungen auf das analoge Leben – und auf die
> Politik.
Bild: Wer Berlin verstehen will, muss auch Tiktok verstehen
Berlin taz | Du hast in der Nacht von Donnerstag auf Freitag nicht vor dem
Alexa-Einkaufszentrum gezeltet, um eine limitierte [1][Labubu-Plüschpuppe
im neu eröffneten Pop Mart-Store zu ergattern]? Du pilgerst nicht zum
legendären Hauseingang in Kreuzberg, vor dem Pashanim sein Musikvideo
gedreht hat und wartest nicht vor der East Side Mall, um Zahide vor ihrer
Tanzschule abzufangen? Dann lebst du vielleicht in Berlin – aber nicht in
dem Berlin, das auf Tiktok täglich viral geht.
Ein Fehler. Denn im Berlin 2025 entscheiden nicht mehr allein der Senat,
die etablierte Kunstszene oder Werbekampagnen, was in der Stadt wichtig ist
und wie sie wahrgenommen wird. Als Machtzentrum dazugekommen ist die
Berliner Tiktok-Community. Und wer die Stadt verstehen will, sollte sie
nicht länger ignorieren.
Wie könnte man auch. Es wäre fahrlässig nicht wahrzunehmen, dass die
erfolgreichste Tiktokerin der Stadt mit 8 Millionen Follower:innen mehr
als doppelt so viele Menschen erreicht, wie Berlin Einwohner:innen hat.
Mit gerade erst 15 Jahren ist [2][Zahide Kayaci (Zah1de)] in kürzester Zeit
zu einer der deutschsprachigen Top-Influencer:innen aufgestiegen.
Die Kreuzbergerin tanzt bei der Tanzschule Lunatix mit Standorten in
Charlottenburg und Friedrichshain. Über Tiktok wurde Universal Music auf
Zahide aufmerksam. Ende 2024 unterschrieb sie dort einen Vertrag. Seitdem
veröffentlicht sie einen Song nach dem anderen. „Mona Lisa Motion“ vom Mä…
2025 erreichte in Deutschland Platz 9 der Singlecharts, „Zahide Did It
Better“ landete auf Platz 15. Die Tanzschule wird seitdem regelmäßig von
Fans überrannt, Zahide selbst singt: „200 campen vor der Tanzschule.“
## Mit wenigen Videos zum Ruhm
Auch andere Tiktoker feiern Zahide: [3][Der Moabiter Rapper Apsilon]
(apsilon21) postete auf Tiktok ein Tanzvideo zu „Zahide Did It Better“ und
kommentierte: „Late to the Party aber vallah stark“. Nicht alle sind so
begeistert: Auf Tiktok wird ihr vorgeworfen, Beats vom Rapper Pashanim zu
kopieren.
[4][Pashanim] (blockboycan) äußerte sich dazu nicht. Der sorgt in Berlin
selbst mit seinen Tiktoks für Aufruhr. Seitdem der 24-jährige das Video zu
seinem Track „Hauseingang“ in einem Hauseingang in der Nähe des Mehringdamm
drehte, ist daraus über Nacht eine Pilgerstätte für seine Tiktok-Fans
geworden.
Rund 100 Fans strömen jeden Tag dorthin, taggen an die Fassade: „Pasha“,
„amore çok“ oder „Pasha wir lieben dich. Sie filmen sich dort beim Rappen
seiner Texte und posten das wiederum wo? Na klar, auf Tiktok. Die
Hausverwaltung hat inzwischen mehr als 25.000 Euro für die
Graffiti-Beseitigung gezahlt, erste Anwohner*innen ziehen aus, weil es
ihnen mit all den Fans zu laut ist
Dass Tiktok immer häufiger vom Netz auf die Straße schwappt, zeigte sich
auch in der Nacht auf Freitag als hunderte Fans, teilweise bereits seit dem
Vorabend, am Alexa auf die Eröffnung eines Pop-up-Stores für
[5][Labubu-Puppen] warteten. Die Plüschfiguren aus der Bilderbuchreihe „The
Monsters“ haben auf Tiktok einen derartigen Hype erzeugt, dass Fans bereit
sind, selbst vierstellige Summen für sie zu bezahlen.
## Von Gefahren und Geschäften
Was auf Tiktok viral geht, hat Auswirkungen – kaum verwunderlich angesichts
von 25 Millionen monatlichen Nutzer:innen bundesweit, die meisten davon
unter 40 Jahren, 60 Prozent von ihnen weiblich. abei ist die Videoplattform
des chinesischen Technologiekonzerns ByteDance zweifelsohne mit allerhand
Gefahren verbunden: Problematisches Konsumverhalten vor allem von
Jugendlichen, auf Provokationen zielende Algorithmen und mangelhafte
Content-Moderation.
Erst vergangene Woche [6][streikten Angestellte aus Tiktoks
Deutschland-Zentrale in der Stralauer Allee gegen ihre bevorstehende
Entlassung]. An ihrer Stelle sollen künftig Billig-Arbeiter:innen im
Ausland, vor allem aber die KI entscheiden, was auf der Plattform erlaubt
ist und was nicht. All das ändert derweil nichts daran, dass Tiktok zum
globalen Wirtschaftsfaktor geworden ist. Immer öfter zeigt sich das auch im
Berliner Stadtbild.
Wenn sich vor Läden und Restaurants ellenlange Schlangen bilden, ist das
vermutlich einem Trend auf der Plattform zu verdanken. Ein Paradebeispiel
ist der Waffelladen „Wonder Waffel“ in der Mall of Berlin. Fast 100
Millionen Aufrufe auf ihre Tiktoks sind als Werbemaßnahme durch nichts zu
ersetzen. Und während [7][Mustafas Gemüse Döner] noch vom
Lonely-Planet-Publikum zehrt, rennen junge Tourist:innen längst dem
Gemüser-Döner von Zagros in der Skalitzer Straße die Bude ein.
Doch auch für ernsthafte Themen wird Tiktok erfolgreich genutzt. Ein Aufruf
in einem Neuköllner Späti, Bargeld gegen Lebensmittelgutscheine zu tauschen
und damit Geflüchteten aus den Zwängen der Bezahlkarte zu helfen, wurde
nicht nur fast 100.000 mal angesehen, sondern führte auch dazu, dass alle
Gutscheine schon am ersten Abend getauscht waren.
## Die Politik kommt nicht mehr dran vorbei
Dass Tiktok inhaltlich weitaus mehr ist als Tanzen und Popkultur zeigte
sich schon beim vergangenen Bundestagswahlkampf. [8][Hier schoss Heidi
Reichinneks Brandmauer-Rede durch die Decke] und zog hunderttausende vor
allem junge Wähler:innen zur Linken. Viele hinterließen nicht nur
Herzen, sondern fanden auch den Weg in die Partei. Die neuen Mitglieder
sind mehrheitlich unter 35 und weiblich. Für die Abgeordnetenhauswahl im
kommenden Jahr bedeutet das: Auch in Berlin können Wahlen auf Tiktok
gewonnen werden – oder verloren.
Im Zeitalter der Personalisierung, die Politik und soziale Medien
gleichermaßen erfasst hat, sind es vor allem Einzelpersonen, die den
Unterschied machen können. [9][Der Neuköllner Linke Ferat Kocak] zeigt mit
mehr als 5 Millionen Likes, wie Politik zielgruppengerecht aufgearbeitet
wird. Mit Videos von Bundestagsreden unter dem Titel „Mashallah“ bis
Lipsync-Videos von Zahide, also dem synchronen Bewegen der Lippen zu einem
Audio, trifft er den Ton, besser als alle anderen Berliner Politiker:innen.
Wer Street- beziehungsweise Netz-Credibility nur vortäuscht, scheitert.
Franziska Giffeys meist gesehenes Video zeigt sie bei der Eröffnung eines
Kuchenbasars – unterlegt mit einem Song von Pashanim. Erfolgreich wurde es
aber nur durch ein Repost des Rappers, versehen mit dem Text: „Wählt diese
Flaschen bitte nicht.“
Dabei ist es ausgerechnet die alte Tante SPD, die im Vergleich der Accounts
der Landesparteien noch am besten abschneidet. Allerdings erzielt sie mit
12.000 Followern und insgesamt 100.000 Likes nicht annähernd die Reichweite
wie ein x-beliebiges Döner-Test-Video. Über die Popularität der Accounts
von Linken, CDU und Grünen legt man besser gleich den Mantel des
Schweigens.
## Ein Swipe von der AfD zu militanten Nazis
Erfolgreicher ist da die AfD, die erste Partei, die die Bedeutung von
Tiktok verstanden und entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen
dafür zur Verfügung gestellt hat.
Mit mehr als 30.000 Followern hat etwa die AfD Marzahn mehr Gefolgschaft
als alle anderen Parteien-Accounts zusammen. Ein eher unscheinbarer
Abgeordneter wie Tommy Tabor schafft es mit dem Geraune von Anschlagsplänen
auf Parteichefin Alice Weidel schon mal auf eine halbe Million Views – auch
weil der polarisierende Content vom Plattform-Algorithmus goutiert wird.
Bei der rechtsextremen Partei angelangt, ist der Weg zu Neonazi-Inhalten
nur noch einen Wisch entfernt. Da werben dann die neuen subkulturellen
Neonazigruppen mit Mob-Bildern um neue Anhänger und versuchen, „Ostmullen“
mit Reichsadler-Fahnen im Hintergrund und Landser-Songs auf den Lippen,
neonazistische Ästhetik und das dahinterstehende Gedankengut trendy zu
machen.
Neonazi-Gruppen wie die Deutsche Jugend Voran (DJV) tauchten zunächst in
sozialen Netzwerken wie Tiktok auf und fanden dann erst ihren Weg auf die
Straßen, wie auch am Samstag bei einer Kundgebung gegen den Berliner CSD.
Auch die Sicherheitsbehörden beobachten die Radikalisierung, die auf Tiktok
ungebremst stattfinden kann. [10][Der Berliner Verfassungsschutz schuf
kürzlich einen neuen zu beobachtenden Phänomenbereich: gewaltorientierte
rechtsextremistische Netzkulturen].
Doch der dystopische Blick auf Tiktok allein hilft nicht weiter: Vielmehr
geht es darum, die Vielfalt Berliner Lebensrealtitäten, die sich dort
abspielt, in den Blick zu nehmen und die Bedeutung für die Stadt
aufzuzeigen. Wir tun das künftig mit unserer Serie [11][„Berlin tokt“].
27 Jul 2025
## LINKS
[1] /Social-Media-Hype/!6103786
[2] /Bekannte-Influencerin-Zahide/!6089075
[3] /Debuetalbum-von-Apsilon/!6041656
[4] /Neues-Album-2000-von-Pashanim/!6016942
[5] /TikTok-Hype-um-die-Monsterpuppe-Labubu/!6090140
[6] /Streik-bei-TikTok-in-Berlin-Darum-legen-Content-Moderatoren-die-Arbeit-nie…
[7] /Mustafas-Gemuese-Kebap/!6096086
[8] /Social-Media-Star-im-Bundestagswahlkampf/!6066677
[9] /Wahlkampfkampagne-fuer-Linken-Kandidaten/!6065601
[10] /VS-Berlin-stuft-DJV-als-rechtsextrem-ein/!6084428
[11] /Berlin-tokt/!t6103804
## AUTOREN
Erik Peter
Lilly Schröder
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