# taz.de -- Atemtherapeut über Stress und Angst: „Wir bringen den Atem wiede… | |
> Unsere Gesellschaft ist chronisch überfordert. Der Atemtherapeut | |
> Christian Großheim über Stress, Körperbewusstsein und die Rückkehr zu | |
> einem natürlichen Atem. | |
Bild: Einatmen, strecken, ausatmen, entspannen: zwei Frauen bei der Atemübung … | |
„Zuletzt blies Gott dem Menschen den Odem des Lebens in seine Nase, der | |
daraufhin ein lebendiges Wesen wurde“, heißt es in der Genesis. Seitdem | |
muss der Mensch etwa 20.000 Mal täglich atmen, um am Leben zu bleiben. | |
taz: Herr Großheim, mit welchen Problemen kommen die Leute in Ihre Praxis? | |
Christian Großheim: Das Spektrum der Klienten ist sehr groß. Das fängt an | |
bei Menschen, die körperliche Probleme oder mit Atemwegserkrankungen zu tun | |
haben. Aber die meisten leiden eigentlich unter Stresssymptomen. Sie haben | |
eine hohe Infektanfälligkeit, können nachts nicht schlafen, leiden unter | |
Arbeitsdruck. Das ganze Spektrum von psychischen Einschränkungen ist dabei, | |
etwa Angst und Depression. | |
taz: Wie sind Sie in diese Thematik hineingeraten? | |
Großheim: 1975 war ich in Westberlin und damals haben viele engagierte | |
Linke die Rebellionsidee aufgegeben und sich gesagt, wir müssen jetzt nach | |
innen gehen, also zur Selbsterkenntnis gelangen. Und vorher gab es schon | |
eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich, der ebenfalls vom politischen | |
Engagement zu einer körperorientierten Therapie gelangte. Dabei hat er sich | |
unter anderen von Elsa Gindler unterrichten lassen. | |
taz: In den Zwanzigerjahren entwickelten sich viele neue politische und | |
therapeutische Ansätze … | |
Großheim: Es gab damals schon eine Befreiungsbewegung von Frauen, die | |
ihren Körper neu entdecken wollten, auf eine andere Weise als die Medizin | |
das vorgegeben hatte. Frauen aus den Bereichen Gymnastik, Theater, Tanz, | |
Musik und Kunst, die dann diese Körperarbeiten entwickelt haben, rein | |
erfahrungsorientiert. Da war erst mal keine Theorie dahinter oder das, was | |
man Wissenschaft nennt. Diese Frauen haben einfach gesagt, wir wollen uns | |
anders erleben als die Gesellschaft und die männlich dominierte Medizin uns | |
abverlangen. Der Faschismus hat diese ganze Bewegung unterbrochen. Nach | |
1945 wurde dann wieder an die Zwanzigerjahre angeknüpft. Etliche | |
Protagonisten kamen aus dem Exil zurück. Und im Zuge der | |
Studentenbewegung, der Protest- und Hippiebewegung wurden diese ganzen | |
Ansätze auch hier übernommen. | |
taz: Worum geht es in der Therapie? | |
Großheim: Es geht darum, eine gute eutonische Haltung einzunehmen. | |
Eutonisch meint, dass die Muskulatur in einer guten Spannung ist. Schultern | |
sind weder eingerollt noch zu sehr nach hinten gedrückt. Der Kopf ist | |
aufgerichtet und ich kann über die Beingelenke immer eine kleine Bewegung | |
zulassen. Das wäre eine gute, präsente Haltung, wo auch die Atembewegung | |
fließen kann. Und alles, was davon abweicht, das wäre zu korrigieren. Also | |
wir achten auf die Körperhaltung: wie jemand in die Praxis kommt, wie | |
jemand sitzt und sich bewegt. Daran können wir schon einiges ablesen. Es | |
geht dabei nicht um eine fixe Zuordnung – „Der ist depressiv“ oder „Der… | |
Angst“. Wir beobachten intensiver und reden miteinander. | |
taz: Es gibt eine sehr seltene Krankheit, bei der die Leute nicht mehr | |
automatisch atmen können. Was macht man mit denen? | |
Großheim: Die sind zum Tode verurteilt, wenn sie keine Hilfe finden. Man | |
kann auch mit einer völlig reduzierten Atmung überleben, aber die | |
Lebensqualität ist sicherlich sehr gering. Der Atem unterscheidet sich von | |
allen anderen vegetativen Funktionen, also Verdauung, Herzschlag, | |
Schlaf-Wach-Rhythmen, Hunger, dadurch, dass man ihn mit dem Willen direkt | |
beeinflussen kann. Du kannst sagen, ich versuche mal, mit dem Bauch zu | |
atmen. Es gibt viele Atemtechniken, bei denen man versucht, mit bestimmten | |
Zählweisen zum Beispiel den Atem zu beeinflussen. Während du einatmest, | |
zählst du bis vier. Dann hältst du den Atem an und zählst währenddessen bis | |
sieben. Und wenn du bis sieben gezählt hast, atmest du aus und zählst dabei | |
bis acht. Das ist die berühmte 4-7-8-Methode. Das wirkt beruhigend oder ist | |
für Leute, die schlecht einschlafen können. | |
taz: Das wäre also eine willentliche Atembeeinflussung. | |
Großheim: Genau. Aber in unserer „Atempraxis“ machen wir keine Atemtechnik, | |
sondern wir versuchen, über bestimmte Übungen in der Gruppe oder durch eine | |
bestimmte Behandlung auf der Liege, den natürlichen Atem wieder ins | |
Bewusstsein zu bringen und ihn auch zu verändern. Aber dies nicht mit dem | |
Willen, sondern durch eine innere Haltung der Aufmerksamkeit, durch eine | |
bestimmte Weitung des Körpers, Dehnung, Bewegung, Arbeit mit der Stimme … | |
Die Atembewegung, bei der sich das Zwerchfell in den Bauchraum zieht und | |
die Zwischenrippenmuskeln sich weiten und den Brustkorb weit machen, ist | |
bei den meisten Menschen gestört. Weil alles, was einen Menschen betrifft – | |
seine psychische Situation, seine soziale Situation, seine Arbeit, seine | |
Gesundheit und so weiter, wirkt sich auf diese Atembewegung aus. Wenn | |
jemand chronisch verspannt und verkrampft ist, kann der Atem nicht fließen. | |
Dann ist er kurz und geschieht vielleicht nur im oberen Brustkorb. Er läuft | |
auf Sparflamme. Und wir versuchen, diese Atembewegung wieder ins Fließen zu | |
bekommen. | |
taz: Haben Sie den Eindruck, dass es mehr Patienten werden, weil die | |
gesellschaftlichen Zustände und die Aufklärung die [1][Leute bewusster | |
machen, was ihr Wohlbefinden betrifft]? | |
Großheim: Ja, die Achtsamkeit wird geradezu propagiert. Das Wort taucht | |
inzwischen sogar in der Werbung auf. Aber es gibt immer so Wellen: Mal | |
kommen viele Leute zu uns, mal nur wenige. Das ist bei allen | |
Atemtherapeuten so. | |
taz: Gleichzeitig steigen die Stresssymptome und Ängste und seit Corona | |
auch die Depressionen. | |
Großheim: Dazu gibt es mittlerweile Zahlen, unter anderem die jungen Leute | |
betreffend. Andererseits gibt es bei den jungen Frauen heute ein | |
Vorwärtsstreben. Aber je mehr verantwortliche Positionen und bessere Jobs | |
sie einnehmen, desto mehr Stress haben auch sie. Und sie sind außerdem | |
mehrfach belastet und nehmen sich immer mehr vor. | |
taz: Also gibt es einen [2][erhöhten Bedarf an Therapie]? | |
Großheim: Die Atemarbeit war lange Zeit eine Art Selbsterfahrung. Die | |
Gesellschaft hat sich jedoch radikal verändert. Wir leben jetzt in einem | |
neoliberalen Kosmos, in dem die Arbeitsverhältnisse ganz anders geworden | |
sind, schwieriger, und der Leistungsdruck gestiegen ist. Hinzu kommen die | |
Krisen und Kriegsängste. Das unterscheidet die Leute, die heute zu uns | |
kommen, von denen, die in den Sechziger- und Siebziger- bis in die späten | |
Achtzigerjahre kamen. Diese waren nicht unbedingt krank, sie haben das aus | |
Gründen der Selbsterfahrung gemacht und kamen nicht aus Not in die Praxen. | |
Heute kommen sie mit Symptomen – psychischen oder psychosomatischen. | |
taz: Ist der Atem das Leben, wie es die Bibel nahelegt? | |
Großheim: Der Atem ist sicherlich nicht das Leben, aber er ist ein | |
lebenstragendes Prinzip, denn es ist klar, ohne Atem kein Leben. Bei den | |
Griechen waren noch der Atem und die Seele eine Einheit. Wenn wir jetzt mal | |
die Angst nehmen, die Lebensangst, und wenn du dann lernst, bei uns in der | |
Praxis, dass der Atem wieder freier wird und die Enge sich transformiert | |
ins Weite. Dann ist sicherlich schon etwas gegen die Angst getan. Und das | |
ist dann auch eine seelische Qualität. | |
5 Jun 2025 | |
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Helmut Höge | |
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