# taz.de -- Kassierer-Sänger Wolfgang Wendland: Für immer Punk | |
> Wolfgang Wendland mischt mit seiner Band Die Kassierer seit 40 Jahren die | |
> Musikszene auf. Immer wieder unternimmt er auch Ausflüge in die Politik. | |
Bild: Wolfgang Wendland in Bochum-Wattenscheid | |
Etwas Entwaffnendes liegt in der seriösen Art, mit der Wolfgang Wendland | |
über seine Visionen doziert. „Ich denke, dass man die Bereiche Arbeit und | |
Versorgung der Bevölkerung auseinanderdividieren muss“, sagt er zur | |
Forderung nach der „ultimativen und totalen Rückverdummung der Menschheit“ | |
und der „Balkanisierung Deutschlands“. | |
Es ist das Jahr 2005, und die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands hat | |
den Sänger der legendären Punkband Die Kassierer gerade zu ihrem | |
Kanzlerkandidaten für die damalige Bundestagswahl gemacht. Und weil die | |
Sendeanstalten per Gerichtsbeschluss dazu gezwungen wurden, den unmöglichen | |
Wahlwerbespot der Satirepartei auszustrahlen, sitzt der damals 43-jährige | |
Bochumer nun einem entsetzten Fernsehmoderator gegenüber, der um Fassung | |
ringt. | |
„Balkanisierung, Rückverdummung, nie wieder Arbeit, APPD wählen!“, ruft | |
Wendland alias Wölfi inmitten einer wilden Orgie Betrunkener in die Kamera | |
– die Wahlwerbung erreicht Kultstatus, auch wenn Wendland am Ende nicht in | |
das Kanzleramt einziehen wird. | |
„Ich halte ihn für geschmacklos“, sagt der Moderator über den Fernsehspot | |
und straft den Kanzlerkandidaten mit einem verachtenden Blick. Der kichert | |
noch 20 Jahre später in sich hinein und sagt: „Als wir das gedreht haben, | |
habe ich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich fast vor Lachen auf | |
dem Boden gelegen.“ Er habe gewusst, dass der Spot funktionieren und | |
auffallen würde. Mehr könne man in 90 Sekunden Fernsehen nicht erwarten. | |
## Geht eine Ära zuende? | |
Heute ist Wolfgang Wendland 62 Jahre alt. Mit der Kanzlerschaft hat es | |
nicht geklappt, dafür hat er vor Kurzem mit Andeutungen für Furore gesorgt, | |
Die Kassierer in den nächsten zwei Jahren verlassen zu wollen. Die Band | |
gibt es seit 40 Jahren, sie ist eine feste Größe in der deutschen | |
Musiklandschaft. Zeit für einen Besuch in Bochum-Wattenscheid, der Heimat | |
des Sängers, wo er, willkommener Anlass für ein Porträt, am vergangenen | |
Wochenende auch im Rahmen der taz-Panter-Preisverleihung an einem Podium | |
teilgenommen hat. | |
Mit Hits wie „Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“ oder „Sex mit d… | |
Sozialarbeiter“ haben Die Kassierer ein Stück Musikgeschichte geschrieben. | |
Mit dem Ausscheiden des Sängers würde [1][eine Ära zu Ende gehen,] die weit | |
über die Punkszene hinausstahlt. | |
„Ich bin nur Sänger geworden, weil es die absurdeste Vorstellung war, dass | |
ich in einer Band singen würde“, sagt Wendland. Schon die Gründung der | |
Gruppe Mitte der achtziger Jahre durch ihn, seinen Bruder Volker und Mitch | |
Maestro sei Zufall gewesen. „Wir wollten ein Konzert mit befreundeten Bands | |
auf die Beine stellen und dachten, es wäre lustig, auch die Leute an der | |
Kasse als Band anzukündigen.“ Zwar wurde das Konzert später vom Ordnungsamt | |
verboten, doch der Anfang einer der einflussreichsten Bands des Genres war | |
gemacht. | |
„Nebenberuflich bin ich Wattenscheids erfolgreichster Rapper“, sagt | |
Wendland und meint das völlig ernst. Fast schüchtern deutet er in eine | |
Zimmerecke seiner Wohnung, wo fast unscheinbar eine Goldene Schallplatte | |
steht. Sie ist ein Geschenk der satirischen Berliner Rüpelrapper K.I.Z., | |
die er vor einigen Jahren als Gastsänger unterstützt hat. Auch mit der | |
Antilopen Gang und den 257ers hat er Songs produziert – und tatsächlich | |
dürfte er damit in Sachen Popularität in der Wattenscheider HipHop-Szene | |
außer Konkurrenz sein. | |
## Bierselige Auftritte | |
Live on stage ist von der Bescheidenheit, die er beim Gespräch mit der taz | |
ausstrahlt, wenig zu spüren. Sein Markenzeichen sind bierselige | |
Performances, bei denen er teilweise oder gern auch komplett die Hüllen | |
fallen lässt. Unvergessen ist etwa sein Auftritt in der ProSieben-Sendung | |
„Circus HalliGalli“ 2013, bei dem er vor den Augen Lena Meyer-Landruts, | |
der Moderatoren Joko und Claas und des Fernsehpublikums komplett nackt | |
performte. | |
Auch bei anderen Auftritten gehört viel nackte Haut oft dazu, ohne dass man | |
den Eindruck bekäme, hier werde wirklich eine Grenze überschritten. Auch | |
das gehört zum Geheimnis des Erfolgs der Kassierer: Es sind erfrischend | |
uneitle, dabei subtil subversive Showeinlagen, die aus dem zufällig | |
gegründeten Bandprojekt ein Gesamtkunstwerk machen. | |
Es gibt noch eine andere Seite von Wolfgang Wendland, und die wirkt | |
zuweilen derart seriös, fast staatstragend, dass man Schwierigkeiten hat, | |
dies mit den Grundrechenarten der Punkkultur zusammenzubringen. Denn neben | |
seiner Kanzlerkandidatur für die APPD hat er sich auch schon in der | |
Realpolitik versucht. 2015 kandidierte er als Unabhängiger für das Amt des | |
Oberbürgermeisters seiner Heimatstadt Bochum und erreichte 7,91 Prozent, | |
das reichte für Platz vier. | |
Mit einigen seiner politischen Ansichten sorgt er auch unter vielen seiner | |
Anhänger zuweilen für Irritation. Im April 2023 rief er zum Protest gegen | |
die Abschaltung der Atomkraftwerke auf. Dem Blog „Ruhrbarone“ sagte er | |
dazu, die Abschaltung der Kernkraftwerke gefährde sowohl die | |
Stromversorgung als auch die Netzstabilität in Deutschland. „Ich wünsche | |
mir, dass sich die Politik mit den Folgen dieser Entscheidungen noch einmal | |
beschäftigt und auch mögliche Katastrophenszenarien nicht ausblendet. | |
Spätestens im Winter könnte es unvorbereitet sehr eng werden.“ | |
Sieht er es heute immer noch so? „Das war sicher etwas zu alarmistisch“, | |
antwortet er. | |
## Keine Bergbauromantik | |
Als Kind wuchs Wolfgang Wendland gegenüber der Zeche Lothringen auf, eines | |
ehemaligen Steinkohlebergwerks in Bochum. Und anders als viele andere | |
Ruhrgebietler könne er mit der Bergbauromantik nichts anfangen, sagt er: | |
„Wenn man als Kind gegenüber einer Zeche wohnt, kommt einem Kernkraft | |
vielleicht erst mal fortschrittlich vor.“ | |
Nach dem Ende des Bergbaus wurde aus der Boomregion Ruhrgebiet ein | |
strukturschwaches Ödland. Die Wirtschaft kollabierte, Arbeits- und | |
Perspektivlosigkeit machten sich breit, große Firmen schlossen ihre | |
Werkstore. 2008 wurde das Nokia-Werk geschlossen, das 2.300 fest | |
angestellte Mitarbeiter und 800 Leiharbeiter beschäftigte. 2014 folgte die | |
[2][Schließung des großen Opel-Werks.] | |
1996 setzte die österreichische [3][Poplegende Falco] mit „Mutter, der Mann | |
mit dem Koks ist da“ der Tagebauförderung – und ihrem eigenen stilprägend… | |
Kokainkonsum – ein Denkmal. Wolfgang Wendland indes kann solcher | |
Romantisierung nichts abgewinnen. Ein Großvater sei Bergmann gewesen, aber | |
schon 1950 an Silikose gestorben. Dabei handelt es sich um eine | |
Staublungenerkrankung, bei der sich eingeatmeter Quarzstaub in dem Organ | |
festsetzt. | |
Sein eigener Lebensweg führte Wendland vor seiner Karriere als | |
Kassierer-Sänger in die akademische Welt. „Ich habe Pädagogik, Philosophie | |
und Politik studiert, Aber ohne Abschluss“, erzählt er. Irgendwann sei vom | |
Land NRW auch Film-, Theater- und Fernsehwissenschaften angeboten worden, | |
und er habe das Grundstudium absolviert. Auch nach Berlin hat es ihn | |
kurzzeitig verschlagen. „Ich habe dort ein halbes Jahr gelebt und | |
Betriebswirtschaft an der Freien Universität studiert“, sagt er. Aber wegen | |
Problemen, eine Wohnung und einen Job zu finden, zog es ihn wieder zurück | |
nach Bochum. | |
## Wie viel Umsturz steckt in den Kassierern? | |
Auch weitere Bandkollegen haben akademische Laufbahnen eingeschlagen. | |
Wolfgang Wendlands Bruder Volker hat Popularmusik mit Schwerpunkt Jazz | |
studiert, Gitarrist Nikolaj Hagermeister ist Diplomingenieur und | |
Tai-Chi-Lehrer. Auch der musikalische Stil der Kassierer ist breit | |
aufgestellt und geht über klassischen Punk hinaus: Die Musik beinhaltet | |
Elemente anderer Stile wie Volksmusik, Chanson, Jazz und mehr. | |
Wie viel Umsturz steckt in den satirischen Stücken der Kassierer? „Das ist | |
schwer zu sagen“, antwortet Wendland. „In unseren Liedern setzen wir uns | |
mit dem Zeitgeist auseinander, aber das passiert eher unterschwellig.“ | |
Vor vielen Jahren, um 2006 herum, hat er sich für ein selbstverwaltetes | |
Kulturzentrum in Wattenscheid eingesetzt, nach dem Vorbild der | |
selbstverwalteten Jugendzentren in den siebziger Jahren. Es sollte ein | |
Gegenentwurf zu den von der Kommunalpolitik betriebenen | |
Betreuungseinrichtungen sein. | |
„Ein Lied wie ‚Sex mit dem Sozialarbeiter‘ ist in der Vorstellung | |
entstanden, dass Leute in solchen Einrichtungen ihre Sozialarbeiter damit | |
quälen können und sich davon emanzipieren.“ Seine Pläne für ein | |
selbstverwaltetes Zentrum konnte er allerdings nie realisieren. Auch aus | |
Frust über die Behäbigkeit politischer Prozesse entschied sich Wendland, | |
selbst in der Kommunalpolitik mitzumischen: Von 2009 bis 2014 war er als | |
Parteiloser in Wattenscheid Bezirksvertreter. Seine Handlungsmöglichkeiten | |
hätten sich dabei allerdings auf die Abwehr finanzieller Streichungen | |
beschränkt. | |
## Intermezzo mit der SPD | |
Kann er sich vorstellen, nach seiner Zeit bei den Kassierern noch mal in | |
die Politik zu gehen? Wendland muss kurz nachdenken. „Politik ist sehr | |
anstrengend“, sagt er nach einer Pause. 2018 sei er mal [4][in die SPD | |
eingetreten.] „Ich wollte etwas gegen die Spaltung der Gesellschaft tun und | |
dachte, das funktioniert, indem man die politische Mitte stärkt.“ Aktuelle | |
Angebote aus der Politik habe er jetzt aber nicht mehr bekommen. | |
Sich zur Ruhe zu setzen, kommt für ihn nicht infrage. Auf die Frage, wie er | |
sich in seiner Freizeit entspannt, fällt ihm spontan nichts ein. „Irgendwie | |
entspanne ich nicht, ich finde die Zeit noch so interessant, dass ich | |
ständig vor dem Rechner sitze und Nachrichten gucke.“ | |
7 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Martin Niewendick | |
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