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# taz.de -- Soziologe vor Wahl in Venezuela: „Soziale Ungleichheit wie noch n…
> Am Sonntag sind in Venezuela Parlamentswahlen – die Opposition
> boykottiert diese. Das Land stecke in einer schweren Krise, sagt Edgardo
> Lander.
Bild: „Der Staat hat aufgehört zu funktionieren.“ Menschen an einer Essens…
taz: Herr Lander, [1][viele Menschen haben Venezuela verlassen.] Warum
haben Sie das nicht getan?
Edgardo Lander: Hier sind meine Wurzeln, hier leben meine Familie und meine
Freunde. Aber wegen der Repression weiß man nie, wann man keine andere Wahl
hat als zu gehen. Die Tatsache, dass ein Viertel der Bevölkerung das Land
in den letzten zehn Jahren verlassen hat, ist auch einer der Gründe, warum
der Widerstand gegen die autoritäre Herrschaft heute so schwach ist.
taz: Wie geht es denen, die im Land bleiben?
Lander: 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 20 Prozent haben keine
Sorgen. Das ist eine soziale Ungleichheit wie nie zuvor in unserer
Geschichte. Und es gibt noch weitere Indikatoren, wie die Unterernährung
bei Kindern, die dramatische Verschlechterung des Bildungsniveaus oder das
Wiederauftreten von Krankheiten, die verschwunden waren. Die Löhne im
öffentlichen Sektor sind kaum noch etwas wert. Der Mindestlohn beträgt nur
noch drei Dollar pro Monat. Der Staat hat aufgehört zu funktionieren.
taz: Was ist mit denen ohne Sorgen?
Lander: Die traditionelle Wirtschaftselite hat irgendwann erkannt, dass die
politische Opposition ihr Versprechen, [2][Chávez oder später Maduro]
abzusetzen, nicht würde halten können. Also begann sie, ein brüderliches
Verhältnis mit den neuen Reichen und dem Militär aufzubauen, die einen
großen Teil der Wirtschaft kontrollieren und davon profitieren.
taz: Es heißt, dass man gut leben kann, wenn man Dollar hat. Stimmt das?
Lander: Ja, der Zugang zu Dollar bestimmt, wer gut leben kann und wer
nicht. Vor fünf Jahren beschloss die Regierung, die Preiskontrollen der
Chávez-Zeit nach und nach aufzuheben. Gleichzeitig hat sie die
Einfuhrsteuern schrittweise abgeschafft. Heute kann alles importiert werden
und man kann alles, wirklich alles, kaufen. Mit dem kleinen Problem, dass
man dafür Dollar braucht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keine.
taz: Am Betrug bei der [3][Präsidentschaftswahl im Juli 2024] besteht kein
Zweifel. Gab es dennoch einen Moment, in dem Sie dachten, Nicolás Maduro
würde abtreten?
Lander: Nein, das war ausgeschlossen. Die gesamte Politik dieser Regierung
ist darauf ausgerichtet, an der Macht zu bleiben. Aber sie haben nicht mit
einer so schweren Niederlage gerechnet. Aus den von der Opposition
veröffentlichten Protokollen geht hervor, dass das Ergebnis etwa 70 zu 30
Prozent gegen Maduro ausfiel. Eine Fälschung war schlicht nicht möglich.
Also lösten sie einfach den Nationalen Wahlrat auf, erklärten Maduro zum
Sieger und das war's. Bis heute sind keine offiziellen Ergebnisse
veröffentlicht worden.
taz: Nach der Wahl kündigte Maduro an, dass seine Regierung ein
zivil-militärisch-polizeiliches Regime sein werde. Wie würden Sie dieses
Regime beschreiben?
Lander: Das einzig Neue daran ist das Wort Polizei. Regierung und Militär
sind seit langem verschmolzen. Die Vorstellung, dass das Militär die
Regierung unterstützt, ist daher irreführend. Hugo Chávez war ein Militär
und hat in allen wichtigen Gremien Militäroffiziere eingesetzt. Maduro
hingegen kam aus einer kleinen linken Partei, die keine Verbindung zum
Militär hatte und sogar eher antimilitaristisch eingestellt war. Um jedoch
die Loyalität der Militärs zu gewinnen, gewährte er ihnen noch mehr
Privilegien und Macht. Heute sind alle wichtigen staatlichen Unternehmen
mit Militärs besetzt, die auch bei Korruption und illegaler Bereicherung
eine zentrale Rolle spielen.
taz: In den Tagen nach der Wahl wurden viele Menschen willkürlich
verhaftet. Wie ist ihre Situation?
Lander: Von den etwa 2.000 Verhafteten befinden sich viele noch immer in
Gewahrsam. Heute gibt es mehr als 1.000 politische Gefangene. Viele sind
unter sehr prekären Bedingungen und weit weg von ihrem Zuhause inhaftiert.
Das Recht auf Verteidigung wird ihnen verwehrt. Viele der Verhafteten sind
junge Menschen, die gegen Wahlbetrug protestiert haben. 14-Jährige werden
beschuldigt, Terroristen zu sein. Ihre Mütter haben begonnen, sich in einem
Kollektiv zu organisieren. Auch wenn ihre kleinen Kinder freigelassen
werden, bleiben sie aktiv. Als „Mütter politischer Gefangener“ haben sie
inzwischen einen sehr starken symbolischen Wert.
taz: Es wird oft behauptet, dass Venezuela von Kuba aus regiert wird.
Stimmt das?
Lander: Kuba hat heute weniger Einfluss als früher. Die Entwicklung der
staatlichen Sicherheitsstruktur, wie Polizei und Geheimdienste, basierte
auf den kubanischen Erfahrungen. Kuba drängte auf einen Sozialismus, der
Sozialismus mit Etatismus gleichsetzt. Es wurde ein enormer Druck ausgeübt,
um die Verstaatlichung der Wirtschaft voranzutreiben. Dies führte zu einer
Katastrophe, weil es einfach an Managementkapazitäten mangelte.
Letztendlich kontrollierte der Staat einen großen Teil der Wirtschaft, der
jedoch durch Ineffizienz und Korruption gekennzeichnet war. Ein großer Teil
dieser verstaatlichten Wirtschaft überlebt nur dank der Subventionen, die
aus den Ölexporten stammen.
taz: Venezuela hat eine klassische Rentenokönomie. Alles basiert auf der
Ölförderung und dem Ölverkauf. Wie ist die Lage in diesem Sektor?
Lander: Die tägliche Ölförderung ist von 3,3 Millionen Fass auf
zwischenzeitlich 300.000 Fass gesunken. Derzeit liegt die Förderung bei 1
Million Fass pro Tag. Für ein Land, das 90 Prozent seiner Deviseneinnahmen
aus dem Ölhandel bezieht, ist das ein Kollaps. Der Wert der gesamten
Wirtschaftsleistung beträgt nur noch 25 Prozent dessen, was er vor zehn
Jahren war.
taz: Zu Zeiten von Hugo Chávez sahen die Dinge anders aus.
Lander: In den ersten Jahren der Chávez-Ära gab es zwei Säulen, die den
bolivarischen Prozess unterstützten. Die eine Säule war Chávez selbst mit
seiner Führungsstärke und seinem Charisma. Die andere Säule war der hohe
Ölpreis auf dem Weltmarkt. Plötzlich brachen beide Säulen fast gleichzeitig
zusammen. Chávez starb und der Ölpreis sank. Maduro trat sein Amt unter
völlig anderen Bedingungen an. Er hatte nie den Rückhalt in der
Bevölkerung, den Chávez hatte, und der fallende Ölpreis schränkte seinen
finanziellen Spielraum ein.
taz: Aber da sind auch noch die US-Wirtschaftssanktionen.
Lander: Die Sanktionen begannen während Donald Trumps erster Amtszeit und
betrafen den Finanz- und den Ölsektor. Venezuela wurde der Zugang zu
internationalen Krediten gekappt, einschließlich des Zugangs zu
Sonderziehungsrechten beim Internationalen Währungsfonds. Venezuela hat
Anspruch auf fünf Milliarden Dollar vom IWF, auf die es nicht zugreifen
kann. Zudem konnte Venezuela seine Auslandsschulden nicht tilgen, da der
Zugang zu einem großen Teil der von den USA kontrollierten Finanzsysteme
gesperrt ist. Hinzu kommt der Einbruch im Ölsektor, der nicht nur auf
mangelnde Effizienz und Korruption zurückzuführen ist, sondern auch auf die
Sanktionen. Beides hat brutale wirtschaftliche Auswirkungen. Und jetzt hat
Trump gedroht, alle Waren aus Ländern, die Öl aus Venezuela kaufen, mit
Einfuhrzöllen von 25 Prozent zu belegen. Es gibt bereits Länder wie Indien,
die erklärt haben, dass sie kein Öl kaufen werden. Sollte dies geschehen,
würde dies den Zusammenbruch dessen bedeuten, was von Venezuelas noch übrig
ist. Die Folge wäre eine Hungersnot.
taz: Wie reagiert das Regime?
Lander: Zum Beispiel durch den Einsatz unerkannter Tanker, die ihr
Identifikationssystem oder ihre GPS-Verbindung abschalten. Oder Tanker, die
auf hoher See Öl von einem Schiff auf ein anderes umladen. Das Öl wird zu
Preisen verkauft, die weit unter dem Marktpreis liegen, abgesehen von allen
damit verbundenen kriminellen Risiken und Korruption. Es hat Fälle gegeben,
in denen Tanker mit 800.000 Barrel Öl Venezuela verlassen haben, ohne zu
bezahlen.
taz: Das klingt so, als ob das Regime gezwungen ist, illegalen Handel zu
treiben.
Lander: Um zu überleben, muss es korrupt sein. Wenn Sie sich in die Lage
einer Regierung versetzen, die für die Versorgung der Bevölkerung mit
Lebensmitteln verantwortlich ist, der dies aber gleichzeitig international
verboten ist, dann bleibt ihr nur der Handel mit illegalen, korrupten
Unternehmen. Heute ist sie von einer internationalen Mafia-Wirtschaft
abhängig.
taz: Warum rebellieren die Menschen nicht?
Lander: Weil sie dann umgebracht werden.
23 May 2025
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## AUTOREN
Jürgen Vogt
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