# taz.de -- Schutzlos im Westjordanland: Jenseits des Iron Dome | |
> Im Westjordanland gibt es keine Bunker, die vor iranischen Raketen | |
> schützen. Im arabischen Teil Jerusalems heulen immerhin noch Sirenen als | |
> Warnung. | |
Bild: Die Stadt Tamra im Norden Israels: Vier Menschen, darunter ein Kind, sind… | |
Ramallah taz | Wenn die Sirene heult, rennen die Anwohner*innen des | |
multikulturellen Viertels Musrara, Jerusalem. Nein, eigentlich rennen sie | |
nicht wirklich. Sie bemühen sich sichtlich um Ruhe, während sie mit zügigen | |
Schritten, doch ohne zu laufen, zu ihrem nächstgelegenen Schutzbunker | |
eilen. | |
Ultraorthodoxe Jugendliche in weißem Hemd und schwarzer Hose, die hungrig | |
nach Informationen sind, weil sie am Schabbat ihre Handys nicht benutzen | |
dürfen; ältere, säkulare Jüd*innen, die sich mit langsameren Schritten zum | |
Schutzort begeben und dabei noch ein paar Nachbarn grüßen, während die | |
anfliegenden Raketen bereits den Himmel über ihren Köpfen erhellen und | |
Explosionen die Luft erschüttern – denn sie haben das alles schon zigmal | |
erlebt. | |
Es ist eine Mischung aus der Neugierde der Jüngeren, der gefassten | |
Anspannung der Erwachsenen und der resignierten Gelassenheit meistens der | |
Älteren Ein Paar mit Hund kommt mehrere Minuten nach Ertönen der Sirene an. | |
„Wo wart ihr?“, ruft ihnen eine Frau entgegen. | |
Es ist Freitag Abend, kurz nach 21 Uhr, und [1][der iranische Gegenschlag | |
nach dem Angriff Israels] früher am Tag hat gerade begonnen. Wie | |
unheilbringende Meteore überqueren um die 200 Raketen an diesem Freitag den | |
Himmel über Jerusalem, in mehreren Wellen. Die meisten können die | |
israelischen Luftabwehrsysteme Iron Dome, Arrow und David’s Sling bereits | |
im Anflug abfangen und zerstören. [2][Einige werden einschlagen]. Nicht | |
hier, nicht in Jerusalem, doch in Tel Aviv. Und im Vorort Ramat Gan. | |
## Wenn der Bunker fehlt | |
Während sich die Anwohner*innen von Musrara in unterirdische Bunker | |
flüchten, sitzt der 35-jährige Jarid vor einem Café in Ramallah, | |
Westjordanland. Jarid schaut in den Himmel und sieht den Raketenhagel, der | |
in Richtung Israel fliegt. Er bringt seine zwei Kinder nach Hause, dann | |
läuft er wieder raus und blickt hoch, sieht sich die Reise der Flugkörper | |
an. Wovor Angst haben, fragt der junge Mann mit dem Spitzbart. „Sie zielen | |
eh nicht auf uns.“ Dann geht er wieder zurück ins Haus, setzt sich vor den | |
Fernseher und schaltet die Nachrichten ein. | |
Wenn die Sirene heult, laufen die Einwohner*innen von Ramallah nicht in | |
den Bunker. Denn es gibt keinen. Eigentlich heult hier auch keine Sirene. | |
Nur eine SMS geht raus an die palästinensischen Simkarten-Besitzer*innen | |
zwischen 13 und 65 Jahren, die in einer Datenbank der Behörden registriert | |
sind. Das erklärt Nael Azza, Oberstleutnant und Sprecher beim | |
palästinensischen Zivilschutz. | |
Doch anfliegende Raketen sind jenseits der Sperranlage, die Israel vom | |
Westjordanland absondert, ebenso gefährlich. Sieben Menschen, die meisten | |
von ihnen Kinder, wurden zwischen Freitag und Samstag verletzt. Fünf davon | |
von einem Marschflugkörper, der fehlschlug, die anderen durch Teile von | |
Projektilen, die der Iron Dome abfing. Teile, die immer wieder auf den | |
Boden knallen. Eigentlich gibt es im Westjordanland auch keinen Iron Dome. | |
Er schützt nur die israelischen, nach internationalem Völkerrecht | |
rechtswidrigen, Siedlungen in dem Gebiet. Die Raketenfragmente treffen | |
jedoch auch palästinensische Häuser. 180 von ihnen sind seit Freitag leicht | |
beschädigt worden, sagt Azza. | |
## Raketen gucken auf dem Flachdach | |
Während Jarid seine Kinder nach Hause brachte, gingen in Ramallah Menschen | |
auf die Straße. Oder schauten neugierig in den Himmel. Sie gingen auf | |
Flachdächer, zum Fenster. Azza sitzt in blauer Uniform am Schreibtisch | |
seines Büros im Süden Ramallahs und schmunzelt. Dass sich viele so | |
verhalten, ist nicht gut, das weiß er. „Wir arbeiten verstärkt daran, dies | |
zu ändern. Über die Gefahren zu informieren.“ Dabei sollte man zweierlei | |
betrachten, sagt der Oberst: Die Menschen dächten, weil sie nicht das Ziel | |
der Raketen sind, dass für sie keine Gefahr bestünde. Und für viele sei es | |
neu, dass Raketen aufs Westjordanland fallen. Normalerweise tun sie es in | |
Gaza. | |
Über Azzas Kopf lächeln die palästinensischen Anführer Jassir Arafat und | |
Mahmud Abbas, ehemaliger und aktueller Präsident der Palästinensischen | |
Autonomiebehörde. Der Beamte richtet sich die Brille zurecht und erklärt | |
freundlich, dass die Menschen hier friedlich seien, umgeben von arabischen | |
Ländern. Soll bedeuten: Es gebe kaum Bedarf für Schutzbunker vor Raketen. | |
Auch seien moderne Häuser, wenn sie gesetzeskonform gebaut sind, ziemlich | |
widerstandsfähig. Der Schwachpunkt seien indes die öffentliche | |
Aufmerksamkeit und das Warnverfahren. Daran arbeiteten sie gerade. Bald | |
soll ein flächendeckendes System entstehen, das das Internetnetz ebenfalls | |
miteinschließt. Parallel dazu soll die Bevölkerung sensibilisiert werden. | |
Problematisch seien zudem die Häuser in den Flüchtlingslagern, die nicht | |
besonders stark sind. | |
Unklar ist indes, ob die Palästinenser*innen Schutzbunker bauen | |
dürften, wenn sie es wollten. Eine Anfrage an das israelische | |
Verteidigungsministerium blieb unbeantwortet. Seit 1967 steht das | |
Westjordanland unter israelischer Besatzung. Das Gebiet ist in drei Zonen | |
unterteilt: A, B, C. Die Sicherheit steht teils unter Kontrolle der | |
Palästinensischen Autonomiebehörde, teils unter der israelischen, die die | |
Grenzen ebenfalls kontrollieren. | |
Für den 35-jährigen Jarid ist alles aeadi, normal. Er habe keine Angst. Was | |
könne noch Schlimmeres geschehen als das, was man bereits im Westjordanland | |
tagtäglich erlebt? „Wenn du in Palästina lebst, bist du ein Teil davon. Es | |
ist okay. Lass uns eine Nacht das erleben, was die Kinder in Gaza jede | |
Nacht erleben.“ Er ist Fatalist. Passiere, was passieren soll. Seine Kinder | |
bringt er doch rein, ins Haus. | |
Nicht jeder im Westjordanland sieht es indes so gelassen. Ali, der in | |
Wahrheit anders heißt, ist nicht nach draußen gerannt, als die ersten | |
Flugkörper den Himmel überquert haben. Er wollte keine Erinnerungsbilder | |
schießen. Er saß zu Hause, in einem Dorf nahe Ramallah, und bekam eine | |
Push-Benachrichtigung von einem Medium, war es Haaretz oder die Jerusalem | |
Post? Oder doch Al-Jazeera? Er erinnert sich nicht mehr so richtig. Ein | |
Sirenenalarm aus einer benachbarten israelischen Militärbasis ging an. „Der | |
ist aber für sie, nicht für uns“, sagt der 42-Jährige in T-Shirt und kurzen | |
Hosen. | |
Er schaltete den Fernseher an, in den Nachrichten kam, dass man sich in der | |
Nähe eines Bunkers aufhalten sollte. Ja, bloß im Westjordanland gibt es | |
keine. „Wir wussten, dass die Raketen um die zehn Minuten gebraucht hätten, | |
um anzukommen. Ich schaute aus dem Fenster und sah zunächst die | |
Abfangraketen der Israelis. Und dann den Marschflugkörper von der anderen | |
Seite. Bum, bum, bum.“ | |
Ali weiß um die Gefahren von herabfallenden Raketentrümmern. Fragt man ihn, | |
ob Palästinenser*innen ebenso Schutzräume haben sollten, bejaht er | |
das. Iron Dome kümmere sich nicht um die Palästinenser*innen und ihre | |
Dörfer. | |
Dass Ali nicht für ein Selfie aufs Dach gestiegen ist, hat nichts mit einer | |
wohlwollenden Haltung gegenüber Israel zu tun. Für ihn ist der Angriff auf | |
Iran lediglich erfolgt, um Premier Benjamin Netanyahu an der Macht zu | |
halten. „Er wird nicht an der Macht bleiben, ohne die iranische Bedrohung | |
zu eliminieren“, sagt er. | |
## Leben in Ramallah geht weiter | |
Es ist Samstagabend, das Leben in Ramallah geht weiter, die Verkäufer am | |
Straßenrand preisen lauthals ihre Waren, das Zentrum ist indes | |
vergleichsweise menschenleer. Dass es an der aktuellen Lage liegt, ist | |
wahrscheinlich. Seit dem Angriff auf Iran hat Israel die Bewegungsfreiheit | |
im Westjordanland und Ostjerusalem stark eingeschränkt. Einige Checkpoints | |
sind zu, andere nur für Fußgänger und zu unregelmäßigen Zeiten geöffnet. | |
NGOs beklagen Schwierigkeiten für Krankenwagen, Notfälle zu erreichen. Und | |
gewaltsame Razzien, die – so sagen sie – an die Zeit direkt nach dem 7. | |
Oktober erinnern, als Hamas-Kämpfer aus Gaza fast 1.200 Israelis | |
massakrierten. | |
Der Übergang in Qalandia war kurz vor Sonnenuntergang fast verwaist, nur | |
eine lange Autoschlange wartete auf der palästinensischen Seite. Nervöse | |
israelische Soldat*innen standen an den Toren. Palästinensische | |
Passanten überquerten zu Fuß die Brücke, die Israel vom Westjordanland | |
trennt. Auf der anderen Seite, wo sich Mülltüten am Straßenrand stapeln und | |
die Wände der Gebäude vom Abgas rußig sind, beginnt für Israelis die | |
Gefahrenzone. So sagt es zumindest ein rotes Warnschild, das vor dem | |
Checkpoint hängt. Und, in Zeiten vom israelisch-iranischen Raketenbeschuss, | |
für Palästinenser*innen ebenso. | |
„Die Leuten haben seit gestern ihre Wagen vollgetankt“, sagt Ali. Für den | |
Notfall. Bloß können sie derzeit kaum irgendwohin. Die Grenze an der | |
Allenby Bridge wurde geschlossen, morgen erst soll er vielleicht wieder | |
offen sein. | |
Ali sitzt im Garten eines Restaurants, der Abend ist angenehm frisch. Die | |
Gäste trinken Cola und Bier, essen gewürzte Nachos. Plötzlich ploppt eine | |
Warnmeldung der israelischen Zeitung Haaretz auf dem Bildschirm seines | |
Handys auf. Alarm, Iran schieße erneut. Ab in die Bunker – die es hier | |
nicht gibt. Ali seufzt und schaut auf das Handy. Die anderen Männer rennen | |
auf die Straße, sehen sich den glühenden Raketenregen an. Leise | |
Detonationen in der Entfernung. Einige jubeln. | |
## Lage seit 7. Oktober zugespitzt | |
Nach dem 7. Oktober hat sich die Lage in beiden Bevölkerungen zugespitzt. | |
Manche Palästinenser*innen freuen sich nicht auf die iranischen | |
Raketen, weil sie das Regime in Iran gut finden. Sie wollen, dass Israelis | |
fühlen, was Gazaner*innen fühlen, seit 21 Monaten unter den Bomben | |
eines Konflikts, der nach palästinensischen Angaben bereits 55.000 Menschen | |
das Leben gekostet hat. | |
In Israel sind die Anwohner*innen von Musrara gerade in ihre | |
Schutzräume gelaufen. Eine Rakete wird auf einem Gebäude der arabischen | |
Stadt Tamra in Nordisrael landen, vier arabisch-israelische Frauen werden | |
sterben. Ein Video wird dann die Runde machen, in dem ein ultraorthodoxer | |
Mann die tödliche Fahrt des Flugkörpers bejubelt. So wie manch einer in | |
Ramallah, wenn die Raketen in Richtung Israel fliegen. Andere | |
Palästinenser*innen werden sich Sorgen machen, um sich selbst und | |
ihre Liebsten. Außerhalb der Schutzräume. | |
16 Jun 2025 | |
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