# taz.de -- Roman von Charlotte Runcie: Tod eines Kritikers | |
> #MeToo und Cancel Culture: Charlotte Runcie nimmt in „Standing Ovations“ | |
> die Machtdynamiken zwischen Kunst und Kritik in den Blick. | |
Bild: Menschen hinter Kunst und Kritik im Fokus: Die Handlung des Romans verlä… | |
Der Starkritiker Alex Lyons hat nur 45 Minuten gebraucht, um die Comedyshow | |
von Haley Sinclair zu verreißen. Als Sinclair die Kritik am nächsten Morgen | |
liest, ist ihr klar: Ihre Karriere als Comedystar ist beendet, bevor sie | |
überhaupt angefangen hat. Die zweite Erkenntnis trifft sie noch härter: Mit | |
dem Typen, der sie in diesem Text so gnadenlos niedergemacht hat, hat sie | |
gerade die Nacht verbracht. | |
Haley rächt sich. Sie benennt ihre Show in „The Alex Lyons Experience“ um, | |
erzählt von ihrem Erlebnis und lädt andere Frauen ein, ihre Geschichten zu | |
teilen. Die Show wird ein Hit, der Livestream geht viral, und Alex, eben | |
noch gefeierter Kritiker, wird zum Symbol männlicher Arroganz und | |
moralischer Orientierungslosigkeit. | |
Das ist die Versuchsanordnung, die die britische Kritikerin und Autorin | |
Charlotte Runcie gleich zu Beginn ihres Debütromans „Standing Ovations“ | |
entwirft, um in der folgenden Handlung Themen wie Macht, Moral und | |
Verantwortung zu untersuchen. Ihre Sprache dafür ist präzise und pointiert, | |
die Handlung des Romans verläuft chronologisch, wird aber von Reflexionen | |
und Erinnerungen unterbrochen. | |
Runcie gelingt es, beide Seiten der Debatte um „Cancel Culture“ und „MeTo… | |
zu beleuchten, ohne einfache Antworten zu liefern. Ihr Kunstgriff: Sie | |
rückt die Menschen hinter Kunst und Kritik in den Fokus – mit glaubhaft | |
gestalteten Figuren mit Abgründen und Eitelkeiten, aber auch mit Humor. | |
## Keine neutrale Erzählerin | |
Dazu kommt ein weiterer Kniff: Sie schaltet eine scheinbar neutrale | |
Beobachterin zwischen den Leser und die oben beschriebenen Ereignisse. Denn | |
erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Sophie Rigden, Alex’ | |
Kollegin. Die, wenn auch nicht direkt in den Skandal um Alex eingebunden, | |
natürlich alles andere als neutral ist. | |
Als „Junior Culture Writer“ arbeitet sie in einer sehr viel weniger | |
privilegierten Situation als Alex. Sie ist unterbezahlt, bekommt wenig | |
Anerkennung, und ist – im Gegensatz zu Alex – voller Selbstzweifel: | |
„Vielleicht war ich langweilig. Vielleicht ging es mir wirklich mehr darum, | |
dass die Leute mir zustimmten, als um das Schreiben. “ | |
Dazu kommen private Probleme. Sophie, gerade aus dem Mutterschutz zurück, | |
kämpft mit dem Verlust ihrer Mutter und einer Beziehungskrise. All das | |
lässt sie Alex’ Absturz mit einer Mischung aus Distanz, Mitgefühl und | |
Unsicherheit beobachten. | |
Alex wiederum, Sohn einer berühmten Schauspielerin, bleibt im Schatten | |
seiner charismatischen Mutter und gefangen in männlicher | |
Selbstüberschätzung. Obwohl er Haleys Botschaft zu verstehen scheint, | |
weigert er sich, klein beizugeben. Seine „aufgewühlte Frustration“, sagt | |
Sophie, zeigt, dass er insgeheim weiterhin glaubt, nicht völlig im Unrecht | |
zu sein. | |
## Ein Festival als Protagonist | |
Auch Haley, die scheinbare Gewinnerin, hadert. Sie kämpft mit der | |
Verletzung, die Alex ihr zugefügt hat, und mit der Verantwortung, die ihr | |
neuer Status als Heldin mit sich bringt. Albträume plagen sie, in denen sie | |
auf offener Bühne Sex mit Alex hat. Zudem bleibt sie verschuldet: Die | |
Einnahmen ihrer Blockbustershow fließen komplett an den Veranstalter. | |
Runcies Roman hat aber auch noch einen anderen Protagonisten: Das Edinburgh | |
Festival Fringe, in dessen Rahmen sich die Handlung entfaltet, prägt die | |
Dynamik des Romans wesentlich mit. | |
Als größtes Kulturfestival der Welt zieht es jeden Sommer Tausende Künstler | |
an, die auf den großen Durchbruch hoffen. Seine menschliche Dichte und | |
Präsenz bilden einen Gegenpol zur digitalen Flüchtigkeit eines Shitstorms. | |
Hier begegnen sich die Protagonisten immer wieder, werden erkannt und | |
direkt mit der öffentlichen Meinung konfrontiert. | |
Runcie, selbst jahrelang als Kritikerin auf dem Fringe unterwegs, kennt die | |
aufgeladene Atmosphäre. Einmal wurde sie sogar Ziel einer Comedynummer – | |
eine Erfahrung, die sie zu „Standing Ovations“ inspirierte, wie sie der | |
Zeitung The Scotsman erzählte. | |
## Wer hat nun gewonnen? | |
Am Ende von „Standing Ovations“ bleibt offen, wer wirklich gewinnt – oder | |
ob es in diesem Spiel zwischen Beurteilung und Sein überhaupt Sieger geben | |
kann. Runcie zeigt, dass Lob und Verrisse nur einen Bruchteil einer Person | |
erfassen. Jede Kritik, jeder Shitstorm, jeder Übergriff trifft einen | |
Menschen, der mit den Folgen leben muss. | |
Mancher mag sich mit dieser Thematik an [1][den Hundekot-Skandal an der | |
Oper Hannover vor gut zwei Jahren] erinnert fühlen. Damals schmierte der | |
Choreograf Marco Goecke der Kritikerin Wiebke Hüster während einer | |
Aufführungspause Hundekot ins Gesicht. Ein geschmackloser, misogyner und | |
erschreckend dummer Versuch, die Machtdynamik zwischen Kunst und Kritik | |
umzudrehen. | |
Dass es auch klüger und konstruktiver geht, zeigt Charlotte Runcies Roman. | |
10 Jul 2025 | |
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[1] /Nach-Hundekot-Angriff-an-der-Staatsoper/!5912544 | |
## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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