| # taz.de -- Eskalation in Nahost: „Es zehrt an den Nerven“ | |
| > Unsere Autorin wollte am Samstag von Israel zurück nach Deutschland | |
| > fliegen. Nun sitzt sie nachts stundenlang in einem Schutzraum. | |
| Bild: Israelische Soldaten suchen am Sonntagmorgen nach Überlebenden in den Tr… | |
| Hadera taz | Ich renne kleine Runden um das Wohnviertel in Hadera, um | |
| wenigstens morgens für eine Stunde das Haus zu verlassen. Sport gehört zu | |
| meinem Alltag, er hilft mir, in solchen Situationen atmen zu können. Doch | |
| hier entferne ich mich nie weiter als zehn Minuten von der Wohnung, wo wir | |
| einen Schutzraum haben. Sieben bis zwölf Minuten – so lange brauchen | |
| ballistische Raketen aus dem Iran, sagt mein Freund immer wieder. | |
| [1][Am frühen Freitagmorgen greift Israel das iranische Atomprogramm und | |
| die militärische Befehlskette in einer gezielten Operation an], die viele | |
| als historisch bezeichnen. Wir werden gewarnt, dass der Iran Vergeltung | |
| üben wird. Jetzt warten wir jede Nacht auf weitere Raketen. Bislang kamen | |
| hunderte, nicht alle wurden abgefangen. Israel hat den Ausnahmezustand | |
| verhängt. | |
| „Bleib in der Nähe und wenn du den Alarm hörst, kommst du sofort zurück“, | |
| sagt mein Freund, sobald ich nach meinen Laufschuhen greife. Wir sind jetzt | |
| seit einer Woche in Israel. Ich war aus beruflichen Gründen hier, mein | |
| Freund hat mich begleitet. Am Samstag sollten wir nach Berlin | |
| zurückfliegen, doch nun stellen wir uns auf einen wochenlangen Aufenthalt | |
| ein. | |
| Mein Freund ist Israeli, und wir haben schon häufiger gemeinsam seine | |
| Familie besucht, der ich inzwischen auch sehr nahestehe. Ich habe mich hier | |
| immer sehr wohl und sicher gefühlt, in diesem wunderschönen Land. | |
| Raketenbeschuss, Alarmsirenen, nachts wach werden und losrennen, | |
| ungemütliche, sorgenvolle Nächte in den Schutzräumen des [2][Kibbuz] – all | |
| das kennen die Nichten meines Freundes spätestens seit dem 7. Oktober 2023 | |
| viel zu gut. Sie sind sieben und acht Jahre alt und leben damit. Für mich | |
| ist es das erste Mal. | |
| ## Auch in den modernen Wohnhäusern sterben die Menschen | |
| Wir sollen uns immer in der Nähe eines „Mamad“ aufhalten. So nennt man die | |
| Schutzräume in Israel, die in neuen Häusern in jeder Wohnung vorhanden | |
| sind. Wer in älteren Häusern lebt, muss oft in den Keller. Und wer im | |
| Kibbuz wohnt, rennt im Ernstfall zum nächsten Gemeinschaftsbunker. Die | |
| Warnung, sich bereitzuhalten, kommt vom israelischen Home Front Command und | |
| gilt seit Freitag so gut wie uneingeschränkt. | |
| Wir übernachten alle bei der Mutter meines Freundes, denn sie hat den Luxus | |
| eines Schutzraumes in ihrem Apartment. Wenn wir zu siebt in ihrem | |
| begehbaren Kleiderschrank sitzen, wird es eng, aber wir haben ausreichend | |
| Wasser und Snacks. Die Schwester meines Freundes liest ihren Töchtern im | |
| Mamad die Gute-Nacht-Geschichte vor, damit sie direkt dort auf den | |
| ausgelegten Matratzen einschlafen. So müssen wir sie nachts nicht wecken, | |
| wenn der Alarm losgeht. | |
| Doch während es in Hadera verhältnismäßig ruhig ist, sterben in Bat Yam, | |
| einem Vorort von Tel Aviv, in der Nacht von Samstag auf Sonntag mindestens | |
| sechs Menschen in ihren Wohnungen, als ihr Wohnblock direkt getroffen wird. | |
| Sieben Menschen werden noch in den Trümmern vermisst, 200 Verletzte wurden | |
| bereits lebend geborgen. In der Nacht zuvor war unter den aus den Trümmern | |
| Geretteten auch ein wenige Monate altes Baby – das Foto einer Polizistin, | |
| die den kleinen Körper in ihren Armen hält, geht durch die Medien. | |
| Auch in Tamara, im Norden Israels, gibt es inzwischen vier Tote, nachdem | |
| ein Wohnviertel von iranischen Raketen getroffen wurde. Das zerstörte | |
| Wohnhaus in Bat Yam war modern, so wie unseres in Hadera, in dem wir uns | |
| eigentlich bislang sicher gefühlt haben. Ich habe eine Gänsehaut, als ich | |
| die Nachrichten morgens auf meinem Handy checke. | |
| ## Verteidigung ist Teil des nationalen Selbstbilds | |
| Obwohl wir als Familie gerade ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen | |
| und dankbar dafür sind, beieinander zu sein, fühlt es sich manchmal beengt | |
| an. Es gibt nicht genug Schlafplätze für alle und der Versuch, aus dem | |
| Home-Office zu arbeiten, konkurriert mit der schwindenden Geduld der | |
| Kinder. Unsere Zeit draußen beschränkt sich auf kurze Spaziergänge mit dem | |
| Hund und meine morgendlichen Laufrunden in der Nachbarschaft – mehr ist | |
| gerade nicht drin. | |
| Meine Schwiegermutter steht fast ständig in der Küche, jedes Gericht noch | |
| liebevoller und aufwendiger als das vorherige. Vielleicht ist das ihre Art, | |
| mit der Nervosität umzugehen und sich etwas Raum inmitten unseres | |
| provisorischen Zusammenlebens zu schaffen. Denn im Grunde haben wir ihre | |
| Wohnung zur Festung erklärt und dabei ganz schön viel Platz eingenommen. | |
| Anders würde sie es sich nicht wünschen, aber es zehrt an den Nerven, das | |
| ist trotzdem spürbar. Am [3][Shabbat] kochte sie als kleine Hommage an ihre | |
| Herkunft auch persisch. Sie wurde im Iran geboren, bevor sie als Kleinkind | |
| mit ihrer jüdischen Familie nach Israel kam. | |
| Ich werde ständig gefragt, wie es mir geht, weil ich solche Angriffe zum | |
| ersten Mal erlebe. Ich sage, dass ich mich relativ sicher fühle und frage | |
| zurück, wie die Israelis damit umgehen, dass ihr Leben jetzt wieder | |
| konstant von der Suche nach Schutz bestimmt ist? Eine Perspektive, die ich | |
| als pazifistische Deutsche gar nicht verstehen könne, höre ich besonders | |
| oft: | |
| Seit der Kindheit wird in Israel ein starkes militärisches | |
| Selbstverständnis gefördert. Das Gefühl, sich verteidigen zu können und | |
| auch zu müssen, ist Teil des nationalen Selbstbilds. Der dreijährige | |
| Wehrdienst ist hier für alle Geschlechter verpflichtend. Doch auch wenn | |
| dieser „militärische Muskel“ seit frühester Kindheit trainiert wird, blei… | |
| eine instinktive Angst, die sich in Ausnahmesituationen sofort bemerkbar | |
| macht, immer präsent. Die Stärke, auf die man sich verlässt, schützt nicht | |
| vor dem, was sich tief im Inneren regt, wenn Sirenen heulen und sich die | |
| Bedrohung plötzlich sehr real anfühlt. | |
| ## Im Iran sind die Menschen auf sich alleine gestellt | |
| Auch wenn wir in Israel früh gewarnt werden, auch wenn es für viele in | |
| wenigen Minuten erreichbare Schutzräume gibt, ist jede Nacht tödlicher als | |
| die letzte. In vielen arabischen und jüdischen Gemeinden fehlen | |
| Schutzmöglichkeiten. Auch mein Freund erzählt mir, dass Schutz suchen für | |
| ihn früher bedeutete, sich in den Türrahmen seiner Wohnung in Tel Aviv zu | |
| stellen und zu hoffen. Während ich noch in Ruhe meine Zähne putze und es | |
| mir dann in einer Ecke des Mamad gemütlich mache, wo die Kinder schon | |
| schlafen, haben Menschen in anderen Regionen nicht mal genug Zeit, die Tür | |
| zu schließen, bevor die Rakete einschlägt. Wir checken konstant die | |
| Nachrichten auf dem Handy und flüstern uns Updates zu, damit die Kinder | |
| nicht wach werden. In den frühen Morgenstunden gehen wir in unsere eigenen | |
| Betten. Den Eimer zum Pinkeln mussten wir zum Glück nicht benutzen. | |
| Die israelische Regierung schützt ihre Bevölkerung, im Iran sind die | |
| Menschen auf sich alleine gestellt. Wir sitzen hier in Israel vielleicht | |
| eine Weile fest, aber ich bin gut versorgt und kann mich auf die Warnungen | |
| der Behörden meist verlassen. Die israelische Armee IDF (Israel Defense | |
| Forces) warnt auch iranische Zivilist:innen, sich von | |
| Waffenproduktionsstützpunkten fernzuhalten. Man kann wohl davon ausgehen, | |
| dass weitere Angriffe folgen werden. Die Angst und Unsicherheit der | |
| iranischen Bevölkerung mag ich mir kaum vorstellen. | |
| Ich laufe weiter meine Runden in der Nachbarschaft und weiß, das wird ein | |
| Marathon, kein Sprint. | |
| 15 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Clara Nack | |
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