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# taz.de -- Psychologische Hilfe für Geflüchtete: Der Seelenheiler
> Auf seiner Flucht aus Syrien hat Muhannad Taha Schreckliches erlebt.
> Heute hilft er als Psychologe anderen Geflüchteten. Doch die Finanzierung
> ist schwierig.
Bild: Zuhören, nachfragen, verstehen: Muhannad Taha will denen helfen, die wen…
Manchmal fühlt Muhannad Taha sich schuldig. Besonders dann, wenn der
Mensch, der seine Hilfe sucht, aus seiner Heimatstadt Aleppo kommt. „Du
bist wie ich“, denkt er dann. „Warum hatte ich so viel Glück? Wieso sitze
ich hier und du da?“
Glück, damit meint Muhannad, dass er nach seiner Flucht aus Syrien im
Frühsommer 2015 nur ein paar Wochen im [1][Erstaufnahmelager in
Eisenhüttenstadt] bleiben musste. Dass er bald mit seiner Mutter in eine
eigene Wohnung nach Neuruppin ziehen durfte. Dass sein Englisch gut war und
er deshalb schnell arbeiten konnte. Dass seine ganze Familie heute in
seiner Nähe wohnt. Dass auf seinen Berliner Balkon die Abendsonne scheint
und er inzwischen einen deutschen Pass hat. Dass er Psychologie studieren
konnte, so wie er wollte.
Muhannad, 34 Jahre alt, ist jemand, der überlegt, bevor er spricht, sich zu
seinem Gegenüber beugt, wenn er zuhört. Jemand, der jeden Morgen nach dem
Aufstehen eiskalt duscht. „Dann bist du für alles vorbereitet, der Tag kann
dich nicht mehr schockieren“, sagt er. Neben seiner Ausbildung als
psychologischer Psychotherapeut arbeitet er auch als Sprachmittler,
begleitet seit 2016 Geflüchtete bei Arztbesuchen und Therapiesitzungen.
An einem Mittwochnachmittag baut Muhannad in einem kleinen Raum in einer
Unterkunft für Asylbewerber*innen einen Stuhlkreis auf. Das Haus im
Norden von Berlin hat sechs Stockwerke, ist grau verputzt, mit einem
Treppenhaus aus Glasbausteinen. 258 Personen sind hier zur Zeit
untergebracht, 82 von ihnen minderjährig. Die meisten kommen aus
Afghanistan, der Türkei oder aus Syrien.
## Safe Space im Stuhlkreis
Auf der anderen Straßenseite ist ein großer Spielplatz. Die Kinder, die
hier spielen, verständigen sich mit einem Mix aus Deutsch, Vietnamesisch,
Farsi und Arabisch. Drinnen hängen bunte Skulpturen aus Pappmaché von der
Decke, an den Wänden Bilder von Biene Maja. Ein Puppenhaus und Playmobil
stehen in der Ecke. Hier üben die geflüchteten Kinder sonst Deutsch und
lernen schreiben und rechnen.
Das Klassenzimmer ist ein geschützter Raum – heute für geflüchtete Männer.
In der Unterkunft leben 203 männliche Geflüchtete und 55 weibliche. Gleich
findet eine Gesprächsrunde statt, mit psychologischer und ärztlicher
Begleitung. Muhannad ist als Psychologe hier, und um bei medizinischen
Fragen für seinen Kollegen, den Psychiater Sebastian, zu übersetzen.
Während die beiden das Kabel für ihren Beamer suchen, füllt sich der Raum.
Nach und nach kommen elf Männer in den Raum, murmeln ein leises „Hallo“ und
setzen sich schweigend in den Stuhlkreis zwischen den bunten
Kinderzeichnungen. Manche verschränken die Arme und blicken Sebastian und
Muhannad erwartungsvoll an.
Die Männerrunde ist ein neues Projekt der Berliner Charité, ein ähnliches
Angebot für geflüchtete Frauen gibt es schon länger. In den Gesprächsrunden
geht es um Gefühle, über die Männer oder Frauen vielleicht verschieden
sprechen wollen, um geschlechtsspezifische Gesundheitsthemen, um
Sexualität. Die Frauen oder Männer sollen sich hier sicher fühlen,
schwierige Themen anzusprechen, und Vertrauen zu den Behandelnden fassen
können.
Alle drei bis vier Monate besuchen Muhannad und seine Kolleg*innen
unterschiedliche Berliner Geflüchtetenunterkünfte. Das soll eine große
Versorgungslücke etwas kleiner machen. Denn in Deutschland haben
Geflüchtete erst nach drei Jahren Zugang zum regulären Gesundheitssystem.
Davor werden nur akute Krankheiten und Schmerzzustände behandelt, und
psychische Krankheiten nur in den seltensten Fällen. Das heißt, auch
Geflüchtete, die Folter und Gewalt erlebt haben, traumatische
Fluchterfahrungen hinter sich haben, bekommen fast nie die Hilfe, die sie
brauchen.
## Wo bekommt man Hilfe?
Gerade einmal 3,3 Prozent von ihnen erhielten 2023 eine angemessene
Therapie, wie ein [2][Bericht der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der
Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge] und Folteropfer zeigt. Dabei hat
etwa ein Drittel der Geflüchteten wegen Traumata psychische Probleme.
Manche von ihnen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, also
eine verzögerte psychische Reaktion auf ein oder mehrere extrem belastende
Ereignisse, mit Flashbacks, Albträumen, Schlafstörungen und quälenden
Erinnerungen.
Im Klassenzimmer erklären Sebastian und Muhannad den Männern zuerst das
deutsche Gesundheitssystem: Wo bekommt man Hilfe? Wann geht man zum
Hausarzt, wann ins Krankenhaus, was ist ein Notfall? Und was eine
psychische Krankheit? Und sie hören zu. Die Männer können hier auch über
Sexualität sprechen, manchmal geht es zum Beispiel um Erektionsprobleme,
sagt Muhannad. Oder über ihre Gefühle, über Angst, Wut, Trauer,
Perspektivlosigkeit und oder einfach Langeweile. Nach der Gruppensitzung
bieten Muhannad und Sebastian Einzeltermine an, wenn die Männer Anliegen
haben, die sie nicht vor den anderen besprechen wollen. Oder sie vermitteln
weiter, an Sozialarbeiter*innen oder im Notfall auch an
Spezialist*innen.
Zur Gesprächsrunde ist auch Uthman al-Hassan, 48, gekommen. Er trägt
Sportschuhe und Trainingsjacke, ist akkurat frisiert und rasiert. In seiner
Heimatstadt Raqqah im Norden von Syrien hat er in einer Molkerei Käse
gemacht. Auch jetzt würde er gerne arbeiten, vielleicht als Altenpfleger,
erzählt er. Aber sein Leben ist im Stillstand, seit er vor eineinhalb
Jahren in Berlin angekommen ist, zu seinem Sohn, der schon vorher geflohen
war. Sie können nicht zurück, Syrien ist noch immer unsicher. Aber sie
können auch nicht ankommen: Uthmans Gedanken kreisen ständig um seine
Tochter, seinen anderen Sohn, seine Frau, die er zurücklassen musste.
Nach der Gesprächsrunde bittet Uthman um einen Einzeltermin. In der Mitte
des leeren Klassenzimmers stellen Sebastian und Muhannad drei Stühle
zusammen und setzen sich Uthman gegenüber. Er beginnt zu sprechen, auf
Arabisch. Muhannad blickt ihm aufmerksam ins Gesicht, stellt ein paar
Nachfragen, einzelne Wörter notiert er auf ein Blatt Papier. Dann dreht er
sich zu Sebastian und übersetzt, fließend, schnell und so genau wie
möglich. Beim Sprechen übernimmt er Uthmans Position: „Ich habe ein
Problem“, fängt er an und legt wie Uthman kurz zuvor die Hand an seinen
Hals und auf seine Brust: „Da ist etwas mit meinem Herzen.“
## „Was Du erlebst hast, ist nicht banal“
Als eine Enge, einen Schmerz, die ihm Angst machen, beschreibt Muhannad das
Gefühl für Uthman. Er habe das schon mal gespürt, als seine Eltern
gestorben sind, bei einem Erdbeben in Syrien. Vor ein paar Tagen aber, da
kam das Gefühl einfach so, es war eigentlich eine Kleinigkeit: Ein Junge
aus der Unterkunft habe ihn beleidigt. Da war es wieder: der Druck im
Brustkorb, die Luftnot, die sich anfühlt, als müsse man sterben. Dabei war
das eine Banalität, sagt Muhannad für Uthman, der mit den Achseln zuckt,
und inzwischen habe er sich mit dem Jungen vertragen.
„Uthman, was du erlebt hast, ist keine Banalität“, antwortet Sebastian und
zählt auf: „Du hast beide Eltern verloren, du hast die Flucht hinter dir,
lebst in einem fremden Land, hast Sorgen um deine Familie.“ Das sei alles
großer Stress. Muhannad übersetzt, Uthman nickt. Manchmal drücke der Körper
aus, dass etwas zu viel ist, erklärt Sebastian, bevor der Geist das kann.
Mit Atemnot, Druckgefühlen und Schwitzen spricht der Körper dann. Uthman
nickt wieder, das plötzliche Schwitzen kennt er auch. „Aber ich mache mir
Sorgen, dass der Druck einmal zu viel wird und mein Herz aufhört zu
schlagen.“
Wie ein Fass, das schon sehr voll ist, beschreibt es Sebastian für Uthman:
Die Unsicherheit, die Sorge um die Familie, die Fluchterfahrungen. Zum
Überlaufen könne alles führen, eine vermeintliche Kleinigkeit, ein dummer
Spruch. Muhannad übersetzt, formt mit seinen Händen für Uthman das Fass,
zeigt, wie es mit einem Schwung überläuft.
Auf Uthmans Gesicht breitet sich langsam ein Lächeln aus. Er ist
erleichtert, dass die Enge in seiner Brust nicht so gefährlich ist, wie sie
sich anfühlt. Uthman brauche einen Ausgleich, meint Sebastian, empfiehlt
ihm Sport und zur Sicherheit noch ein EKG, um körperliche Probleme ganz
auszuschließen – aber viel mehr können Muhannad und Sebastian erst mal
nicht machen. Uthman wird weiter warten, die Sorgen und Unsicherheit werden
bleiben.
## Knappe Mittel werden weiter gekürzt
Wenn Geflüchtete langfristig psychologische Hilfe brauchen, dann springen
oft die psychosozialen Zentren ein. In Berlin ist es in vielen Fällen das
Zentrum Überleben. Der Bedarf sei allerdings größer als die Zahl der
Plätze, sagt Katrin Boztepe. Sie arbeitet hier als psychologische
Psychotherapeutin. Immer wieder muss das Zentrum um Geld kämpfen, Spenden
sammeln, Projektanträge stellen.
Die Bundesregierung hat beschlossen, im neuen Haushalt die ohnehin schon
knappen Mittel erneut zu kürzen. 2023 hatte der Bund noch 17 Millionen Euro
für alle Zentren bereitgestellt, jetzt sollen es nur noch rund 11 Millionen
Euro sein. Die Menschen, die im Zentrum Überleben behandelt werden,
brauchen in der Regel Sprachmittlung. Die ist aber nicht gesetzlich
verankert und muss immer zusätzlich finanziert werden.
„Unsere Patient*innen haben oft mehrere traumatische Erfahrungen
gemacht“, sagt Boztepe. Sie seien Überlebende von Gewalt und Folter, von
Krieg, Verfolgung und Haft. Sie hätten immer wieder
Menschenrechtsverletzungen erlebt, im Herkunftsland, auf der Flucht, an
Grenzübergängen, von staatlichen und parastaatlichen Kräften. „Und wenn sie
in Deutschland ankommen, ist lange nicht alles gut“, sagt Boztepe. Oft
müssen Geflüchtete monate- oder jahrelang in Unterkünften bleiben. Dann sei
da der Stress, die Unsicherheit, das Warten, die Perspektivlosigkeit, viele
erleben Rassismus. Viele haben außerdem kaum Geld, weil sie auf staatliche
Leistungen angewiesen sind, solange sie keine Arbeitserlaubnis haben.
„Das alles steht auch der Heilung im Weg“, sagt Boztepe. Denn um eine
posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, braucht es Sicherheit,
Stabilität und die Möglichkeit, Selbstfürsorge zu betreiben. Der bewährte
Weg, Traumata zu therapieren, sei, sie zu konfrontieren. „Aber kann ich das
guten Gewissens machen, wenn ich die Patient*innen danach zurück in die
Unterkunft schicke, wo sie keinen privaten Rückzugsraum haben, um
Besprochenes zu reflektieren und wirken zu lassen?“, fragt sich Boztepe
regelmäßig.
## „In Syrien können wir nicht bleiben“
Für Muhannad war manches anders, daher kommt das Schuldgefühl, das ihm
regelmäßig begegnet. Das Gefühl kann aber auch ein Symptom einer
posttraumatischen Belastungsstörung sein. In der Psychologie heißt es
„Survivor’s Guilt“, die Schuld der Überlebenden. Denn auch Muhannad hat …
der Flucht Traumatisches erlebt.
Es ist 2015. Muhannad, damals 23 Jahre alt, lebt in Aleppo ein ziemlich
normales Leben. Er ist gerne mit Freunden unterwegs, macht ein bisschen
Sport, will vielleicht Maschinenbau studieren. Er kommt aus einem
Akademikerhaushalt, seine Eltern arbeiten an der Universität. Aber während
er erwachsen wird, verändert sich die Stadt um ihn herum. Es liegt etwas in
der Luft, das merkt man überall. Schüler werden festgenommen, weil sie an
Häuserwände Sprüche gegen das Regime gekritzelt haben, es heißt, dass sie
gefoltert werden.
Muhannads Großvater ruft ein Familientreffen ein. „Hier können wir nicht
bleiben, was machen wir jetzt?“, fragt er. Die Familie entscheidet, dass
Muhannad sich mit seiner Mutter auf den Weg machen soll. Sie wollen nach
Deutschland, denn dort leben schon zwei Geschwister. Ein Bruder studiert in
Berlin. Aber der Weg von Muhannad und seiner Mutter ist schwieriger als die
Reise seiner Geschwister mit einem Studentenvisum. Um sie herum beginnt
gerade der syrische Bürgerkrieg und Regeln zerfallen in Willkür und Gewalt.
Die Flucht dauert etwa 3 Wochen. Muhannad und seine Mutter fahren erst Bus,
dann Zug. Türkische Schlepper schicken sie mit dem Schlauchboot übers
Mittelmeer. Sie finden Mitfahrgelegenheiten, laufen zu Fuß, mitten in der
Nacht durch den serbischen Wald. Immer wieder fühlen sie sich auf der
Flucht ausgeliefert. Es gibt Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, in
denen alles schiefgehen könnte. Aber vorerst haben sie Glück: Die
Grenzbeamten lassen sie aus Syrien ausreisen. Das überfüllte Schlauchboot
sinkt nicht. Sie schaffen es durch den Wald.
## In Ungarn gefasst
Doch kurz vor dem Ziel passiert etwas, das sie unbedingt vermeiden wollten:
Muhannad und seine Mutter werden in Ungarn von Grenzbeamten gefasst. Ihre
Fingerabdrücke werden genommen, jetzt sind ihre Daten im System. Wegen der
europäischen Dublin-Regeln dürfen sie nun nur noch in Ungarn Asyl
beantragen. Hier sind die Bedingungen für Geflüchtete extrem schlecht.
Menschenrechtsverletzungen sind Alltag, das wissen auch Muhannad und seine
Mutter.
Nachdem sie ihre Daten aufgenommen haben, lassen die Grenzbeamten die
beiden weiterreisen. Über die Grenze von Ungarn nach Österreich nehmen sie
ein Taxi, weil die selten angehalten werden. Denn sie wissen, dass sie
sofort wieder nach Ungarn geschickt würden, wenn man sie beim Überqueren
der Grenze entdecken würde.
Während der gesamten Fahrt durch die Nacht weint Muhannad vorne neben dem
Fahrer: „Ich habe gedacht, mein Leben ist vorbei. Wir werden wieder
abgeschoben. Alles, was wir schon geschafft haben, war umsonst.“ Trotzdem
fahren sie weiter mit dem Zug nach München. Dort holt der Bruder sie ab, zu
dritt geht es jetzt weiter nach Berlin. Eine Nacht verbringen sie als
Familie in seiner Wohnung. Am nächsten Tag melden sich Muhannad und seine
Mutter beim Sozialamt.
Die Monate danach sind als „Flüchtlingssommer“ in die Geschichte
eingegangen. Innerhalb weniger Monate kommen mehr als eine Million
Geflüchtete nach Europa, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak. An
einem einzigen Tag im August werden mehr als 4.000 Schiffbrüchige im
Mittelmeer lebend geborgen. [3][Angela Merkel] sagt „Wir schaffen das“ und
die Regierung entscheidet, Abschiebungen in andere EU-Staaten vorerst
auszusetzen. Auch Muhannad darf bleiben.
## Das Trauma geht nicht von alleine weg
Dass er einige Monate früher gekommen ist, habe einen großen Unterschied
gemacht, glaubt Muhannad. Das System, auf das sie treffen, ist noch nicht
so überlastet, wie später. Im Brandenburgischen Neuruppin, wo sie eine
Wohnung bekommen, kümmern sich Sozialarbeiter*innen um die beiden.
Muhannad findet Freund*innen, die mit ihm Englisch sprechen und ihm helfen,
sich im deutschen System zurechtzufinden. Er fängt an zu arbeiten, plant
seine Zukunft. Zurück denkt er erst mal nicht. Mit seinem Leben in
Deutschland ist er ausreichend beschäftigt.
Ungefähr eineinhalb Jahre dauert es, bis die Albträume kommen. In seinen
Nächten wird Muhannad jetzt gejagt, manchmal festgenommen. Wenn er
aufwacht, rast sein Herz. Einmal hört seine Mutter ihn im Schlaf schreien.
Ein Freund, der Psychotherapeut ist, sagt ihm: „Das ist ein Trauma, du
musst dich darum kümmern, das geht nicht von alleine weg.“ Muhannad glaubt
ihm erst nicht, versucht sich mit Filmen und Fernsehen abzulenken. Aber auf
Dauer klappt das nicht. Muhannad macht nun doch einige Termine aus: Er
findet eine Gruppentherapie und eine Therapeutin, die mit ihm seine
Traumata konfrontieren und das Sprechen über Gefühle üben. Mehrere Jahre
ist er in Behandlung.
Das alles hilft, nach und nach geht es Muhannad besser. Für ihn war es
leichter, die notwendige Behandlung zu bekommen, als für viele andere:
Muhannad durfte arbeiten und hatte deshalb auch eine reguläre
Krankenversicherung. Bis 2023 mussten Geflüchtete außerdem nur 18 Monate
warten, bis sie Anspruch auf reguläre Behandlungen erhielten – heute sind
es 3 Jahre.
Muhannad beschäftigt seine Flucht jetzt nur noch selten. Und er ist selbst
Psychologe geworden. Den Beruf hat er sich auch wegen seiner Erfahrungen
als Sprachmittler ausgesucht. Bei therapeutischen Sitzungen merkt er
nämlich manchmal, dass die deutschen Therapeut*innen auf eine Art
fragen, die er nicht ganz passend findet. „So würde man es bei uns nicht
formulieren, so fragt man das nicht“, denkt er. Psychotherapie ist etwas
Kulturelles, stellt er fest, und entschließt sich, selbst diesen Beruf zu
ergreifen.
## „Meine Kinder weinen“
Vieles ist jetzt wie früher, als Muhannad in Aleppo lebte: Nach der Arbeit
trifft er seine Freunde, geht zum Sport oder kocht syrisches Essen.
Inzwischen aber vegetarisch, so gut das eben geht. Als am 8. Dezember 2024
in [4][Syrien das Assad-Regime] fällt, ist das für Muhannad überwältigend.
Zehn Jahre lang konnte er nicht mehr in sein Heimatland. „Es ist, als wärst
du jahrelang in einem verschlossenen Raum gewesen. Und jetzt ist nicht
einfach eine Tür aufgegangen, es sind alle Wände weg“, beschreibt er das.
Mit einigen syrisch-deutschen Psycholog*innen und Ärzt*innen sucht er
jetzt eine Möglichkeit, Syrer*innen auszubilden – erst mal aus der
Ferne, übers Internet. Denn klinische [5][Psycholog*innen gibt es in
Syrien bislang kaum]. Obwohl der Bedarf nach Jahren des Kriegs und Assads
Folterregime riesengroß sein muss, glauben Muhannad und seine Mitstreiter.
Für Uthman ist es anders. Obwohl auch er sich freut, dass Assad jetzt weg
ist, schließen sich für ihn die Türen, auf die er so sehr gehofft hatte.
Deutschland entscheidet wenige Tage nach Assads Sturz, den Familiennachzug
aus Syrien zu stoppen. Und im Juni 2025 beschließt die Bundesregierung, den
[6][Familiennachzug für Menschen unter subsidiärem Schutz] in Deutschland
für zwei Jahre auszusetzen. Das betrifft Uthman – und viele Syrer*innen,
die in Deutschland leben. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn dürfen
erst mal nicht zu ihm kommen. Uthman geht mit anderen Syrer*innen zu
einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude, vor der Brust trägt er ein
Schild. „Meine Kinder weinen“ steht darauf.
Trotzdem hofft und wartet er weiter – auf eine Arbeitserlaubnis, darauf,
dass er aus der Unterkunft ausziehen darf. Er belegt Sprachkurse, lernt
lesen und schreiben, macht ein bisschen Ehrenamt: Müll sammeln, Ausflüge
organisieren, solche Sachen. Manchmal schreibt er Gedichte, die er mit
seiner Deutschlehrerin übersetzt. Und er spielt Schach und Tischtennis mit
den anderen Männern aus der Unterkunft. Nur Fußball traut er sich nicht
mehr zu. Das, glaubt er, macht sein Herz nicht mehr mit.
16 Jul 2025
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[4] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210
[5] /Ein-Syrischer-Arzt-kehrt-zurueck/!6087230
[6] /Familiennachzug-ausgesetzt-/!6096907
## AUTOREN
Luisa Faust
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