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# taz.de -- Tote Tiere: Die deutsche Agrarpolitik hinkt hinterher
> Das Ernährungssystem kann nur zukunftsfest werden, wenn weniger Fleisch
> gegessen wird. Zwei Nachbarländer zeigen, wie Transformation
> funktioniert.
Weniger Grün, mehr Wurst: Zumindest für Markus Söder scheint das das Ziel
der Agrarpolitik der Regierungskoalition zu sein. Den neuen
CSU-Landwirtschaftsminister Alois Rainer präsentierte er im April mit den
hoffnungsfrohen Worten „[1][Jetzt gibt’s wieder Leberkäs statt
Tofutümel]ei.“ Entlang des Themas Ernährung wird von Politikern wie Söder
ein Kulturkampf inszeniert, in dem Fleischfans ihre Freiheit gegen
linksgrüne Veggies verteidigen müssten.
Der Minister selbst gab sich in [2][seiner Regierungserklärung] Mitte Mai
zwar versöhnlicher. Er betonte aber, dass „mündige Bürgerinnen und Bürger…
selbst entscheiden sollten, was sie einkaufen, und dass für ihn Fleisch zu
einer „ausgewogenen Ernährung“ dazugehöre – dabei ist erwiesen, dass
Fleisch für die Gesundheit nicht nötig und [3][in den heute üblichen Mengen
schädlich] ist. In der Tierhaltung in Deutschland sieht Alois Rainer keine
Probleme – sie stehe schon jetzt für höchste Qualität.
Um den „Diskussionen um mehr Tierwohl“ zu begegnen, wolle er aber ein
Förderprogramm für „[4][Tierwohlställe]“ auf den Weg bringen, „um
langfristige Planungssicherheit“ zu schaffen. Die Planungssicherheit für
Landwirt*innen soll zusammen mit dem Bürokratieabbau ein Kernziel seiner
Politik werden. Er wolle auch der jungen Generation mehr Lust auf
Landwirtschaft machen.
Diese Ziele erfordern aber ganz andere Schritte, als sie der Minister
vorhat: Die Landwirtschaft kann nur zukunftsfähig werden, wenn die
Tierzahlen sinken und die Ernährungsweisen sich verändern – weg von Fleisch
und Milch, hin zu pflanzlichen Alternativen. Darüber, dass ein solcher
Wandel für den Klimaschutz entscheidend ist, besteht in der Wissenschaft
schon lange Konsens. In jüngster Zeit wird dazu immer klarer, dass die
voranschreitende Klimakrise den Wandel sogar [5][unausweichlich] machen
wird.
## Dürreopfer Landwirtschaft
Wetterextreme wie Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen treffen direkt
die Landwirtschaft. Gerade die Tierhaltung beruht auf hohem
Ressourceninput, verlässlichen Lieferketten und stabiler Infrastruktur und
ist damit besonders krisenanfällig. In Rainers Regierungserklärung kamen
das Thema Klimaschutz und Klimaanpassung in der Landwirtschaft schlicht
nicht vor. Das einzige Problem, das er bei der Tierhaltung angehen will,
sind die „Diskussionen um mehr Tierwohl“.
Aber seine Lösung – bis zu [6][1,5 Milliarden Euro] pro Jahr an
Steuergeldern in Errichtung und Betrieb von „Tierwohlställen“ zu stecken �…
kann so nicht funktionieren. Wie Videoaufnahmen der Organisation
[7][Animal Rights Watch] aus genau solchen Ställen Ende Mai wieder bewiesen
haben, bedeuten auch höhere Standards für Tiere Leid und Gewalt. Die neuen
Ställe werden daher vorhersehbar weitere Skandale produzieren.
Wer profitiert, sind also auf Dauer weder die Tiere noch die
Tierhaltungsbetriebe und damit auch nicht die junge Generation in der
Landwirtschaft. Stattdessen dient die Politik den kurzfristigen Interessen
der Agrar- und Tierindustriekonzerne, die ungeachtet der Folgen aktuell
noch gut verdienen. Währenddessen ist die Ernährungswende in der
Bevölkerung längst im Gange: Seit 2012 ist der [8][Fleischkonsum] um 13
Prozent gesunken, und Alternativen zu Tierprodukten erfreuen sich immer
größerer Beliebtheit.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt derweil im Sinne von
Gesundheit und Nachhaltigkeit, den durchschnittlichen Fleischkonsum um
weitere zwei Drittel und den Milchkonsum um die Hälfte zu reduzieren. Denkt
man all das zusammen, ist es unverantwortlich, landwirtschaftliche Betriebe
über Fördergelder dazu zu motivieren, weiter in die Tierhaltung zu
investieren. Damit die Landwirtschaft insgesamt zukunftsfest wird, müssen
die Tierzahlen stattdessen deutlich sinken und die Ernährung sich
entsprechend ändern.
## Anreize schaffen
Ein wichtiger Baustein, um für die Betriebe Planungssicherheit zu schaffen,
besteht also darin, diesen Wandel voranzutreiben und gerecht zu gestalten.
Welche Maßnahmen die Regierung dafür ergreifen könnte – aber auch, welche
Herausforderungen sich dabei stellen –, zeigt ein Blick in andere
europäische Länder. In Dänemark hat die Regierung 2021 beschlossen, massiv
in die [9][Ernährungswende] zu investieren. In dem kleinen Land werden pro
Fläche deutlich mehr Tiere gehalten als hier.
Der Fleischkonsum liegt ebenfalls höher. Die Entscheidung, darauf politisch
einzuwirken, war Teil eines umfassenden Plans zur [10][grünen
Transformation] der dänischen Landwirtschaft. Dazu gehören Subventionen für
den Anbau von Eiweißpflanzen und ein Aktionsplan für pflanzenbasierte
Lebensmittel. Letzterer ist mit einem Fördertopf ausgestattet, der
mittlerweile [11][135 Millionen Euro] umfasst – übertragen auf Deutschland
entspräche dem relativ zum Bruttoinlandsprodukt über eine Milliarde Euro.
Aus dem Topf werden Schulungen für Küchenpersonal finanziert und die
Entwicklung von Alternativen zu Fleisch- und Milchprodukten. Klar ist: Was
wir essen, hängt nicht allein von individuellen Vorlieben ab, sondern von
Angeboten und Anreizen. Im Rahmen der grünen Transformation hat das
dänische Parlament 2024 nach einer Einigung mit Agrarverbänden auch eine
[12][Steuer auf Treibhausgase] aus der Landwirtschaft beschlossen. Mit dem
Geld sollen unter anderem bis zu 15 Prozent der landwirtschaftlichen
Flächen renaturiert werden.
Eine solche Steuer kann, wenn sie sozial gerecht ausgestaltet ist, die
Reduktion der Tierzahlen vorantreiben. Allerdings wird dieses Potenzial in
Dänemark noch nicht ausgeschöpft, denn die Steuern sind niedrig und werden
teilweise durch Subventionen ausgeglichen. Klare Zielvorgaben sowohl zum
Abbau der Tierzahlen als auch zur Stärkung pflanzlicher Alternativen
fehlen. Trotzdem zeigt das Beispiel Dänemark: Es gibt Wege, den Umbau zu
einem stärker pflanzenbasierten Ernährungssystem anzustoßen.
## Ein inszenierter Kulturkampf
In den Niederlanden sorgen die Güllemassen aus der Tierindustrie für
dramatische Stickstoffüberschüsse in Gewässern und Naturschutzgebieten,
womit das Land gegen EU-Richtlinien verstößt. Ändern lässt sich das
praktisch nur, wenn die Tierhaltung drastisch abgebaut wird. Ab 2020 legte
daher die damalige niederländische Regierung freiwillige Ausstiegsprogramme
auf: Tierhalter*innen bekommen Entschädigungen aus Steuergeldern, wenn
sie ihre Tierhaltung beenden.
Zwischenzeitlich sollte ein entsprechender Umbaufonds mit 25 Milliarden
Euro bis 2035 ausgestattet werden. Allerdings wurden die Angebote zunächst
nur schleppend angenommen. Zugleich brachen massive Bauernproteste gegen
die Abbauziele los, mitfinanziert von der Futtermittelindustrie. [13][Die
rechtspopulistische Bauernpartei] gewann in Wahlen und wurde 2024 Teil der
Rechtsregierung um Geert Wilders. Diese Regierung hat die Gelder massiv
reduziert und Zielfristen verlängert.
Dieses Hin und Her bedeutet für die Landwirtschaft letztlich auch keine
Planungssicherheit. Und es zeigt, dass der erbitterte Protest gegen den
sogar rechtlich notwendigen Wandel mindestens zum Teil ein inszenierter
Kulturkampf ist, den rechtspopulistische Kräfte und Lobbygruppen der
Agrarindustrie gezielt für ihre Interessen nutzen. Das ist umso
frustrierender, als mit den Ausstiegsprogrammen eigentlich ein zwar teures,
aber wirksames Instrument für einen gerechten Umbau der Landwirtschaft weg
von der Tierhaltung vorliegt.
Zurück nach Deutschland: Hier hatte die Ampelregierung im Haushalt 2024 das
„[14][Chancenprogramm Höfe]“ verankert. Es sollte gezielt Betriebe
unterstützen, die von der Nutztierhaltung auf die Produktion und
Verarbeitung innovativer Proteine und klimafreundlicher Lebensmittel
umsteigen wollen. Die Idee war vielversprechend, die vorgesehene Summe
leider mit 30 Millionen Euro winzig und die Umsetzung schleppend.
## Ernährungswende selbst in die Hand genommen
Im neuen Koalitionsvertrag finden sich immerhin die Vorhaben, den Anbau von
Eiweißpflanzen zu stärken sowie die Entwicklung und Markteinführung
alternativer Proteine zu fördern. Letzteres klingt nach einer Lösung durch
Technik: Neue Fleisch- und Milchalternativen aus pflanzlichen Rohstoffen,
aber auch aus Verfahren wie Präzisionsfermentation und Zellkultur könnten
mit gezielter Förderung viele Arbeitsplätze schaffen und die Ernährung
nachhaltiger machen.
Zugleich ist aber entscheidend, eine vollwertige und möglichst regionale
Versorgung für alle Menschen zugänglich und attraktiv zu machen. Die
Loblieder von Agrarminister Rainer auf den Fleischkonsum weisen
bedauerlicherweise in die umgekehrte Richtung. Um die dringend notwendige
Transformation voranzutreiben, gibt es noch Hebel auf anderen Ebenen: So
könnte die Europäische Kommission einen EU-Aktionsplan für
pflanzenbasierte Lebensmittel nach dänischem Vorbild entwickeln.
Genau das forderte im Herbst letzten Jahres das [15][Forum Strategischer
Dialog], das Vertreter*innen von 30 Interessengruppen aus der gesamten
Lebensmittelkette versammelte. Immer mehr Menschen nehmen die
Ernährungswende selbst in die Hand, zum Beispiel in Initiativen für
stärker pflanzenbasierte Schul- oder Universitätsmensen.
Der Ernährungsrat Kassel hat eine eigene „Kantine für Alle“ gegründet, d…
von der Stadt Kassel gefördert wird: Einmal die Woche kochen Ehrenamtliche
ein pflanzliches Abendessen, das kostenlos ausgegeben wird. An solchen
Orten der Gemeinschaftsverpflegung lassen sich Gewohnheiten verändern. Wenn
die Alternativen günstig und lecker sind, kann das ganz ohne Kulturkampf
funktionieren.
15 Jun 2025
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=u4Oiipp60QU
[2] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Presse/250515-regierungserklaer…
[3] /Neue-Empfehlungen-fuer-Fleisch/!5993635
[4] /Quaelerei-in-Schweinebetrieb/!5735235
[5] https://www.forbes.com/sites/johndrake/2025/04/10/the-way-we-eat-is-about-t…
[6] https://www.topagrar.com/management-und-politik/news/rainer-will-um-milliar…
[7] https://www.ariwa.org/
[8] https://de.statista.com/themen/1315/fleisch/#topicOverview
[9] https://www.agora-agriculture.org/fileadmin/Projects/2024/2024-03_national_…
[10] https://agricultureandfood.co.uk/news-and-statistics/news/an-agreement-on-…
[11] https://plantefonden.dk/the-plant-based-food-grant/the-history
[12] https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2025/wert-…
[13] /Provinzwahlen-in-den-Niederlanden/!5922426
[14] /Ersatz-fuer-tierische-Proteine/!5977386
[15] https://agriculture.ec.europa.eu/document/download/171329ff-0f50-4fa5-946f…
## AUTOREN
Friederike Schmitz
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