| # taz.de -- Psychologische Hilfe für Geflüchtete: Der Seelenheiler | |
| > Auf seiner Flucht aus Syrien hat Muhannad Taha Schreckliches erlebt. | |
| > Heute hilft er als Psychologe anderen Geflüchteten. Doch die Finanzierung | |
| > ist schwierig. | |
| Bild: Zuhören, nachfragen, verstehen: Muhannad Taha will denen helfen, die wen… | |
| Manchmal fühlt Muhannad Taha sich schuldig. Besonders dann, wenn der | |
| Mensch, der seine Hilfe sucht, aus seiner Heimatstadt Aleppo kommt. „Du | |
| bist wie ich“, denkt er dann. „Warum hatte ich so viel Glück? Wieso sitze | |
| ich hier und du da?“ | |
| Glück, damit meint Muhannad, dass er nach seiner Flucht aus Syrien im | |
| Frühsommer 2015 nur ein paar Wochen im [1][Erstaufnahmelager in | |
| Eisenhüttenstadt] bleiben musste. Dass er bald mit seiner Mutter in eine | |
| eigene Wohnung nach Neuruppin ziehen durfte. Dass sein Englisch gut war und | |
| er deshalb schnell arbeiten konnte. Dass seine ganze Familie heute in | |
| seiner Nähe wohnt. Dass auf seinen Berliner Balkon die Abendsonne scheint | |
| und er inzwischen einen deutschen Pass hat. Dass er Psychologie studieren | |
| konnte, so wie er wollte. | |
| Muhannad, 34 Jahre alt, ist jemand, der überlegt, bevor er spricht, sich zu | |
| seinem Gegenüber beugt, wenn er zuhört. Jemand, der jeden Morgen nach dem | |
| Aufstehen eiskalt duscht. „Dann bist du für alles vorbereitet, der Tag kann | |
| dich nicht mehr schockieren“, sagt er. Neben seiner Ausbildung als | |
| psychologischer Psychotherapeut arbeitet er auch als Sprachmittler, | |
| begleitet seit 2016 Geflüchtete bei Arztbesuchen und Therapiesitzungen. | |
| An einem Mittwochnachmittag baut Muhannad in einem kleinen Raum in einer | |
| Unterkunft für Asylbewerber*innen einen Stuhlkreis auf. Das Haus im | |
| Norden von Berlin hat sechs Stockwerke, ist grau verputzt, mit einem | |
| Treppenhaus aus Glasbausteinen. 258 Personen sind hier zur Zeit | |
| untergebracht, 82 von ihnen minderjährig. Die meisten kommen aus | |
| Afghanistan, der Türkei oder aus Syrien. | |
| ## Safe Space im Stuhlkreis | |
| Auf der anderen Straßenseite ist ein großer Spielplatz. Die Kinder, die | |
| hier spielen, verständigen sich mit einem Mix aus Deutsch, Vietnamesisch, | |
| Farsi und Arabisch. Drinnen hängen bunte Skulpturen aus Pappmaché von der | |
| Decke, an den Wänden Bilder von Biene Maja. Ein Puppenhaus und Playmobil | |
| stehen in der Ecke. Hier üben die geflüchteten Kinder sonst Deutsch und | |
| lernen schreiben und rechnen. | |
| Das Klassenzimmer ist ein geschützter Raum – heute für geflüchtete Männer. | |
| In der Unterkunft leben 203 männliche Geflüchtete und 55 weibliche. Gleich | |
| findet eine Gesprächsrunde statt, mit psychologischer und ärztlicher | |
| Begleitung. Muhannad ist als Psychologe hier, und um bei medizinischen | |
| Fragen für seinen Kollegen, den Psychiater Sebastian, zu übersetzen. | |
| Während die beiden das Kabel für ihren Beamer suchen, füllt sich der Raum. | |
| Nach und nach kommen elf Männer in den Raum, murmeln ein leises „Hallo“ und | |
| setzen sich schweigend in den Stuhlkreis zwischen den bunten | |
| Kinderzeichnungen. Manche verschränken die Arme und blicken Sebastian und | |
| Muhannad erwartungsvoll an. | |
| Die Männerrunde ist ein neues Projekt der Berliner Charité, ein ähnliches | |
| Angebot für geflüchtete Frauen gibt es schon länger. In den Gesprächsrunden | |
| geht es um Gefühle, über die Männer oder Frauen vielleicht verschieden | |
| sprechen wollen, um geschlechtsspezifische Gesundheitsthemen, um | |
| Sexualität. Die Frauen oder Männer sollen sich hier sicher fühlen, | |
| schwierige Themen anzusprechen, und Vertrauen zu den Behandelnden fassen | |
| können. | |
| Alle drei bis vier Monate besuchen Muhannad und seine Kolleg*innen | |
| unterschiedliche Berliner Geflüchtetenunterkünfte. Das soll eine große | |
| Versorgungslücke etwas kleiner machen. Denn in Deutschland haben | |
| Geflüchtete erst nach drei Jahren Zugang zum regulären Gesundheitssystem. | |
| Davor werden nur akute Krankheiten und Schmerzzustände behandelt, und | |
| psychische Krankheiten nur in den seltensten Fällen. Das heißt, auch | |
| Geflüchtete, die Folter und Gewalt erlebt haben, traumatische | |
| Fluchterfahrungen hinter sich haben, bekommen fast nie die Hilfe, die sie | |
| brauchen. | |
| ## Wo bekommt man Hilfe? | |
| Gerade einmal 3,3 Prozent von ihnen erhielten 2023 eine angemessene | |
| Therapie, wie ein [2][Bericht der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der | |
| Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge] und Folteropfer zeigt. Dabei hat | |
| etwa ein Drittel der Geflüchteten wegen Traumata psychische Probleme. | |
| Manche von ihnen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, also | |
| eine verzögerte psychische Reaktion auf ein oder mehrere extrem belastende | |
| Ereignisse, mit Flashbacks, Albträumen, Schlafstörungen und quälenden | |
| Erinnerungen. | |
| Im Klassenzimmer erklären Sebastian und Muhannad den Männern zuerst das | |
| deutsche Gesundheitssystem: Wo bekommt man Hilfe? Wann geht man zum | |
| Hausarzt, wann ins Krankenhaus, was ist ein Notfall? Und was eine | |
| psychische Krankheit? Und sie hören zu. Die Männer können hier auch über | |
| Sexualität sprechen, manchmal geht es zum Beispiel um Erektionsprobleme, | |
| sagt Muhannad. Oder über ihre Gefühle, über Angst, Wut, Trauer, | |
| Perspektivlosigkeit und oder einfach Langeweile. Nach der Gruppensitzung | |
| bieten Muhannad und Sebastian Einzeltermine an, wenn die Männer Anliegen | |
| haben, die sie nicht vor den anderen besprechen wollen. Oder sie vermitteln | |
| weiter, an Sozialarbeiter*innen oder im Notfall auch an | |
| Spezialist*innen. | |
| Zur Gesprächsrunde ist auch Uthman al-Hassan, 48, gekommen. Er trägt | |
| Sportschuhe und Trainingsjacke, ist akkurat frisiert und rasiert. In seiner | |
| Heimatstadt Raqqah im Norden von Syrien hat er in einer Molkerei Käse | |
| gemacht. Auch jetzt würde er gerne arbeiten, vielleicht als Altenpfleger, | |
| erzählt er. Aber sein Leben ist im Stillstand, seit er vor eineinhalb | |
| Jahren in Berlin angekommen ist, zu seinem Sohn, der schon vorher geflohen | |
| war. Sie können nicht zurück, Syrien ist noch immer unsicher. Aber sie | |
| können auch nicht ankommen: Uthmans Gedanken kreisen ständig um seine | |
| Tochter, seinen anderen Sohn, seine Frau, die er zurücklassen musste. | |
| Nach der Gesprächsrunde bittet Uthman um einen Einzeltermin. In der Mitte | |
| des leeren Klassenzimmers stellen Sebastian und Muhannad drei Stühle | |
| zusammen und setzen sich Uthman gegenüber. Er beginnt zu sprechen, auf | |
| Arabisch. Muhannad blickt ihm aufmerksam ins Gesicht, stellt ein paar | |
| Nachfragen, einzelne Wörter notiert er auf ein Blatt Papier. Dann dreht er | |
| sich zu Sebastian und übersetzt, fließend, schnell und so genau wie | |
| möglich. Beim Sprechen übernimmt er Uthmans Position: „Ich habe ein | |
| Problem“, fängt er an und legt wie Uthman kurz zuvor die Hand an seinen | |
| Hals und auf seine Brust: „Da ist etwas mit meinem Herzen.“ | |
| ## „Was Du erlebst hast, ist nicht banal“ | |
| Als eine Enge, einen Schmerz, die ihm Angst machen, beschreibt Muhannad das | |
| Gefühl für Uthman. Er habe das schon mal gespürt, als seine Eltern | |
| gestorben sind, bei einem Erdbeben in Syrien. Vor ein paar Tagen aber, da | |
| kam das Gefühl einfach so, es war eigentlich eine Kleinigkeit: Ein Junge | |
| aus der Unterkunft habe ihn beleidigt. Da war es wieder: der Druck im | |
| Brustkorb, die Luftnot, die sich anfühlt, als müsse man sterben. Dabei war | |
| das eine Banalität, sagt Muhannad für Uthman, der mit den Achseln zuckt, | |
| und inzwischen habe er sich mit dem Jungen vertragen. | |
| „Uthman, was du erlebt hast, ist keine Banalität“, antwortet Sebastian und | |
| zählt auf: „Du hast beide Eltern verloren, du hast die Flucht hinter dir, | |
| lebst in einem fremden Land, hast Sorgen um deine Familie.“ Das sei alles | |
| großer Stress. Muhannad übersetzt, Uthman nickt. Manchmal drücke der Körper | |
| aus, dass etwas zu viel ist, erklärt Sebastian, bevor der Geist das kann. | |
| Mit Atemnot, Druckgefühlen und Schwitzen spricht der Körper dann. Uthman | |
| nickt wieder, das plötzliche Schwitzen kennt er auch. „Aber ich mache mir | |
| Sorgen, dass der Druck einmal zu viel wird und mein Herz aufhört zu | |
| schlagen.“ | |
| Wie ein Fass, das schon sehr voll ist, beschreibt es Sebastian für Uthman: | |
| Die Unsicherheit, die Sorge um die Familie, die Fluchterfahrungen. Zum | |
| Überlaufen könne alles führen, eine vermeintliche Kleinigkeit, ein dummer | |
| Spruch. Muhannad übersetzt, formt mit seinen Händen für Uthman das Fass, | |
| zeigt, wie es mit einem Schwung überläuft. | |
| Auf Uthmans Gesicht breitet sich langsam ein Lächeln aus. Er ist | |
| erleichtert, dass die Enge in seiner Brust nicht so gefährlich ist, wie sie | |
| sich anfühlt. Uthman brauche einen Ausgleich, meint Sebastian, empfiehlt | |
| ihm Sport und zur Sicherheit noch ein EKG, um körperliche Probleme ganz | |
| auszuschließen – aber viel mehr können Muhannad und Sebastian erst mal | |
| nicht machen. Uthman wird weiter warten, die Sorgen und Unsicherheit werden | |
| bleiben. | |
| ## Knappe Mittel werden weiter gekürzt | |
| Wenn Geflüchtete langfristig psychologische Hilfe brauchen, dann springen | |
| oft die psychosozialen Zentren ein. In Berlin ist es in vielen Fällen das | |
| Zentrum Überleben. Der Bedarf sei allerdings größer als die Zahl der | |
| Plätze, sagt Katrin Boztepe. Sie arbeitet hier als psychologische | |
| Psychotherapeutin. Immer wieder muss das Zentrum um Geld kämpfen, Spenden | |
| sammeln, Projektanträge stellen. | |
| Die Bundesregierung hat beschlossen, im neuen Haushalt die ohnehin schon | |
| knappen Mittel erneut zu kürzen. 2023 hatte der Bund noch 17 Millionen Euro | |
| für alle Zentren bereitgestellt, jetzt sollen es nur noch rund 11 Millionen | |
| Euro sein. Die Menschen, die im Zentrum Überleben behandelt werden, | |
| brauchen in der Regel Sprachmittlung. Die ist aber nicht gesetzlich | |
| verankert und muss immer zusätzlich finanziert werden. | |
| „Unsere Patient*innen haben oft mehrere traumatische Erfahrungen | |
| gemacht“, sagt Boztepe. Sie seien Überlebende von Gewalt und Folter, von | |
| Krieg, Verfolgung und Haft. Sie hätten immer wieder | |
| Menschenrechtsverletzungen erlebt, im Herkunftsland, auf der Flucht, an | |
| Grenzübergängen, von staatlichen und parastaatlichen Kräften. „Und wenn sie | |
| in Deutschland ankommen, ist lange nicht alles gut“, sagt Boztepe. Oft | |
| müssen Geflüchtete monate- oder jahrelang in Unterkünften bleiben. Dann sei | |
| da der Stress, die Unsicherheit, das Warten, die Perspektivlosigkeit, viele | |
| erleben Rassismus. Viele haben außerdem kaum Geld, weil sie auf staatliche | |
| Leistungen angewiesen sind, solange sie keine Arbeitserlaubnis haben. | |
| „Das alles steht auch der Heilung im Weg“, sagt Boztepe. Denn um eine | |
| posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, braucht es Sicherheit, | |
| Stabilität und die Möglichkeit, Selbstfürsorge zu betreiben. Der bewährte | |
| Weg, Traumata zu therapieren, sei, sie zu konfrontieren. „Aber kann ich das | |
| guten Gewissens machen, wenn ich die Patient*innen danach zurück in die | |
| Unterkunft schicke, wo sie keinen privaten Rückzugsraum haben, um | |
| Besprochenes zu reflektieren und wirken zu lassen?“, fragt sich Boztepe | |
| regelmäßig. | |
| ## „In Syrien können wir nicht bleiben“ | |
| Für Muhannad war manches anders, daher kommt das Schuldgefühl, das ihm | |
| regelmäßig begegnet. Das Gefühl kann aber auch ein Symptom einer | |
| posttraumatischen Belastungsstörung sein. In der Psychologie heißt es | |
| „Survivor’s Guilt“, die Schuld der Überlebenden. Denn auch Muhannad hat … | |
| der Flucht Traumatisches erlebt. | |
| Es ist 2015. Muhannad, damals 23 Jahre alt, lebt in Aleppo ein ziemlich | |
| normales Leben. Er ist gerne mit Freunden unterwegs, macht ein bisschen | |
| Sport, will vielleicht Maschinenbau studieren. Er kommt aus einem | |
| Akademikerhaushalt, seine Eltern arbeiten an der Universität. Aber während | |
| er erwachsen wird, verändert sich die Stadt um ihn herum. Es liegt etwas in | |
| der Luft, das merkt man überall. Schüler werden festgenommen, weil sie an | |
| Häuserwände Sprüche gegen das Regime gekritzelt haben, es heißt, dass sie | |
| gefoltert werden. | |
| Muhannads Großvater ruft ein Familientreffen ein. „Hier können wir nicht | |
| bleiben, was machen wir jetzt?“, fragt er. Die Familie entscheidet, dass | |
| Muhannad sich mit seiner Mutter auf den Weg machen soll. Sie wollen nach | |
| Deutschland, denn dort leben schon zwei Geschwister. Ein Bruder studiert in | |
| Berlin. Aber der Weg von Muhannad und seiner Mutter ist schwieriger als die | |
| Reise seiner Geschwister mit einem Studentenvisum. Um sie herum beginnt | |
| gerade der syrische Bürgerkrieg und Regeln zerfallen in Willkür und Gewalt. | |
| Die Flucht dauert etwa 3 Wochen. Muhannad und seine Mutter fahren erst Bus, | |
| dann Zug. Türkische Schlepper schicken sie mit dem Schlauchboot übers | |
| Mittelmeer. Sie finden Mitfahrgelegenheiten, laufen zu Fuß, mitten in der | |
| Nacht durch den serbischen Wald. Immer wieder fühlen sie sich auf der | |
| Flucht ausgeliefert. Es gibt Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, in | |
| denen alles schiefgehen könnte. Aber vorerst haben sie Glück: Die | |
| Grenzbeamten lassen sie aus Syrien ausreisen. Das überfüllte Schlauchboot | |
| sinkt nicht. Sie schaffen es durch den Wald. | |
| ## In Ungarn gefasst | |
| Doch kurz vor dem Ziel passiert etwas, das sie unbedingt vermeiden wollten: | |
| Muhannad und seine Mutter werden in Ungarn von Grenzbeamten gefasst. Ihre | |
| Fingerabdrücke werden genommen, jetzt sind ihre Daten im System. Wegen der | |
| europäischen Dublin-Regeln dürfen sie nun nur noch in Ungarn Asyl | |
| beantragen. Hier sind die Bedingungen für Geflüchtete extrem schlecht. | |
| Menschenrechtsverletzungen sind Alltag, das wissen auch Muhannad und seine | |
| Mutter. | |
| Nachdem sie ihre Daten aufgenommen haben, lassen die Grenzbeamten die | |
| beiden weiterreisen. Über die Grenze von Ungarn nach Österreich nehmen sie | |
| ein Taxi, weil die selten angehalten werden. Denn sie wissen, dass sie | |
| sofort wieder nach Ungarn geschickt würden, wenn man sie beim Überqueren | |
| der Grenze entdecken würde. | |
| Während der gesamten Fahrt durch die Nacht weint Muhannad vorne neben dem | |
| Fahrer: „Ich habe gedacht, mein Leben ist vorbei. Wir werden wieder | |
| abgeschoben. Alles, was wir schon geschafft haben, war umsonst.“ Trotzdem | |
| fahren sie weiter mit dem Zug nach München. Dort holt der Bruder sie ab, zu | |
| dritt geht es jetzt weiter nach Berlin. Eine Nacht verbringen sie als | |
| Familie in seiner Wohnung. Am nächsten Tag melden sich Muhannad und seine | |
| Mutter beim Sozialamt. | |
| Die Monate danach sind als „Flüchtlingssommer“ in die Geschichte | |
| eingegangen. Innerhalb weniger Monate kommen mehr als eine Million | |
| Geflüchtete nach Europa, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak. An | |
| einem einzigen Tag im August werden mehr als 4.000 Schiffbrüchige im | |
| Mittelmeer lebend geborgen. [3][Angela Merkel] sagt „Wir schaffen das“ und | |
| die Regierung entscheidet, Abschiebungen in andere EU-Staaten vorerst | |
| auszusetzen. Auch Muhannad darf bleiben. | |
| ## Das Trauma geht nicht von alleine weg | |
| Dass er einige Monate früher gekommen ist, habe einen großen Unterschied | |
| gemacht, glaubt Muhannad. Das System, auf das sie treffen, ist noch nicht | |
| so überlastet, wie später. Im Brandenburgischen Neuruppin, wo sie eine | |
| Wohnung bekommen, kümmern sich Sozialarbeiter*innen um die beiden. | |
| Muhannad findet Freund*innen, die mit ihm Englisch sprechen und ihm helfen, | |
| sich im deutschen System zurechtzufinden. Er fängt an zu arbeiten, plant | |
| seine Zukunft. Zurück denkt er erst mal nicht. Mit seinem Leben in | |
| Deutschland ist er ausreichend beschäftigt. | |
| Ungefähr eineinhalb Jahre dauert es, bis die Albträume kommen. In seinen | |
| Nächten wird Muhannad jetzt gejagt, manchmal festgenommen. Wenn er | |
| aufwacht, rast sein Herz. Einmal hört seine Mutter ihn im Schlaf schreien. | |
| Ein Freund, der Psychotherapeut ist, sagt ihm: „Das ist ein Trauma, du | |
| musst dich darum kümmern, das geht nicht von alleine weg.“ Muhannad glaubt | |
| ihm erst nicht, versucht sich mit Filmen und Fernsehen abzulenken. Aber auf | |
| Dauer klappt das nicht. Muhannad macht nun doch einige Termine aus: Er | |
| findet eine Gruppentherapie und eine Therapeutin, die mit ihm seine | |
| Traumata konfrontieren und das Sprechen über Gefühle üben. Mehrere Jahre | |
| ist er in Behandlung. | |
| Das alles hilft, nach und nach geht es Muhannad besser. Für ihn war es | |
| leichter, die notwendige Behandlung zu bekommen, als für viele andere: | |
| Muhannad durfte arbeiten und hatte deshalb auch eine reguläre | |
| Krankenversicherung. Bis 2023 mussten Geflüchtete außerdem nur 18 Monate | |
| warten, bis sie Anspruch auf reguläre Behandlungen erhielten – heute sind | |
| es 3 Jahre. | |
| Muhannad beschäftigt seine Flucht jetzt nur noch selten. Und er ist selbst | |
| Psychologe geworden. Den Beruf hat er sich auch wegen seiner Erfahrungen | |
| als Sprachmittler ausgesucht. Bei therapeutischen Sitzungen merkt er | |
| nämlich manchmal, dass die deutschen Therapeut*innen auf eine Art | |
| fragen, die er nicht ganz passend findet. „So würde man es bei uns nicht | |
| formulieren, so fragt man das nicht“, denkt er. Psychotherapie ist etwas | |
| Kulturelles, stellt er fest, und entschließt sich, selbst diesen Beruf zu | |
| ergreifen. | |
| ## „Meine Kinder weinen“ | |
| Vieles ist jetzt wie früher, als Muhannad in Aleppo lebte: Nach der Arbeit | |
| trifft er seine Freunde, geht zum Sport oder kocht syrisches Essen. | |
| Inzwischen aber vegetarisch, so gut das eben geht. Als am 8. Dezember 2024 | |
| in [4][Syrien das Assad-Regime] fällt, ist das für Muhannad überwältigend. | |
| Zehn Jahre lang konnte er nicht mehr in sein Heimatland. „Es ist, als wärst | |
| du jahrelang in einem verschlossenen Raum gewesen. Und jetzt ist nicht | |
| einfach eine Tür aufgegangen, es sind alle Wände weg“, beschreibt er das. | |
| Mit einigen syrisch-deutschen Psycholog*innen und Ärzt*innen sucht er | |
| jetzt eine Möglichkeit, Syrer*innen auszubilden – erst mal aus der | |
| Ferne, übers Internet. Denn klinische [5][Psycholog*innen gibt es in | |
| Syrien bislang kaum]. Obwohl der Bedarf nach Jahren des Kriegs und Assads | |
| Folterregime riesengroß sein muss, glauben Muhannad und seine Mitstreiter. | |
| Für Uthman ist es anders. Obwohl auch er sich freut, dass Assad jetzt weg | |
| ist, schließen sich für ihn die Türen, auf die er so sehr gehofft hatte. | |
| Deutschland entscheidet wenige Tage nach Assads Sturz, den Familiennachzug | |
| aus Syrien zu stoppen. Und im Juni 2025 beschließt die Bundesregierung, den | |
| [6][Familiennachzug für Menschen unter subsidiärem Schutz] in Deutschland | |
| für zwei Jahre auszusetzen. Das betrifft Uthman – und viele Syrer*innen, | |
| die in Deutschland leben. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn dürfen | |
| erst mal nicht zu ihm kommen. Uthman geht mit anderen Syrer*innen zu | |
| einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude, vor der Brust trägt er ein | |
| Schild. „Meine Kinder weinen“ steht darauf. | |
| Trotzdem hofft und wartet er weiter – auf eine Arbeitserlaubnis, darauf, | |
| dass er aus der Unterkunft ausziehen darf. Er belegt Sprachkurse, lernt | |
| lesen und schreiben, macht ein bisschen Ehrenamt: Müll sammeln, Ausflüge | |
| organisieren, solche Sachen. Manchmal schreibt er Gedichte, die er mit | |
| seiner Deutschlehrerin übersetzt. Und er spielt Schach und Tischtennis mit | |
| den anderen Männern aus der Unterkunft. Nur Fußball traut er sich nicht | |
| mehr zu. Das, glaubt er, macht sein Herz nicht mehr mit. | |
| 16 Jul 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fluechtlingslager-in-Eisenhuettenstadt/!6094971 | |
| [2] https://www.baff-zentren.org/publikationen/versorgungsberichte-der-baff/ | |
| [3] /Kommentar-Fluechtlingspolitik/!5233701 | |
| [4] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210 | |
| [5] /Ein-Syrischer-Arzt-kehrt-zurueck/!6087230 | |
| [6] /Familiennachzug-ausgesetzt-/!6096907 | |
| ## AUTOREN | |
| Luisa Faust | |
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