# taz.de -- Sexismus beim Intelligenzbegriff: Der Faustkeil war nicht der Durch… | |
> Wie konnte das menschliche Hirn so komplex werden? Forschende sagen: Weil | |
> wir uns umeinander sorgen. Warum soziale Intelligenz so vernachlässigt | |
> wird. | |
Bild: Ein großes Gehirn ist energieintensiv | |
Wenn die Entwicklung der menschlichen Intelligenz so ablief, wie die | |
Evolutions-T-Shirts nahelegen, dann wurde jeder Schritt vom Affen bis zum | |
aufrechten Gang durch immer schickere Werkzeuge begleitet. [1][Der frühe | |
Homo sapiens] geht noch leicht gebeugt mit dem Faustkeil in der Hand, dann | |
läuft er aufrechter mit einem Speer über der Schulter, bis er schließlich – | |
wahlweise mit Laptop, Angel oder Harley-Davidson ausgestattet – in der | |
Gegenwart angekommen ist. Es gibt unzählige Varianten dieses berühmten | |
Bildes mit der Aneinanderreihung von Entwicklungsschritten. Fast immer sind | |
es Männer, die darauf den Höhepunkt der Evolution verkörpern. | |
Dass uns als Errungenschaft menschlicher Intelligenz immer ausgeklügeltere | |
Werkzeuge einfallen, macht Sinn. Immerhin ist es das Bauen von Maschinen, | |
Kathedralen und Ü-Eier-Figürchen, was uns als Spezies auf den ersten Blick | |
am stärksten von anderen abhebt. Ohne Handwerkskunst kein Anthropozän. Da | |
liegt es nahe, technologische Fertigkeiten auch als Triebfeder menschlicher | |
Intelligenz zu sehen. Wir sind schlau, weil jedes neue Werkzeug einen | |
Evolutionsvorteil bringt. Allerdings bringt diese technologiebasierte | |
Vorstellung menschlicher Intelligenz mehrere Probleme mit sich. | |
Das vielleicht größte ist die zeitliche Abfolge. Denn tatsächlich hatten | |
menschliche Vorfahren schon mehrere Millionen Jahre ein verhältnismäßig | |
großes Gehirn und die meiste Zeit davon ist uns außer Steinkeilen recht | |
wenig Weltbewegendes eingefallen. Erst vor 250.000 Jahren wurden diese | |
Werkzeuge etwas komplexer und [2][erst in den letzten 50.000 Jahren] | |
entstand alles von Grillutensilien bis zu Mikrochips. Als Anstoß | |
menschlicher Hirnentwicklung kommt technische Überlegenheit also zu spät. | |
Ein großes Gehirn ist energieintensiv, es braucht viel und bestimmte | |
Nahrung. Man muss es sich als Geschöpf also leisten können. Deswegen liegt | |
es nahe, dass sich dieses Gehirn schon lange vor der Erfindung | |
ausgeklügelter Werkzeuge für den Menschen gelohnt hat. Warum? Einige | |
Forschende sagen: Weil es uns das Leben in sozialen Verbänden ermöglicht. | |
Dieser Theorie zufolge ist die soziale Intelligenz die eigentliche | |
Triebfeder der Hirnentwicklung. | |
Der Neokortex – also der Teil der Großhirnrinde, der vereinfacht gesagt für | |
Intelligenz eine besonders große Rolle spielt – ist vor allem bei den | |
Affenarten groß, die in großen Gruppen zusammenleben. Sozialstrukturen | |
erlauben es uns überhaupt erst, dass sich unser Gehirn über eine | |
langwierige Kindheitsphase so komplex entwickelt. | |
Tatsächlich eint die meisten Spezies, die wir für besonders klug halten, | |
eine lange spielintensive Kindheit. Und diese Zeit ist eine soziale | |
Herausforderung, [3][denn irgendjemand muss sie uns ermöglichen, sich | |
kümmern]. Mit sozialer Unterstützung lassen sich dann auch andere Dinge | |
lernen: Sprache, Logik, Experimentalphysik. Selbst die Herstellung des | |
Schneidwerkzeugs, das wir zur Ernährung unseres Gehirns tatsächlich | |
brauchen, muss uns zuerst jemand beibringen. | |
## Delphine, die sprechen | |
Sozialer Intelligenz kommt also eine Schlüsselrolle zu – als Kernkompetenz, | |
auf der die anderen Fähigkeiten aufbauen. So brauchen wir zum Beispiel | |
bestimmte grammatikalische Fertigkeiten, um komplexe Ursache-Wirkung-Ketten | |
zu verstehen, die wiederum die Grundlage entsprechend komplizierter | |
Werkzeuge sind. | |
Speziesübergreifend zeigt sich Intelligenz oft im Rahmen sozialen | |
Verhaltens. [4][Delfine sprechen sich gegenseitig mit Namen an], Ziegen | |
verstehen Symbole. Bienen bringen ihren Nachkommen das Tanzen bei und | |
Bonobos beherrschen eine bisher ungeahnte Form von Syntax. Selbst der | |
Standardtest, mit dem Forschende versuchen, besonders komplex denkende | |
Spezies aufzuspüren, ist ein fundamental sozialer: die Fähigkeit, sich im | |
Spiegel zu erkennen, sprich, zwischen dem Selbst und Anderen zu | |
unterscheiden. | |
Im Gegensatz zu dem, was der Begriff „Soft Skills“ nahelegt, handelt es | |
sich dabei um eine sehr handfeste logische Fertigkeit, die wir längst nicht | |
nur für Nettigkeit gebrauchen. Eichhörnchen und Krähen zum Beispiel | |
täuschen ihre Artgenossen, indem sie ihr Essen unauffällig ganz woanders | |
verstecken als da, wo sie demonstrativ ein Loch buddeln. Die Fähigkeit | |
dahinter nennt sich Perspektivübernahme. | |
Wenn also soziale Fähigkeiten in Geschichte und Forschung so eine | |
Schlüsselkompetenz sind, warum werden sie bei unserem Intelligenzbegriff | |
dann so häufig abgekanzelt oder übersehen? Eine Erklärung lautet: Sexismus. | |
Denn die Art, wie wir Intelligenz verstehen und messen, [5][ist kulturell | |
geprägt]. | |
Soziale Kompetenz ist eng verbunden mit Fürsorge und Mutterschaft und damit | |
eher weiblich konnotiert. Jedenfalls nach dem auch in der Wissenschaft | |
lange verbreiteten Rollenbild, das Frauen alles Häusliche und Männern die | |
Weltpolitik zuteilt. | |
Diese Abgrenzung verlief nicht immer so scharf. Im 18. Jahrhundert | |
erforschten so viele Frauen Astronomie, dass sie ein ganzes Buch füllen | |
konnten, und für Mathematikinteressierte gab es mit dem Ladies’ Diary eine | |
auflagenstarke Frauenzeitschrift der Arithmetik. Auch Geologie galt als | |
angemessenes Frauengebiet (im Gegensatz zur potenziell gemütserregenden | |
Historik). Überhaupt konnten sich wohlhabende Frauen in den | |
Naturwissenschaften als Hobbyistinnen lange Zeit recht frei betätigen. | |
Ähnlich wie in medizinischen Berufen wurden sie allerdings verdrängt, als | |
die Fachgebiete professioneller, formal gebildet und besser bezahlt wurden. | |
## Intelligenz wird missbraucht | |
Wem wir intellektuelle Qualifikation zusprechen, ist immer auch eine Macht- | |
und Geldfrage, die oft dazu dient, Hierarchien zu zementieren. So wie sich | |
der Mensch seine Krone der Schöpfung sichert, indem er seinen | |
Intelligenzbegriff als Messlatte an andere Spezies anlegt. Oder selbst an | |
Affenkindern beiderlei Geschlechts in Studien erforscht, ob sie lieber mit | |
Puppen oder mit Autos spielen. | |
Den IQ-Test selbst wollte sein Erfinder nie als mehr als eine | |
Momentaufnahme betrachtet sehen. Und er wurde umgehend rassistisch | |
missbraucht, um Menschen in mehr oder weniger klug einzusortieren. | |
Fast jedes Maß von Intelligenz wurde genutzt, um Frauen selbige | |
abzusprechen. Erst galten ihre Gehirne als zu klein, dann ihre | |
Schädelproportionen als zu kindlich. Ihre Gedanken wurden angeblich erst | |
vom Uterus, dann von Hormonen vernebelt. Der Verstand von Frauen ist „von | |
Leidenschafften verdunckellt“ befand Kant. „Beim Weib behaupten Gefühl und | |
Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand“, stand es 1904 in | |
Meyer’s Großem Konversationslexikon. Bis heute finden sich auf | |
Persönlichkeitsfragebögen Vertrauen und Mitgefühl oft unhinterfragt auf der | |
weiblichen Seite. Dagegen vereint die männliche sehr gewagt Aggression und | |
Analytik. | |
Im Endeffekt wirkt diesem Blickwinkel zufolge oft gerade klug, wer das | |
Soziale außen vor lässt. Serienprotagonisten unterstreichen ihren | |
Geniestatus regelmäßig durch soziale Ausfälle. Selbst im realen Leben gilt | |
„Genie“ vielen als Argument, um die Misshandlung von Untergebenen zu | |
rechtfertigen. | |
## Falscher Genieglaube | |
Dabei ist der Geniebegriff als ultimative Steigerung von Intelligenz erst | |
recht elitär geprägt. Von den griechischen Philosophen über die Maestros | |
klassischer Kultur bis zu den „Business Genies“ auf dem Cover von Forbes | |
und dem Aufstieg Silicon Valleys. Eine Studie stellte vor einigen Jahren | |
sogar heraus, dass in Studienfächern mit besonders großem Genieglauben auch | |
der Männerüberschuss besonders groß ist. | |
Dieses Ungleichgewicht sagt wahrscheinlich ebenso viel darüber aus, wer | |
sich Genie zutraut, als wer den entsprechenden Habitus mitbringt, dass es | |
ihm zugetraut wird. Wohin die Kombination aus Privilegien und | |
Technikglauben führt, kann man gerade in den USA beobachten, [6][wo | |
Tech-Eliten betrunken vom eigenen Geniekult das Land auseinandernehmen]. | |
Dabei war auch die Informatik lange ein Tummelplatz für | |
Quereinsteigerinnen, [7][wie die schwarzen Frauen, die Raketenberechnungen | |
durchführten], lange bevor Elon Musk geboren wurde. Dass die Tech-Giganten | |
so abgerutscht sind, und dabei zum Teil auch hier noch gehyped werden, | |
liegt auch daran, dass wir unsoziale Männer immer noch für intelligent | |
halten. Erst recht, wenn sie mit Werkzeug hantieren. | |
20 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Franca Parianen | |
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