# taz.de -- Skandal-Forscher über Kunst-Konflikte: „In der Winnetou-Debatte … | |
> Johannes Franzen erforscht, warum wir heute so heftig und emotional über | |
> Kultur und Geschmack streiten. | |
Bild: Darf man Helden der Kindheit kritisieren? Alexander Klaws als Winnetou be… | |
taz: Herr Franzen, warum fühlen sich viele Menschen so angegriffen, wenn | |
man ihre Lieblingsfilme kritisiert? | |
Johannes Franzen: Zum einen, weil es sich um eine soziale Verletzung | |
handelt. Wir fühlen uns herabgesetzt von der anderen Person, die uns | |
angreift, oder von der Institution, die unseren Geschmack abwertet, weil | |
darin immer der Satz zum Ausdruck kommt: Ich bin etwas Besseres als du. | |
Aber es ist auch eine emotionale Verletzung, weil wir über die Filme oder | |
Bücher, die wir lieben, eine Geschichte darüber erzählen, wer wir wirklich | |
sind. Man hat vielleicht bei einem Film geweint oder sich bei einem Song | |
das erste Mal geküsst. Und dann kommt jemand und sagt: Das ist Kitsch, das | |
ist schlecht, das ist vielleicht sogar politisch problematisch. Das ist | |
eine Verletzung, die nicht nur unsere soziale Identität betrifft, sondern | |
auch unsere Seele, könnte man sagen, also eine Identität, die darüber weit | |
hinausgeht. | |
taz: Erbittert geführte Streitigkeiten über Geschmack gibt es nicht erst | |
seit ein paar Jahren. Sie nennen als Beispiel die [1][Astor Place] Riots | |
in New York 1849, wo es über 25 Tote gab – wegen eines Theaterstücks. Was | |
ist heute anders? | |
Franzen: Streit über Kunst gibt es, seit es Kunst gibt. Mich interessieren | |
an der Gegenwart im Wesentlichen zwei Dinge: Zum einen ist die | |
Unterscheidung, also die Hierarchie zwischen [2][Populärkultur und | |
Hochkultur], endgültig zusammengebrochen. Das erzeugt neue Konflikte, die | |
auf eine besonders heftige Art eskalieren, weil es diese Schranken nicht | |
mehr so gibt. | |
taz: Und zum anderen die Digitalisierung? | |
Franzen: Genau, die ist quasi eine Goldgrube für Kulturwissenschaftler, die | |
sich mit Konflikten beschäftigen, weil alle alles ins Internet schreien. | |
Das ist für viele Menschen unangenehm, ich als Wissenschaftler reibe mir | |
aber die Hände, wenn es besonders kracht. Die Digitalisierung hat die | |
Konflikte aber nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch verstärkt, weil sie | |
diesen Schub an Teilhabe am ästhetischen Diskurs mit sich bringt, die zu | |
neuen Machtverhältnissen und zu neuen Konflikten führt. | |
taz: Warum wird es heute oft besonders heftig, wenn Debatten auch | |
nostalgisch sind, wenn das Neue mit dem geliebten Alten kollidiert, wenn | |
zum Beispiel Winnetou oder alte Kinderbücher kritisiert werden? | |
Franzen: Es gibt in der modernen Kulturgeschichte die Forderung, dass Kunst | |
von politischen Begehrlichkeiten frei sein muss, also autonom. Das war zwar | |
als Idee sehr produktiv, funktioniert aber natürlich nicht, und Debatten | |
wie [3][die Winnetou-Debatte] zeigen, dass es gesellschaftliche Reizthemen | |
sind, weil Menschen diese Dinge wirklich wichtig sind. Wenn man plötzlich | |
den Eindruck hat, mir werden meine Winnetou-Bücher weggenommen, sogar die | |
Erinnerung daran wird verschmutzt durch den Vorwurf des Rassismus, dann ist | |
das für viele eine existenzielle Erfahrung. Ich habe mir Tausende von | |
Onlinekommentaren zu dieser Debatte angeschaut: Die Leute waren außer sich | |
vor Wut. Es gibt einen Kommentar, den fand ich besonders eindrücklich: Ihr | |
lasst doch nichts heil an unserer Kindheit. | |
taz: Wie können wir denn über Geschmack streiten, ohne dass sich gleich | |
jemand beleidigt fühlt und alles ganz schnell eskaliert? | |
Franzen: Mir war wichtig, kein Buch darüber zu schreiben, wie wir besser | |
streiten. Davon gibt es schon einen ganzen Stapel, da wollte ich nicht noch | |
ein weiteres drauflegen. Aber man kommt nicht umhin, darüber nachzudenken, | |
was produktive und gute Debatten und Konflikte sind und was eher nicht. Das | |
kennt man ja auch aus dem eigenen Alltag. Ich glaube, dass es wichtig ist, | |
bei der Sache zu bleiben, wenn man über Kunst und Kultur streitet. Dass man | |
also nicht zum Beispiel über die Frage streitet, ob man noch rassistische | |
Witze machen darf. Zum anderen ist es wichtig, anzuerkennen, dass es ein | |
Verletzungspotenzial gibt. Man sollte diese Debatten nicht deswegen | |
vermeiden, aber auf eine Weise führen, die anerkennt, dass andere Personen | |
verletzt sein können, wenn man ein starkes Urteil äußert. Und dass sie | |
vielleicht gleich diese Verletzung thematisieren. | |
9 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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