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# taz.de -- Debatte über Musikdiskurs im Netz: Content kills the radio star
> Der US-Autor Anthony Fantano diagnostiziert das Ende des Musikdiskurses.
> Ist etwas dran an der alarmistischen Grabrede?
Bild: Kriegerinnen der Trollarmee von Taylor Swift
Das Verdikt von Anthony Fantano fällt eindeutig aus: „Music discourse is
dead.“ Mausetot sei die Debatte über Pop, urteilt der US-Autor. Seit mehr
als einem Jahrzehnt ist Fantano als „Internet’s busiest music-nerd“
bekannt. [1][Vor zwei Wochen veröffentlicht er ein zwölfminütiges Video bei
Youtube.]
Dabei handelt es sich um einen Abgesang. Fantano hält eine Trauerrede auf
eine seiner Meinung nach verlorengegangene Kulturform: das intelligente,
informierte, enthusiastische und beherzte Gespräch über die schönste
Nebensache der Welt – Musik. Auffällig ist, dass Anthony Fantano, der mit
den Konten „theneedledrop“ (3 Millionen Follower) und „fantano“ (1,9
Millionen) eine weltweite Fangemeinde versammelt, bislang nicht als
pessimistischer Nörgler in Erscheinung getreten war.
Er galt geradezu als personifizierte Ehrenrettung von Musikjournalismus.
Doch nun ist es um ihn geschehen. Selbst er, der Charakterkopf mit
Schnauzbart und Windsor-Brille, sieht die Musikkritik am Boden.
Wer die Resilienz des Pop- und Musikdiskurses immer noch behauptet – oder
wie das Kölner Online-Magazin „kaput“ in Form einer großangelegten
Fragebogen-Serie untersucht und dadurch implizit verteidigt –, darf sich
schon lange das Label des idealistischen Träumers anheften lassen. Merkmal
einer nicht mehr enden wollenden Saure-Gurken-Zeit.
## Hype um alternative Distributionswege im Netz
Mit dem Hype um Blogs als alternative Distributionswege, der Mitte der
Nuller einsetzte, wurde Musikjournalismus ein jähes Ende prophezeit. Das
hat sich nicht bewahrheitet. Trotzdem konnte der seit 20 Jahren anhaltende
Krisenmosus nur sporadisch überwunden werden.
Unterdessen wurden allein in Deutschland im letzten Jahrzehnt mit Intro,
Spex, Groove und De:Bug vier der wichtigsten überregionalen
Musik-Printmagazine eingestellt. Auch etliche Nischenprodukte zu Genres wie
Metal, Punk und Schwarze Szene haben entweder schon das Zeitliche gesegnet
oder ächzen laut.
Den US-Youtuber Fantano interessiert der deutsche Blätterwald wohl kaum.
Eher interessiert ihn etwa das Siechtum von [2][Pitchfork, dem einstigen
US-Branchenprimus der Onlinemagazine, das ab 1996 zur wichtigen
englischsprachigen Plattform für Musikjournalismus wurde. 2024 wurde
Pitchfork mit dem Männermagazin GQ fusioniert], woraufhin langjährige
Mitarbeiter*innen entlassen wurden und die Stammleser*innenschaft
geflüchtet ist.
Auch das renommierte Guitar Player Magazine wurde nach 56 Jahren
eingestellt. Liegt entsprechend das Wohl des Musikdiskurs in Onlineforen,
Blogs und Youtube-Kanälen? Fantano sieht auch deren Entwicklung kritisch.
Zwar habe es vor etwa 15 Jahren eine Umwälzung gegeben, als junge
Musikinteressierte aus Leidenschaft ihre Karrieren im Netz schusterten.
Viele stellten ihren Betrieb auf Dauer wieder ein. Zu viel Arbeit, zu wenig
Erlös, mehr und mehr Advertorial-Anfragen.
So verkam die Kritik allmählich zur (Hof-)Berichterstattung ohne Verve,
Interviews waren nur noch möglich, wenn man bereits im Vorhinein
journalistische Pflichten zur Transparenz über Bord warf. Sonst sagt das
Managment Nein und verweist auf die 50 anderen Blogs, die auch ein
Interview mit Künstler:in XYZ machen.
Die allmähliche Aushöhlung ist Leser*innen nicht entgangen. Musikblogs
gab es hüben wie drüben, wobei die deutsche Landschaft stets überschaubar
blieb – internationale Vermarktbarkeit kann man auf Deutsch vergessen. So
manches ambitionierte Hobby-Projekt, wie der beliebte HEY-Blog. ist
Geschichte. Andere, groß angelegte Seiten wie Diffus des Musikmanagers Beat
Gottwald produzieren sicher viel Content, aber: Unzählige Artikel zu
Kleinstbands und Heerscharen an Newcomern sind noch lange kein Beweis eines
gesunden Diskurses. Ganz im Gegenteil.
Deutschsprachige Feuilletons galten hingegen lange, aus uralter
bürgerlicher Tradition als die Gralshüter des Diskurses. Vielen
Autor*innen liegt inzwischen die eigene Kritikalität mehr am Herzen als
der Auftrag, die Leser*innen schlauer in die Welt zu entlassen, als sie
vorher waren. Oft geschieht dies auch noch, ohne überhaupt eine Haltung zu
vertreten.
## Überschattende identitätspolitische Fragen
Die großen identitätspolitischen Fragen unserer Zeit (von Coronapandemie
über Ukrainekrieg und Nahostkofnlikt zur Intersektionalität) wurden
zugleich zu bestimmenden Kategorien der Musikkritik. Hintenüber fiel
dagegen ihr eigentlicher Zweck: Einordnung der Musik; auf Expertise
basierende Bewertung; Verteidigung des Nachhaltigen – und im besten Falle
Erzeugen von Ekstase und Euphorie.
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Fakt ist jedoch: Nicht jedes
Sprechen bedeutet Erkenntnisgewinn. Gesprochen und geschrieben wird nämlich
weiterhin viel, primär in den sozialen Medien von Instagram bis Tiktok.
Dort wird aber nicht der Diskurs zelebriert, sondern ein Kulturkampf, der
draußen herrscht, online fortgeführt. Die berechtigte Kritik an den
antisemitischen Ausfällen des einstigen US-Starrappers Kanye West wird von
Heerscharen seiner Fans verweigert, Kritiker*innen werden bedroht.
[3][Dasselbe gilt für die Troll-„Armeen“ von Superstars wie Taylor Swift]
und Drake, die Kritik shitstormen. Aber auch im kleineren Rahmen wird nur
noch behauptet, nicht mehr diskutiert. Stattdessen wird gespamt,
downgevotet, die Beleidigung ad hominem gehört zum „guten Ton“. Warum das
so ist, bleibt schwierig zu beantworten. Die ständig bei X und seinen
korrekten Varianten wie Bluesky zelebrierte Polarisierung in „die Guten“
und „die Schlechten“ mag daran ihren Anteil haben.
## Spotify ist der Killer
Ein weiterer Diskurskiller ist die schiere Masse an Content. [4][Auf
Spotify werden täglich mehr als 100.000 Musikstücke (Stand 2023)
hochgeladen, das ist mehr, als früher in einem ganzen Jahr veröffentlicht
wurde. Wie soll dieser Output noch überblickt werden?]
Musikjournalist*innen tun ein Übriges: Instagram und Tiktok werden
mit Selbstverständlichkeit bespielt, Videos über Samples veröffentlicht,
pausenlos Gossip verbreitet und vor allen Dingen nach Skandälchen gesucht.
Ob das auf Dauer die Kritik voranbringt? Personenkult gehört zum Pop, keine
Frage, aber die neuen Formate durchwaten primär die flachen Gewässer der
Celebritykultur. Das gleiche gilt für die große Welle an Podcasts –
Personality steht hier vor Diskurs. Und auch der ganz neue Hype um
Newsletter, die von verschiedenen Autor*innen – international und in
Deutschland – an den Start gebracht werden, ist bloß ein Sturm im
Wasserglas.
Fantano wiegelt in seinem Video ab: Es gebe sie noch, die guten Ecken. Die
Seite „Rate Your Music“ etwa, die seit Jahren eine Oase in der Diskurswüste
darstelle, gehört genauso dazu wie Fantanos eigene Youtube- und
Twitch-Kanäle. Im deutschsprachigen Raum stechen im Hörfunk das freie
Netzradio byte.fm, sein Kölner Pendant 674.FM und der Sender „Cosmo“ trotz
einiger Idiosynkrasien heraus.
Kleinode gibt es auch im Digitalen: Florian Aigners „Inventur“, ein Blog
auf der Internetseite des Plattenhändlers HHV, publiziert seit Langem die
beste deutschsprachige Sammlung an Kurzkritiken. Gemein ist ihnen, nicht
ganz zufällig: Sie berichten aus den (globalen) Peripherien, nicht aus den
Hauptstädten und den Charts, sondern kommentieren von außen nach innen. Sie
sind damit alle (noch) ein willkommener Anlass im privaten wie öffentlichen
Raum zu diskutieren.
Und ja, eins sollte klar sein: Der Musikdiskurs, das sind wir alle. Wir
müssen ihn nur wieder feiern und praktizieren.
25 Apr 2025
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=jqqafzK6e8Y
[2] /Ende-der-Musikplattform-Pitchfork/!5987825
[3] /Taylor-Swift-in-Hamburg/!6022763
[4] /Probleme-beim-Musikstreaming-Boom/!6072418
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Diskurs
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