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# taz.de -- Meinung schlägt Wissen im Journalismus: Senf, die Droge der Stunde
> Alle wissen plötzlich alles – doch wo bleibt der Raum fürs Fragen? Ein
> Plädoyer für mehr Zweifel, weniger Gewissheit – und die Rückkehr des
> Suchens.
Bild: Darf's ein bisschen mehr Meinung sein?
Woher wissen plötzlich alle alles? Ich sehe überall Expert*innen mit
klaren Positionen, starken Meinungen und vor allem: sehr viel Wissen und
Gewissheit. Alle kennen „die Studienlage“, scheinen sofort zu durchschauen,
was Propaganda ist und welche politische Theorie die Grundlage für alles
bildet. Überall sind Antworten. Ich habe mich selten so uninformiert
gefühlt. Wo ist der Ort zum Fragen?
Nicht hinter jeder Meinung muss Fachwissen stehen. In einem Land mit 83
Millionen Bundestrainer*innen zu wohnen, ist witzig. Doch in einem mit
83 Millionen Virolog*innen – wir erinnern uns – schon weniger.
Dass alle so überzeugt wirken, könnte daran liegen, dass jede Person nur
über ihr Lieblingsthema spricht, in das sie sich hart reingenerdet hat. Das
würde zur Social-Media-Strategie passen, sich eine Nische zu suchen und
sich in dieser als Expert*in ein Following zu sammeln. Doch das kann
nicht der einzige Grund sein. Dafür wechseln die Themen zu oft. Und die
Fragenden und Zweifelnden sind nicht nur aus sozialen Medien verschwunden:
In Talkshows sitzen sie nicht. Und auch auf vielen Podiumsdiskussionen, die
ich besuche, kommen Fragen nur aus dem Publikum. Panelist*innen höre
ich selten sagen: „Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht kann jemand
anderes das beantworten?“
## „Quelle???“ ist mehr Provokation, als Frage
Die Frage nach Quellen sehe ich häufig. Im Kontext aber meistens:
passiv-aggressiv. Wer „Quelle???“ kommentiert, will eher ausdrücken, dass
man das Gesagte für unglaubwürdig hält, als zu fragen, woher der
interessante Inhalt kommt, zu dem man gerne mehr erfahren will.
Meine Hemmung, öffentlich Fragen zu stellen, wird dadurch verstärkt, dass
ich immer öfter und meist in harschem Ton aufgefordert werde, über Themen
zu schreiben, von denen andere wesentlich mehr Ahnung haben als ich. Über
Speziezismus soll ich schreiben, über Gaza, Sudan und Antisemitismus. Und
„der Osten“ kommt in meinen Texten auch zu wenig vor. Lieber lese und teile
ich Einordnungen mit Expertise, als so zu tun, als hätte ich selber welche.
Nur wenige freuen sich, wenn ich ihnen dann Texte von Autor*innen
empfehle, die ich auf dem jeweiligen Gebiet interessant finde. Die meisten
wollen gar nicht an mehr Expertise weitergeleitet werden. Es geht ihnen
auch nicht um Wissen, sondern um Senf. Meinen Senf. Meine Meinung als
Bekenntnis, dass mir dieses oder jenes Thema wichtig genug ist. Je mehr ich
weiß, je eindeutiger ich meine Haltungen hinaustrage, desto besser bin ich
wohl als Verbündete.
Mich erinnert diese Erwartung an eine verhärtete Position aus der Critical
Whiteness: „Wenn du erst fragen musst, was daran rassistisch ist, hast du
dich noch nicht damit befasst. Und das ist rassistisch.“ Das ist kein
einladendes Angebot zur Weiterbildung.
Wenn ich Kolleg*innen frage, warum sie ihre Kolumnen, Blogs oder
Social-Media-Aktivitäten eingestellt haben, ist die Antwort häufig, dass es
gerade genug Meinungen gebe, sie aber aktuell mehr Fragen haben als
Antworten. Statt ihren Senf rauszuhauen, wollen sie mehr recherchieren und
forschen. Mir geht es ähnlich. Doch ich wünsche mir, dass wir Wege finden,
öffentlicher zu suchen, laut nachzudenken und uns gegenseitig Fragen zu
stellen und zu beantworten. Wer Wissenslücken und unbezogene Positionen
sichtbarer macht, kann helfen, auch Meinungsbildungsprozesse cool zu
machen.
13 Jun 2025
## AUTOREN
Simone Dede Ayivi
## TAGS
Kolumne Diskurspogo
Journalismus
Diskurs
Nahost-Debatten
Social-Auswahl
Schwerpunkt Rassismus
Politisches Buch
Jair Bolsonaro
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