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# taz.de -- Gender-Trouble bei der „Welt“: Hauptsache Hitler
> Gendern? Geht gar nicht! Denn Adolf Hitler hat's erfunden! Oder, halt –
> doch nicht? Na dann. Arbeiten wir die Sache doch mal seriös auf, ok?
Bild: Berlin, 19. Januar 1919: Frauen in einem Wahllokal anlässlich der Wahl d…
Respekt. Wenn die Welt etwas dringend nötig hat, dann die Bereitschaft,
Fehler zu korrigieren. Und das hat Welt-Journalist Matthias Heine getan. In
einem am Mittwoch online publizierten Artikel, dessen Titel, für eine
Richtigstellung etwas überheblich, [1][„die ganze Wahrheit“] über die
„Nazis und das Gendern“ verspricht, stellt er klar: „Hitler begann Reden
mit Volksgenossinnen und Volksgenossen. Aber die Nationalsozialisten haben
solche, gendernden' Doppelformen nicht erfunden“.
So what?!, denkst du dir, auf die Idee wäre wohl auch keiner je gekommen:
Aber das genau war ja der Fall gewesen. Noch Ende April hatte Heine
[2][geschrieben]: „Vor 100 Jahren hat zum ersten Mal ein Politiker in
Deutschland gegendert“, und zwar sei das – na wer wohl: selbstverständlich
Adolf Hitler gewesen.
Und diese ausdrückliche Anrede beider Geschlechter nutze „sogar ein
Politiker wie Friedrich Merz“, drückte Heine noch ein bisschen aufs
Skandal-Pedal, „nicht ahnend, wer diese Marotte vor spätestens 100 Jahren
in die Sprache der Politik eingeführt hat“. Nämlich am 25. Juli 1925, und
zwar im so oft unterschätzten Zwickau, das sich doch gerade als
Kulturhauptstadt [3][mit gemeint] fühlen darf.
Diese Genderwahnvorstellung war supererfolgreich: Etliche Alteweißemänner
übernahmen sie ungeprüft wie eine ultimative Siegesnachricht, [4][bauten
ihre Kolumnen im Zeitmagazin darauf auf] und rieben es darin den
ideologisch verrannten Genderbefürworter*innen mal so richtig rein,
dass sie dieses „für das deutsche Selbstverständnis so zentrale[…]
Jubiläum“ ja wohl „nur in aller Stille“ begehen würden. Ha!, Der hätte
gesessen.
## Grober Unfug
Wenn nicht, ach!, das ganze grober Unfug gewesen wäre. Schon weil Matthias
Heines Genderbegriff zu weit geht: Das Deutsche hat, seit es entstanden
ist, offenbar immer schon mehrere Geschlechter gekannt und die durch
Endungen und Artikel kenntlich gemacht.
Die gleichberechtigte Nennung der weiblichen und männlichen Form steht,
außer bei der Wiederaufnahme des schönen barocken Wortes „Gästin“ in den
Sprachgebrauch, weniger im Fokus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Die kreist darum, ob die Sprachspiele, mit denen versucht wird, dem
Deutschen Geschlechtergerechtigkeit beizubringen, verboten gehören. Oder,
ob sie zu ermutigen sind.
Zugleich ist durch minimale Recherche zu klären: Das beschworene
sprachpolitische Ereignis ist keins. Zwar gibt es in Deutschland
systembedingt nur recht wenige politische Reden. Auch ist deren
Überlieferung leider lückenhaft, zumal, was die – soziolinguistisch
interessanten – Anredefloskeln angeht.
Aber zumindest seit dem in Mainz im September 1900 hat die SPD
zuverlässige, vollständige Wortlautprotokolle von ihren Parteitagen drucken
lassen. Alle sind online auf der Site der Friedrich-Ebert-Stiftung
verfügbar. Das ist kein entlegener Ort. Dort hätte sogar ein
Zeitmagazin-Kolumnist suchen und finden können, dass schon damals die
meisten Redner*innen durchgängig und selbstverständlich die Anrede
„Genossen und Genossinnen“ gebraucht haben, also jene „Doppelform“, von…
Matthias Heine schreibt. Bloß halt allumarmend, ein – allzuoft gebrochenes!
– Versprechen der Solidarität.
## Wichtiger Kontext
Hitlers feindliche Übernahme der Formel funktioniert für seine Zwecke, weil
er sie zugleich ausgrenzend völkisch erweitert. Und inhaltlich aushöhlt:
Dieses – na von mir aus – „Gendern“ hindert ihn nicht daran, den Frauen…
1919 gewonnene passive Wahlrecht gleich 1933 wieder zu entziehen.
Ja, der Kontext. Der ist wichtig, wichtiger als die Ursprungsfrage, die nur
zu polemischen Zwecken aufgeworfen wird. Sie ist bei Sprache, die ganz
wesentlich ihr eigener Wandel ist, fast nie ganz zu klären – und zugleich
von zweifelhafter Aussagekraft. Was würde es denn bedeuten, wenn Hitler
tatsächlich als erster Mensch gegendert hätte? Wäre damit irgendetwas über
das gegenwärtige Gendern gesagt?
Feststellen lässt sich hingegen: Die Möglichkeit, die Geschlechter
gleichermaßen zu adressieren, hat immer schon eine weltgestaltende, also
politische oder besser: ideologische Dimension.
Wenn Luther in seiner Bibelübersetzung 1534 mit einem seit dem Mittelalter
geläufigen Wortspiel das Verhältnis von [5][Mennin und Mann] klärt, ist das
ebenso ideologisch wie der Versuch, jeden kreativen sprachlichen Umgang mit
der Pluralität der Geschlechter als ideologisch zu verteufeln. Um ihn dann
ordnungsrechtlich zu unterbinden, um die Sprache vor vermeintlicher
Verunstaltung zu bewahren. Auch eine vom unheilvollen Nachleben der
Diktaturen durchwirkte Sprache wie die deutsche sollte das nicht nötig
haben. Denn „sie, die Sprache“, hat der Dichter Paul Celan 1958 in seiner
Bremer Rede gesagt, „blieb unverloren, ja, trotz allem“.
28 May 2025
## LINKS
[1] https://www.welt.de/kultur/plus256177128/ns-sprache-die-nazis-und-das-gende…
[2] https://www.welt.de/kultur/plus256007600/VolksgenossInnen-Gendern-wie-Hitle…
[3] https://c2025.zwickau.de/
[4] https://www.zeit.de/zeit-magazin/2025/20/harald-martenstein-sexismus-lego-g…
[5] http://www.zeno.org/Literatur/M/Luther,+Martin/Luther-Bibel+1545/Das+Alte+T…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Sprache
Gendern
Bibel
Kanzler Merz
Kolumne Aus dem Leben einer Boomerin
Kolumne Unisex
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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