| # taz.de -- Queere Bewegungen: Mehr als nur Glitzer | |
| > Die CSD-Saison beginnt und unser Autor ist genervt: Über Marsha P. | |
| > Johnson weiß kaum jemand Bescheid, hypersexualisiert und unpolitisch | |
| > findet er die meisten Paraden. | |
| Bild: Marsha P. Johnson – hier im Juni 1982 in New York – war bei Stonewall… | |
| Schwul sein heißt für viele Männer: Sex, Selfies, Pumpen und Party. Diese | |
| vier Aspekte sind für sie nicht nur Teil des Lebens, sondern fest mit ihrer | |
| Identität verwoben. Denn viele in der Community verwechseln Hedonismus mit | |
| Charakter und zeigen das unverhohlen, halb nackt tanzend, auf den jetzt | |
| startenden Christopher-Street-Day-Paraden in ganz Deutschland. | |
| Wir Homosexuelle haben uns in unseren Privilegien eingerichtet. Wir feiern, | |
| als gäbe es kein Morgen, während die Rechten längst dabei sind, uns die | |
| Zukunft zu nehmen. Doch politische Haltung, die über Sexpositivität | |
| hinausgeht, suche ich oft vergeblich, vor allem bei den großen CSDs. | |
| Dabei können wir genau wegen dieser Haltung heute so offen feiern. | |
| Der Stonewall-Aufstand in der Nacht vom [1][27. auf den 28. Juni 1969 war | |
| der Wendepunkt für die moderne queere Bewegung]. Nach einer Polizeirazzia | |
| im Stonewall Inn, einer Bar im New Yorker Greenwich Village, wehrten sich | |
| queere Menschen – viele davon trans, Schwarze und Latinx – erstmals | |
| kollektiv gegen Diskriminierung und Polizeigewalt. Die Proteste dauerten | |
| mehrere Tage und wurden zum Symbol für Widerstand gegen Unterdrückung. | |
| Eine der wichtigsten Figuren dieser Nächte war Marsha P. Johnson, eine | |
| Schwarze trans Frau und Dragqueen. Gemeinsam mit Sylvia Rivera gründete sie | |
| die Organisation STAR, die sich um obdachlose queere Jugendliche kümmerte – | |
| ein Akt echter Solidarität, während der Mainstream der Schwulenbewegung | |
| sich lieber auf „respektable“ Anliegen konzentrierte. | |
| ## Wir haben Stonewall viel zu verdanken | |
| Marsha P. Johnson war bei Stonewall eine der Ersten, die Widerstand | |
| leisteten. Ihr Mut machte sie zur Ikone, doch in den Folgejahren wurde sie | |
| von der weißen, bürgerlichen Schwulen- und Lesbenbewegung oft ignoriert. | |
| Viele wollten sich von den „unbequemen“ Transpersonen und People of Color | |
| distanzieren, um gesellschaftlich akzeptabler zu erscheinen. | |
| Marsha P. Johnson kämpfte trotzdem weiter. Sie starb 1992, verarmt und am | |
| Rande der Gesellschaft. Ihr Vermächtnis lebt in der queeren Bewegung | |
| weiter, auch wenn viele ihren Namen erst jetzt wiederentdecken. | |
| Stonewall war kein Startschuss zu einer Party, sondern zu einem politischen | |
| Kampf. Es waren die Mutigen, die Marginalisierten, die für unsere heutigen | |
| Freiheiten kämpften. Wer den CSD feiert, sollte wissen: Ohne Marsha P. | |
| Johnson und viele andere trans und PoC-Aktivist*innen gäbe es diese | |
| Freiheiten nicht. | |
| Doch wenn ich auf den CSDs frage, ob jemand Marsha P. Johnson kennt – oder | |
| wenigstens die Geschichte von Stonewall –, blicke ich oft in fragende, | |
| besoffen-glasige Augen. Mich verwundert das wenig, denn der CSD, der | |
| inklusiv sein sollte für alle Farben des genderqueeren Spektrums, ist zu | |
| einer weißen Hunkparade verkommen. Man besäuft sich auf der Suche nach dem | |
| nächsten Abenteuer. | |
| ## Zieht euch bitte etwas an | |
| Ich habe auf vielen CSDs gehört: „Er darf nicht zu politisch werden. Das | |
| wollen die Leute nicht.“ Dann sollen sie halt zu Hause bleiben! Denn | |
| Gleichberechtigung und die Verteidigung queerer Rechte sind kein | |
| Spaßprogramm, das nur mit Party funktioniert. | |
| Klar, auch politische Veranstaltungen sollen Spaß machen. Aber warum müssen | |
| wir unsere sexuellen Fantasien und Abenteuer des Nachtlebens während eines | |
| Familienevents am hellichten Tag ausleben? Sieht so das queere Leben aus, | |
| das wir im Alltag führen? Nein. Es ist ein Teil der Subkultur, den wir | |
| sonst bewusst in die Nacht verlegen – wie Heteros auch. | |
| Beim CSD sind auch Kinder anwesend. Es soll ein Familienfest sein, aber ich | |
| kann manchen so tief in den Gluteus maxismus blicken, dass ich mich frage, | |
| ob das nicht besser auf die Afterparty gehört. Rechte Kräfte behaupten | |
| ohnehin ständig, wir würden Kinder einer Frühsexualisierung aussetzen. | |
| Dieses Vorurteil müssen wir nicht auch noch bestätigen. Ich möchte meinem | |
| Neffen zeigen, dass jede Form von Liebe Respekt verdient – nicht, welchen | |
| Fetisch sein Onkel hat. | |
| Der CSD ist leider zum performativen Karneval verkommen. Auch deshalb habe | |
| ich keine Lust mehr auf die großen Veranstaltungen. Die Bühne gehört dort | |
| den weißen, muskulösen, cis Gays, die in der Werbung für Diversity stehen, | |
| solange sie das Schönheitsideal darstellen. Der Rest? Randfiguren. | |
| Asexuelle Menschen, Lesben, PoC … fühlen sich oft nicht angesprochen oder | |
| sogar ausgeschlossen. Gerade diese hypersexualisierten, aufgepumpten Männer | |
| sind das schwule Äquivalent zu betrunkenen Fußballfans, die grölend in die | |
| Bahn steigen. Ist es das, was sie meinen, wenn sie von Gleichberechtigung | |
| sprechen? So toxisch sein, wie die Heteros? | |
| ## Auf dem Land muss man mutig sein | |
| Die kleinen CSDs auf dem Land sind oft politischer, solidarischer und | |
| echter. Dort geht es um Inhalte, Sichtbarkeit und Community. Es gibt | |
| Sprechbeiträge, es wird diskutiert, gestritten, geweint und gelacht. Man | |
| [2][spürt die Gefahr von rechts unmittelbar]. Wir erinnern uns an die | |
| Angriffe in Bautzen und Leipzig. Diese CSDs sind noch nicht so „pinkwashed“ | |
| und banalisiert, weil die Menschen noch unmittelbar spüren, wofür sie | |
| kämpfen. Ich wohne in Leipzig. Wann wurde ich das letzte Mal dafür | |
| diskriminiert, schwul zu sein? Jahre her. Aber auf dem Land muss man mutig | |
| sein, um sich zu outen. | |
| Ich habe nichts gegen Sex und Party. Aber muss ich auf einer politischen | |
| Demo halb nackt tanzen, während am Rand die AfD Wahlstände aufbaut und | |
| queere Rechte im Bundestag unter Kanzler Friedrich Merz wieder zur | |
| Disposition stehen? Während trans Menschen in den USA um ihr Leben | |
| fürchten, weil der US-Präsident sie hasst? Während in Ungarn | |
| Regenbogenfamilien kriminalisiert werden? Während in Deutschland queere | |
| Jugendliche auf dem Land Angst haben, sich zu outen, und die Zahl der | |
| Übergriffe auf Homo- und Transsexuelle steigt? | |
| Viele, die heute auf dem CSD feiern, interessieren sich wenig für Inhalte. | |
| Sie gehen nicht zu den Sprechbeiträgen, sie hören nicht zu und wollen nicht | |
| diskutieren. Sie wollen feiern. Und die heterosexuelle Allys machen sich | |
| ein bisschen Glitzer ins Gesicht, feiern mit und fühlen sich ganz toll | |
| dabei. | |
| Wenn wir nicht aufpassen, sind unsere Rechte irgendwann weg und die Leute | |
| merken es nicht einmal. Vergesst nicht: Die Goldenen Zwanziger waren eine | |
| Hochzeit queerer Kultur – bevor die NS-Zeit innerhalb weniger Jahre alles | |
| zunichtemachte. | |
| ## Wir müssen wieder unbequem werden | |
| Ich will einen CSD, der wieder politisch ist. Einen CSD, der kämpft, | |
| solidarisch ist, unbequem bleibt. Einen CSD, der für alle da ist, nicht nur | |
| für die Privilegierten. Einen CSD, der nicht nur feiert, sondern auch | |
| erinnert. Der nicht nur konsumiert, sondern gestaltet. Einen CSD, der | |
| Haltung zeigt! | |
| Jetzt ist nicht die Zeit für Hedonismus. Es ist Zeit, unsere Rechte zu | |
| verteidigen, Privilegien zu reflektieren und sich mit der Geschichte | |
| auseinanderzusetzen. Die queeren Rechte werden uns gerade wieder Stück für | |
| Stück genommen – leise und schleichend. Und wir tanzen dazu. | |
| Dabei müssen wir wieder unbequem werden. Wir müssen kämpfen. Für uns. Für | |
| alle. Für die, die nicht laut sein können. Für die, die vergessen wurden. | |
| Für die, die noch kommen werden. | |
| Also: Zieht euch an, kommt raus, hört zu, macht mit. Es geht um mehr als | |
| Party. Es geht um alles. | |
| Dennis Chiponda ist der Host des Podcasts [3][„Mauerecho – Ost trifft | |
| West“] der taz Panter Stiftung. | |
| 1 Jun 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /50-Jahre-Stonewall-Unruhen/!560573 | |
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| Dennis Chiponda | |
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