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# taz.de -- 50 Jahre Ende des Vietnamkriegs: „Geblendet von eigener Hybris“
> Vor 50 Jahren endete der Vietnamkrieg mit dem in Washington lange für
> unmöglich gehaltenen Sieg des Vietcong. Eine Analyse über Fehler und
> Lehren.
Bild: Saigon, 30. April 1975: Südvietnamesische Soldaten legen ihre Uniformen …
taz: Herr Greiner, der Vietnamkrieg endete am 30. April 1975. Warum ist er
so stark im Gedächtnis geblieben?
Bernd Greiner: Er war der längste heiße Krieg im Kalten Krieg; der mit den
meisten Opfern, auf vietnamesischer Seite etwa drei Millionen, von denen
mehr als die Hälfte Zivilisten waren. Prozentual war ihr Anteil an den
Kriegstoten höher als im Zweiten Weltkrieg. Es war ein klassisch
asymmetrischer Krieg, in dem materielle Überlegenheit nicht zählt und der
vermeintlich Stärkere verliert.
taz: Das waren die USA. Wie kam es dazu?
Greiner: In asymmetrischen Kriegen ist die Zeit der stärkste Verbündete des
vermeintlich Schwachen, also des Vietcong und der Armee Nordvietnams.
Solange der Schwache nicht verliert, hat er gewonnen, er muss „nur“
durchhalten. Die Zeit arbeitet gegen den Starken. Die USA kamen immer
stärker unter Druck der Öffentlichkeit und des Parlaments, insbesondere
wegen der hohen Ausgaben für einen Krieg, der erkennbar nicht für die
nationale Sicherheit geführt wurde. Später haben es die Taliban in
Afghanistan so ausgedrückt: Ihr habt Uhren, aber wir haben Zeit. Die knappe
Ressource Zeit führt beim Starken dazu, dass er immer weiter eskaliert,
weil er sich davon ein vorzeitiges Ende verspricht. Das konnten die USA in
Vietnam nicht erreichen. Ihre vermeintlich überlegene Streitmacht war auf
die Bedingungen dort nicht vorbereitet.
taz: Wie hielt der Vietcong so lange durch?
Greiner: Der Vietcong wurde massiv von der gut ausgebildeten und
ausgerüsteten Armee Nordvietnams unterstützt. Hinzu kam der psychologische
Faktor, dass eine ausländische Macht in Vietnams innenpolitischen
Konflikten intervenierte, was einen nachhaltigen Nationalismus auslöste.
Die USA hatten keine Vorstellung davon, welche Kraft verletzter Stolz und
Nationalismus entfesseln können. Zwar zögerte der Vietcong nicht,
diejenigen massiv unter Druck zu setzen, die seinen Kampf nicht
unterstützen wollten. Dies schloss auch politische Morde ein. Aber
Repression allein, ohne den Nationalismus samt antikolonialer Grundhaltung
und der Unterstützung aus dem Norden, hätte nicht den Ausschlag gegeben.
taz: Welche Fehler machten die USA?
Greiner: Sie hatten von Land und Leuten keine Ahnung und bemühten sich auch
nicht darum. Man war geblendet von der eigenen Hybris und Übermacht sowie
der Vorstellung, es hier mit einer viertklassigen Macht zu tun zu haben,
die auf Dauer kein ernst zu nehmender Widersacher sein würde. Man war
geblendet von den eigenen Ressourcen und der Vorstellung, man müsse nur
genug davon einsetzen, um zu siegen. Dabei war man militärisch chancenlos,
weil die eigene Armee nicht für einen Guerillakrieg vorbereitet war. Sie
stand noch in der Tradition des Zweiten Weltkriegs und einer Zeit, in der
es um große Feldschlachten und den Gewinn von Terrain ging, aber nicht um
das Gewinnen der Sympathie und Unterstützung der Bevölkerung. Der
übermäßige Einsatz von Gewalt samt der Taktik der verbrannten Erde in den
Dörfern mit vermeintlichen Stellungen des Vietcong entfremdete die
Bevölkerung, die man eigentlich gewinnen wollte.
taz: Konnten sich die sozialistischen Länder wie die UdSSR, China oder die
DDR durch den Krieg in Vietnam bestätigt fühlen?
Greiner: Es war ein riesiger Propagandaerfolg für die sozialistischen
Länder, eine Bestätigung ihrer Weltsicht und ihres antikolonialen
Begehrens. Das half zu vertuschen, dass ihre Solidarität mit der Dritten
Welt keineswegs immer selbstlos war.
taz: Warum löste der Krieg in den USA und westlichen Ländern breite
Proteste aus?
Greiner: Das sorgsam gepflegte Selbstbild der USA nach dem Sieg über
Nazideutschland wurde massiv beschädigt, also das Bild des moralisch Guten,
der im Kampf gegen den Totalitarismus stets lautere Mittel anwendet und
sich nicht die Exzesse zuschulden kommen lässt, die man von anderen Krieg
führenden imperialistischen Nationen kannte. In großen Teilen der
westlichen Welt bis nach Japan konnte man in der jungen Generation zu der
Zeit auch eine Grundsympathie für antikoloniale Bewegungen beobachten.
taz: Welche Rolle spielten die Medien?
Greiner: Die amerikanischen Medien behaupten gern, sie hätten entscheidend
zum Ende des Kriegs beigetragen. Eine maßlose Selbstüberschätzung. Der
Krieg wurde auf dem Schlachtfeld verloren, nicht in Schreibstuben. Die
kritische Berichterstattung setzte sehr spät ein und war nur von kurzer
Dauer.
taz: Laut dem damaligen US-Oberbefehlshaber Westmoreland wurde der Krieg
nicht militärisch in Vietnam verloren, sondern politisch an der
Heimatfront.
Greiner: Das ist eine klassische Dolchstoßlegende und Ablenkung von eigener
Unfähigkeit. US-Truppen haben die eine oder andere Schlacht gewonnen, aber
den Krieg verloren.
taz: Welche Lehren zogen die USA aus ihrer Niederlage?
Greiner: Die Selbstreflexion war von sehr kurzer Dauer, etwa von 1973 bis
1976. Doch das kam unter die Räder des rechten Flügels der Republikaner und
der Neokonservativen. Ihnen war daran gelegen, Vietnam als einen nicht im
Grundsatz verfehlten Krieg zu bezeichnen, sondern als richtigen Krieg, der
mit falschen Mitteln geführt wurde. Die USA sollten als weltpolitischer
Hegemon weiterhin bereit sein, ihre Interessen auch militärisch
durchzusetzen.
taz: Man sprach vom „Vietnamtrauma“.
Greiner: Die politische Rechte führte eine Kampagne gegen das sogenannte
Vietnamtrauma. Darunter verstand sie einen freiwilligen Rückzug aus
weltpolitischen Konfliktherden und den Verzicht auf militärische Mittel zur
Durchsetzung eigener Interessen. Ronald Reagan hat dieses sogenannte Trauma
zu überwinden versucht mit einer starken Aufrüstung und Interventionen in
den 1980er Jahren in Mittelamerika, zwar nicht mit eigenen Truppen, aber
mit Stellvertretern. Real traumatisiert waren hingegen viele aus Vietnam
zurückgekehrte GIs, etwa 25.000 begingen in den ersten 15 Jahren nach dem
Krieg Suizid. Andere Veteranen schlossen sich aus Frust über die eigene
Regierung und die vermeintlich lasche Unterstützung der Bevölkerung zu
Milizen zusammen, die wir jetzt quasi als Prätorianergarde von Donald Trump
kennen. Sie haben ihre Wurzeln im Vietnamkrieg.
taz: 1979 marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein und China griff
Vietnam an. Zogen Moskau und Peking keine Lehren aus der Niederlage der
USA?
Greiner: Der sowjetische Krieg in Afghanistan verlief nach dem gleichen
Schema wie der amerikanische in Vietnam. Man ist in die gleichen selbst
gestellten Fallen gestolpert, eine Guerilla mit einer Armee bekämpfen zu
wollen, die dafür nicht motiviert und ausgerüstet war, und hat einen
ähnlichen Preis gezahlt. Auch Chinas Grenzkrieg gegen Vietnam folgte einer
imperialen Logik, die gewisse Ähnlichkeiten mit den in Washington
gepflegten Ideen hatte. Peking hat sich aber nicht auf einen jahrelangen
Krieg eingelassen.
taz: Zum Vietnamkrieg gehören auf beiden Seiten Opfer des dioxinhaltigen
Agent Orange. Amerikanische wurden entschädigt, vietnamesische gingen vor
US-Gerichten leer aus.
Greiner: In den [1][Verfahren um Entschädigung] spiegelt sich die
Selbstbezogenheit der USA und ihr maßloser Egoismus samt Blindheit für das
Schicksal und die Opfer der anderen. Schon während des Kriegs haben die
Proteste dagegen erst sehr spät eingesetzt und gingen von den eigenen
Opfern aus und nicht vom Leid der anderen.
taz: Mehr als 1,6 Millionen Vietnamesen versuchten nach Kriegsende, per
Boot ins Ausland zu fliehen. Warum?
Greiner: Die ersten Jahre waren noch von Vietnams Bürgerkrieg geprägt, der
seit den 1950er Jahren herrschte. Die Kommunisten wollten den Militär- und
Polizeiapparat des korrupten Systems im Süden ausschalten, das Personal,
wie es damals hieß, „umerziehen“. Das wurde mit Angst als Mittel der Macht
und Terror als Mittel der Politik gemacht.
taz: Trug Vietnams Einmarsch in Kambodscha 1979 zur desolaten Lage bei?
Greiner: Kambodschas [2][Rote Khmer] spielten die aus amerikanischer
Perspektive willkommene Rolle eines ständigen Unruheherds, der Vietnams
innenpolitische Stabilisierung verhindern sollte. Deshalb hatten die USA
kein Problem, mit einem Massenmörder wie Pol Pot punktuell zu kooperieren.
taz: Die USA begründeten den Vietnamkrieg mit der Dominotheorie: Nach einem
Sieg der Kommunisten würden auch andere Staaten zwangsläufig kommunistisch.
Sehen Sie Parallelen zum heutigen Krieg in der Ukraine, bei dem europäische
Politiker argumentieren, nach Russlands Sieg würden bald Angriffe auf die
baltischen Staaten und Polen folgen?
Greiner: Von der semantischen Adelung einer Theorie zu reden, verbietet
sich. Wir haben es hier mit einem Bankrott politischen Denkens zu tun, mit
dem Ersatz politischen Denkens durch Mechanik. Historische Prozesse
verlaufen nicht mechanisch, folgen keinem Masterplan, es gibt immer Zufälle
und Unvorhersehbares wie auch Korrekturmöglichkeiten. All das wird von der
Dominotheorie für irrelevant erklärt. Man kann aber herbeireden, was man
befürchtet.
taz: Was lehrt uns der Vietnamkrieg?
Greiner: Er ragt in unsere Gegenwart hinein. Die USA haben in Afghanistan,
teilweise auch im Irak die gleichen Fehler gemacht. Wieder ist man in
selbst gestellte Fallen gerannt und hat die durchaus präsenten
Erkenntnisse, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann, in den Wind
geschlagen. Ein vorzeitiger Rückzug würde Glaubwürdigkeit und Prestige der
Weltmacht beschädigen, hieß es. Das könne man nicht riskieren, wohl aber,
dass aufseiten des Gegners Hunderttausende getötet werden und tausende
eigene Soldaten. Das mit Vietnam verwandte Debakel in Afghanistan hat nicht
zum substanziellen Umdenken geführt, im Gegenteil. Jetzt, da die Rivalität
zwischen konkurrierenden Weltmächten wieder die Oberhand gewinnt, also
insbesondere diejenige zwischen China und den USA, scheint das Beharren auf
Prestige, Glaubwürdigkeit und Renommee stark ausgeprägt.
30 Apr 2025
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## AUTOREN
Sven Hansen
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