# taz.de -- Fotoausstellung in Berlin: Vom Zusammenflicken einer Stadt | |
> Als die Möglichkeitsräume wuchsen und die Bauzäune auch: Das Haus am | |
> Kleistpark präsentiert den Blick dreier Fotograf:innen auf Berlin der | |
> 90er Jahre. | |
Bild: Karl-Liebknecht-Straße (1994): Was Stadt ist, driftet weg vom Betrachter… | |
Wenn es ruhig war in der Stadt, die Straßen leer am Sonntagmorgen, kaum | |
Autos, keine Fußgänger, dann war für die Fotografen André Kirchner und | |
Peter Thieme die Zeit gekommen, unterwegs zu sein. Mit ihren | |
Großformatkameras zogen sie los in den 1990er Jahren, angezogen vom Umbau | |
der Stadt, von Brachen und Brandmauern, von der feinen Gliederung alter | |
Fassaden und der Anonymität in den Fensterrastern neu hochschießender | |
Gebäude. | |
Die Fotografin Nelly Rau-Häring, die aus der Schweiz nach Berlin gekommen | |
war und hier vier Jahrzehnte lang fotografierte, liebte den Trubel. Wo | |
Leute zusammenkamen, auf Demos, Paraden, Volksfesten fand sie viele ihrer | |
Motive. | |
Alle drei haben die Veränderungen der Stadt lange begleitet. Ihre | |
gemeinsame Ausstellung im Berliner Haus am Kleistpark konzentriert sich | |
jetzt auf die Neunzigerjahre, die Flickstellen zwischen Ost und West, auf | |
die Versprechen von neuen Gestaltungsmöglichkeiten und die Hartnäckigkeit | |
des Alten. Der Mief der Nachkriegszeit und der raue Charme der | |
Selbstbehauptung auf beiden Seiten der Mauer, er war ja immer präsent. | |
Wer damals schon in Berlin lebte, für den ist die Ausstellung auch ein Fest | |
des Wiedererkennens und Erinnerns. Wer erst später kam, kann vielleicht | |
staunen, wie oft es den Fotografen gelang, im Grauen und Monotonen, an | |
Orten, die nichts Einladendes hatten, um zu verweilen, die ohne Identität | |
und Seele schienen, doch etwas zu entdecken, was die Orte zum Sprechen | |
bringt in ihrer Schwarz-Weiß-Fotografie. | |
## Ecken der Stadt über die Jahre | |
[1][André Kirchner arbeitet in Serien,] nicht selten hat er Straßen und | |
Straßenecken über viele Jahrzehnte verfolgt. In der Serie „Offener Himmel“ | |
liegt der Blickpunkt oft tief, gleitet über Pflaster und betonierte | |
Flächen, bis er auf Gewerbebauten oder Siedlungen trifft, die klein unter | |
dem konturlosen hellen Himmel wirken. | |
Was Stadt ist, driftet weg vom Betrachter, wird zur Randerscheinung, ist | |
nicht mehr das Maß aller Dinge. In einer anderen, hochformatigen | |
Bilderreihe ist der Abstand zu den Fassaden gering, sie verstellen den | |
Blick, erzeugen Enge. Man prallt zurück, bis man in den Details zu lesen | |
beginnt, dem abgestellten Wohnwagen in der Baulücke, den feinen Musterungen | |
in der Backsteinarchitektur historischer Industriebauten, oder den | |
Beschriftungen, die unter bröselnden Fassaden von besseren Zeiten erzählen. | |
Die Mauer war weg, aber jede Menge Bauzaun macht Berlin zu einem | |
unwirtlichen Ort in den Aufnahmen von Peter Thieme. Der Blick geht oft in | |
die Tiefe durch die Straßenschluchten, aber man wird schon beim Hinsehen | |
müde bei der Vorstellung, jetzt an all diesen Ost-Neubauten, Modell | |
historisierende Platte, durch die Friedrichstraße zu laufen. Er zeigt | |
Berlins Mitte wie erstarrt, eine Stadt in Schockstarre. | |
Dieser städtebaulichen Tristesse gegenüber hat die [2][Fotografin Nelly | |
Rau-Häring] leichtes Spiel, mit ihrem den Menschen zugewandten Blick die | |
Sympathien zu gewinnen. Ganz nebenbei sieht man den von Christo und | |
Jeanne-Claude verhüllten Reichstag im Hintergrund, aber eigentlich flirtet | |
man mit einem kleinen Jungen, den sein Vater auf dem Arm hält. | |
## Was passiert, ist bühnenreif | |
Über einen Hügel aus Erde, Aushub aus einer Grube womöglich, balancieren | |
drei Silhouetten, während hinter ihnen die ersten Hochhäuser des Potsdamer | |
Platzes aufragen. In der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz wird die Bühne | |
gefegt. Am Funkturm treffen sich die Fans amerikanischer Schlitten. Es sind | |
einerseits ikonische Orte, touristische Highlights, Kapital des | |
Stadtmarketings, die Rau-Häring mit ihrer Kleinbildkamera aufsuchte. | |
Aber sie verlieren jeglichen werbenden und auftrumpfenden Gestus in den | |
Szenen, die sie beobachtet, auf die sie gewartet hat. Was passiert, ist oft | |
bühnenreif, aber nicht von ihr, sondern von den Protagonisten inszeniert, | |
manchmal etwas schrullig, oft tapfer den Verhältnissen trotzend. Wie der | |
Verkäufer von Regenschirmen, der seinen Handel aus einem kleinen Koffer vor | |
dem Bauzaun betreibt, hinter sich ein Plakat „Tanz in die D:Mark“. | |
Ein wenig komisch ist es schon, dass die drei Künstler:innen einer | |
klassischen Rollenaufteilung folgen: Die Männer sind für die Hardware der | |
Stadt, Stein und Beton, das Monumentale und Große zuständig und die Frau | |
für das Leben, das Kleinteilige und Wuselige. Aber was sie eint, ist eine | |
Haltung, die nichts verurteilt und nichts verkaufen will, die genügsam mit | |
dem umgeht, was Berlin ausmacht. Und nichts, aber auch gar nichts | |
beschönigt. | |
17 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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