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# taz.de -- Schutz der liberalen Demokratie: Sind Sie auch ständig „fassungs…
> Es ist nicht automatisch schlecht, wenn etwas ver-rückt, die Frage ist
> aber, wer verrückt was?
Bild: Wirkt auch schon irgendwie fassungslos: US-Präsident Trump
Ständig passiert was, und jedes Mal sind wir guten Leute „fassungslos“.
Jedenfalls drängt es uns, das so zu formulieren. Man ist fassungslos
[1][wegen Trump], [2][wegen Putin], wegen you name it. Man ist inzwischen
so oft fassungslos, dass man abstumpft, weil es zum Normalzustand zu werden
droht. Letztlich steht diese Fassungslosigkeit für Hilflosigkeit in
moralischer Sauce. Das kann es ja wohl nicht sein. Deshalb ist es
notwendig, die Bedeutung des Wortes zu konkretisieren.
Zum Beispiel schrauben wir eine Energiesparlampe in eine Fassung, und dann
wird es emissionsarm Licht. Und genauso war unsere vergleichsweise sehr
leuchtende Art zu leben in eine Fassung geschraubt aus Westen, stabiler
Demokratie, stabilen USA, stabiler fossiler Wirtschaftskraft und damit
finanziertem Sozialstaat, fortschreitenden emanzipatorischen
Freiheitsgewinnen und kostenarmem Frieden in (Mittel-)Europa.
Diese Fassung könnte es nicht mehr lange geben, stimmt. Aber, und das ist
zentral: Im konkreten Sinne sind wir derzeit noch längst nicht fassungslos.
Wir werden indes bald fassungslos sein, wenn uns nichts Besseres einfällt,
als zu sagen, dass wir fassungslos seien und uns damit zu paralysieren.
Ein Freund und engagierter Exeget der Weltlage sagt inzwischen ständig,
dies und das sei ja „verrückt“. Geopolitisch, innenpolitisch, alles sei
„verrückt“ (außer Robert Habeck und Karl Lauterbach). Auch das ist –
unabsichtlich – eine präzise Analyse.
Die Dinge, die Vereinbarungen, das Denken und das Sprechen sind oder werden
ver-rückt, also sind nicht mehr da, wo sie gerade noch waren in einer
Gesellschaft, die einerseits in einem humanistischen Sinne der Aufklärung
verpflichtet ist und andererseits aus menschlicher Schwäche oder
dysfunktionaler Kultur essenzielle Grundlagen ausgeblendet hat. Will sagen:
Es ist nicht automatisch schlecht, wenn etwas ver-rückt, die Frage ist
aber, wer verrückt was?
## Die Blasen-Betkreise
Auf der einen Seite wollen antidemokratisch Interessierte eine autoritäre
Verrückung und greifen dazu nach dem bewährten Drehbuch Minderheiten,
Medien, Wissenschaft, Gerichte, Parlamente und übrigens auch
Marktwirtschaft an. Mit dem Geheule, ihre Freiheit sei bedroht, und dem
Schauermärchen, es gebe eine „grünlinke“ Unterdrückungs-Hegemonie,
versuchen medial besonders Privilegierte flankierend die Freiheit der
anderen zu stehlen.
Diese Leute haben einen festen Plan, starke Netzwerke, funktionierende
Methoden. Auf der anderen Seite stehen wir. Und bei dem Wort „wir“ geht’s
schon los. „Ja, aber wer ist denn wir?“, ruft bei dem Wort verlässlich ein
ganz besonders 08/15-Kritischer und damit ist das Gemeinsame erledigt und
jeder geht wieder in seine Untergruppe derer, die jeweils im Besitz der
höchsten moralischen Interessen und der größten Wahrheit sind. Das ist auch
eine Folge der Entwicklung zu einer offenen, pluralistischen und
individualistischen Gesellschaft.
Die Blasen-Betkreise bringen es definitiv nicht, wenn es um gemeinsame
Zukunft geht. Aber die emanzipatorische Entwicklung zu einem Nebeneinander
der Vielfalt darf man jetzt auch nicht aufheben wollen mit einer
antiquierten Links-rechts-Frontstellung oder einem
Blut-Schweiß-Tränen-Befehl zum Marsch im Gleichschritt gegen den
autoritären Angriff.
Unsere Differenz ist die gemeinsame und zu schützende Errungenschaft der
liberalen Demokratie. Und die liberale Demokratie ist Grundvoraussetzung,
um unsere Konflikte austragen zu können und eigene Prioritäten
mehrheitsfähig zu machen. Die Grundbedingungen für den Erfolg gegen
Demokratiefeinde sind also Mitte und Mehrheit, eine demokratische
Interessengemeinschaft, die von Linksaktivisten bis Rechtskonservativen
reicht.
Jetzt könnte man sagen: Das ist doch verrücktes Denken? Na, klar. Genau
darum geht es.
22 Jun 2025
## LINKS
[1] /Trumps-Kalkuel-in-Los-Angeles/!6091977
[2] /Trump-und-Putin-am-Telefon/!6089260
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Kolumne Die eine Frage
Donald Trump
Wladimir Putin
Demokratie
wochentaz
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