| # taz.de -- Juergen Teller fotografiert Gedenkstätte: Wem gehört Auschwitz? | |
| > Juergen Teller hat die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau fotografiert. | |
| > Tragen seine Bilder dazu bei, die Erinnerung wachzuhalten? | |
| Bild: Winterliche Landschaft in Auschwitz-Birkenau. Eine der vielen Gruppen von… | |
| Die Überlebenden müssten sich damit abfinden, dass Auschwitz ihren immer | |
| schwächer werdenden Händen entgleite, schrieb Imre Kertész. „Aber wem wird | |
| es gehören? Keine Frage: der nächsten Generation und dann den | |
| darauffolgenden – natürlich solange sie Anspruch darauf erheben.“ Der | |
| Überlebende der Konzentrationslager konstatierte in seinem 1998 in der Zeit | |
| erschienenen Text „Wem gehört Auschwitz?“, dass Beschreibungen daran | |
| scheiterten, die mörderische Realität der Vernichtungslager zu erfassen. | |
| Den Holocaust zu „kommunizieren“ fordere einen hohen Preis, der oft [1][in | |
| Gestalt von Ästhetisierung und Kitsch] entrichtet werden müsse. Schon das | |
| Wort „Holocaust“ sei eine Stilisierung, eine gezierte Abstraktion der | |
| brutaler klingenden Wörter „Vernichtungslager“ und „Endlösung“. Je me… | |
| darüber gesprochen werde, desto mehr verschwinde die tägliche Routine der | |
| Auslöschung von Menschen aus dem Bereich des Vorstellbaren. | |
| Die wirkliche Frage sei, wie sich die Welt von Auschwitz, von der Last des | |
| Holocaust befreien solle. [2][Das sei eine natürliche Sehnsucht, selbst die | |
| Überlebenden ersehnten nichts anderes], hielt Kertész fest. Diese Prognose | |
| scheint sich heute auf eine Weise zu bewahrheiten, die Kertész sich nicht | |
| hätte vorstellen können. | |
| Die Täter kontrollierten fotografische Zeugnisse der Vernichtungslager | |
| streng. Angesichts des weitgehenden Fehlens von Fotografien oder | |
| Filmaufnahmen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie sowie der | |
| Tabuisierung des Sprechens über die Verbrechen begann bereits kurz nach | |
| Kriegsende eine grundlegende Debatte über die Fähigkeit fotografischer | |
| Bilder, Zeugnis von den Lagern abzulegen, die bis heute nicht beendet | |
| wurde. Es handelt sich dabei um eine Debatte über das Wesen der Fotografie, | |
| von Beweisen und der Erinnerung in Bezug auf Wahrheit und Geschichte. | |
| Mit der Zeit schwinden die letzten verbliebenen Zeugen. Zugleich wurde die | |
| privilegierte, durch den Abdruck von Objekten auf Film durch Licht geprägte | |
| Beziehung der Fotografie zur Realität überholt: Zuerst wurden die Bezüge | |
| digitaler Repräsentationen zur materiellen Realität schwächer; von KI | |
| erzeugte Bilder sind inzwischen Bilder ohne Ursprung, mit deren Hilfe eine | |
| alternative Realität geschaffen werden kann, die sich jenseits des Maßstabs | |
| von Wahrheit und Lüge befindet. | |
| ## Tellers Auge ist egalitär und hierarchielos | |
| Im vergangenen Jahr wurde Juergen Teller, einer der coolsten und | |
| provokantesten Modefotografen der Welt und ein gebürtiger Deutscher, von | |
| Christoph Heubner, dem energischen Geschäftsführenden Vizepräsidenten des | |
| Internationalen Auschwitz Komitees, in die Gedenkstätte des | |
| Vernichtungslagers in Polen eingeladen, um dort zu fotografieren. In | |
| Auschwitz, einem Komplex von über 40 Konzentrations- und | |
| Vernichtungslagern, wurden mehr als eine Million Menschen, die meisten von | |
| ihnen Juden, ermordet. Auschwitz ist nicht nur ein Ort, sondern auch ein | |
| Symbol für den Holocaust und die Dilemmata von Dokumentation und | |
| Repräsentation. | |
| Im Dezember 2024 besuchte Teller, der seit den 1980er Jahren in London lebt | |
| und vor allem für seine gewagten Porträts von Celebrities bekannt ist, mit | |
| seiner Frau Dovile Drizyte und seinem Verleger Gerhard Steidl für einige | |
| Tage Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau). Das Ergebnis, ein gut | |
| gemachtes Buch mit dem Titel „Auschwitz Birkenau“, erschien im März 2025 im | |
| Steidl Verlag in Göttingen. Es enthält über 800 mit einem iPhone im | |
| bekannten Stil Tellers aufgenommene Bilder, die den historischen und | |
| touristischen Ort abtasten. | |
| Während die Pressemitteilung das Ergebnis als „visuellen Atlas“ und eine | |
| „beeindruckende Bestandsaufnahme“ beschreibt, scheint die Methodik der | |
| Organisation der Bilder sinnlich und intuitiv zu sein. Obwohl es Karten und | |
| einen losen Index gibt, wird Wirkung durch Vielfältigkeit und Wiederholung | |
| erzeugt, zu sehen ist eine schwer überschaubare Menge an schnell gemachten | |
| Bildern. | |
| Tellers Auge ist egalitär und hierarchielos. Zu sehen sind Panoramen von | |
| Baracken mit und ohne Besucher, Winterlandschaften in Dämmerung und Nebel – | |
| ein Wald, ein Teich, grün-braune Wiesen, rote Beeren, ein gelb-roter Bus. | |
| Der bekannte Elektrozaun, Innenansichten einer Gaskammer, das berühmte | |
| Schild über dem Eingangstor „Arbeit macht frei“. Es gibt auch heimlich von | |
| Häftlingen angefertigte Zeichnungen und Kinderzeichnungen zu sehen, | |
| Krematoriumsöfen, Eisenbahnschienen, Stapel leerer Zyklon-B-Dosen, | |
| Nahaufnahmen von Türen, Rohren, Ziegelsteinen, Rissen und Flecken an | |
| Wänden. Neben Trivialitäten wie einem Einfamilienhaus auf der anderen Seite | |
| des Lagers, elektrischen Straßenschildern, Eisständen für Besucher, einem | |
| Souvenirladen, Wartungsarbeitern. | |
| ## Zeigen, was man nicht sehen kann | |
| „Es zeigte gar nichts“, sagte Jean-Luc Godard über das neun Stunden lange | |
| Dokumentarfilmprojekt „Shoah“ von Claude Lanzmann von 1985, das | |
| ausschließlich aus Interviews und Aufnahmen von Orten montiert ist. | |
| Lanzmann argumentierte, dass Bilder, dokumentarisch oder fiktiv, das | |
| Gegenteil von dem erreichten, was sie zu tun vorgeben: Sie schirmten den | |
| Betrachter von den Grausamkeiten ab, die sie zeigen. Godard, der in | |
| „Histoire(s) du cinéma“ von 1988 Bilder aus den Lagern verwendete, glaubte | |
| an die erlösende Kraft von Bild und Montage. Beide Standpunkte sind von | |
| theologischen Konzepten geprägt. Auf der einen Seite das „Undarstellbare“, | |
| eine Variante des jüdischen Bilderverbots, auf der anderen Seite der | |
| christliche Glaube an die Präsenz und Macht des Bildes, deutlich sichtbar | |
| in der Ikonenmalerei. | |
| Es ist unmöglich, Tellers Buch nicht im Zusammenhang dieser Debatte | |
| anzuschauen. Aber was zeigt es? Welchen Zugang zu dem in Auschwitz | |
| stattgefundenen Ereignis verschafft uns der Überfluss von Bildern? Trotz | |
| (oder gerade wegen) des Umfangs lautet die Antwort: Leider wenig. Auf einer | |
| der letzten Seiten des Buchs erscheinen als kontrastierender Endpunkt auch | |
| die vier Bilder, die im Sommer 1944 in Auschwitz-Birkenau von Häftlingen | |
| des Sonderkommandos aufgenommen wurden, die dafür ein großes Risiko | |
| eingingen. Die Häftlinge des Sonderkommandos mussten die Körper der | |
| Ermordeten aus den Gaskammern in die Krematorien bringen und wurden als | |
| Zeugen des Verbrechens regelmäßig ausgetauscht und dann ermordet. | |
| Ihre Aufnahmen zeigen eine Gruppe nackter Frauen, die wahrscheinlich in die | |
| Gaskammer getrieben werden. Ein anderes Foto dokumentiert die Verbrennung | |
| übereinander geworfener Leichen. Diese Fotos sind die einzigen, die den | |
| Vorgang der Vernichtung in den Gaskammern dokumentieren. Sie können | |
| durchaus als die wichtigsten der Geschichte angesehen werden. Sie sind in | |
| zweifacher Hinsicht performativ: erstens durch die Bedingungen ihrer | |
| Herstellung – ein komplizierter, lebensgefährlicher Akt – und zweitens | |
| durch die Informationen, die seitens der Opfer an jemanden übermittelt | |
| werden sollten, der helfen könnte. Die in Auschwitz gezeigten Fotografien | |
| haben jedoch weder ihre Schöpfer noch sonst jemanden gerettet. | |
| Paradoxerweise dienen diese Fotos, obwohl und gerade weil ihr Wahrheitswert | |
| verzerrt wurde – die Negative sind verloren gegangen und die seit 1985 im | |
| Museum befindlichen Fotos sind teilweise retuschiert, als ultimatives | |
| Zeugnis der Gaskammern. Sie zeigen, was man nicht sehen kann. | |
| Bei Teller sind sie gerahmt an einer Betonwand hängend zu sehen. Sie | |
| gehören zu [3][einer Installation von Gerhard Richters Zyklus „Birkenau“]. | |
| Heubner, dessen Lebensaufgabe es ist, „die Erinnerung wach zu halten“, | |
| organisierte auch [4][die Dauerausstellung dieses Zyklus am Ort des | |
| Verbrechens]. Für „Birkenau“ projizierte Richter die Bilder des | |
| Sonderkommandos auf vier große Leinwände und begrub sie unter Schichten | |
| pastöser Farbe. Was bedeutet es, „die Erinnerung wach zu halten“? Richters | |
| „Birkenau“ hat die vier paradigmatischen und heroischen Fotos aus Auschwitz | |
| jenseits von akademischer Forschung und Gedenkstätten ans Licht der | |
| Öffentlichkeit gebracht. „Birkenau“ ist ein Schlusspunkt in Richters Werk, | |
| aber er eröffnet auch ein Gespräch. Tellers Buch hingegen bleibt eine | |
| Sammlung von Fotos, die eine Gedenkstätte abbilden. | |
| 1 Jun 2025 | |
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