| # taz.de -- Stillen in queeren Familien: Schwangerschaft nicht nötig | |
| > Mithilfe von Hormontherapien können auch trans Mütter Milch bilden und | |
| > Babys stillen. Die Praxis könnte helfen, Sorgearbeit gerechter zu | |
| > verteilen. | |
| Bild: Genug Milch für ein Baby herzustellen ist schwierig für eine Brust, die… | |
| Das mit dem Stillen hatte Maya zuerst gar nicht in Erwägung gezogen. Ihre | |
| Transition hatte gerade erst begonnen, als Leo zur Welt kam. [1][Dass der | |
| eigene Körper Milch produziert?] Unmöglich, dachte sie. | |
| Maya ist trans und Mutter. Sie möchte nur mit Vornamen genannt werden, die | |
| Namen der Familienmitglieder sind Pseudonyme. Mit ihrer engen Freundin | |
| Nette hatte Maya 2016 entschieden, gemeinsam ein Kind zu bekommen. Auch | |
| Ina, Mayas damalige Partnerin, wollte sich an der Elternschaft zu | |
| beteiligen. So erzählt Maya es am Telefon. Nette brachte Leo zur Welt. | |
| Maya, Software-Ingenieurin und passionierte Computerspielerin, stellte sich | |
| darauf ein, dass sie Leo nur per Flasche ernähren könnte. Aber können | |
| wirklich nur cis Frauen stillen? | |
| An einem Freitagnachmittag im März hat Jojanneke van Amesfoort ihren | |
| Ärztinnenkittel gegen Jeans-Latzhose und lila Pulli eingetauscht. Mina, ihr | |
| kleiner, gepunkteter Hund, will während des Zoom-Telefonats fortwährend | |
| gestreichelt werden. „Jeder menschliche Körper hat theoretisch die | |
| Fähigkeit, Milch zu produzieren“, erklärt Jojanneke van Amesfoort beim | |
| Videotelefonat an einem Freitagnachmittag im März. Sie macht gerade ihre | |
| Fachärztinnenausbildung zur Gynäkologin. | |
| „Induzierte Laktation“ wird die gezielte Stimulation der Milchbildung ohne | |
| vorherige Schwangerschaft genannt. Amesfoort ist eine der ersten, die dazu | |
| geforscht hat, ob und wie trans Mütter stillen können. Wissenschaftliche | |
| Studien behandeln hauptsächlich die Laktationsinduktion bei cis Frauen, | |
| also all jenen, die sich mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen | |
| weiblichen Geschlecht identifizieren. | |
| ## Fallstudie aus Amsterdam | |
| Am Amsterdamer Kompetenzzentrum für Geschlechtsdysphorie begann van | |
| Amesfoort zu dem Thema zu forschen. 2020 hatte sich eine trans Frau an die | |
| Einrichtung gewandt. Sie wollte das Baby, mit dem ihre Partnerin schwanger | |
| war, mit eigener Milch stillen können. Die Ärzt*innen hatten damals noch | |
| keine Erfahrung mit induzierter Laktation, eine einzige Fallstudie einer | |
| anderen stillenden trans Frau gab es zu dem Zeitpunkt. An ihr orientierte | |
| sich das Team, in dem van Amesfoort hospitierte. | |
| Um die Milchproduktion anzuregen, imitierten die Ärzt*innen die | |
| hormonellen Veränderungen bei Schwangerschaften. Während dieser schüttet | |
| der Körper vermehrt Östrogen und Progesteron aus und bereitet so die Brüste | |
| aufs Stillen vor. Nach der Geburt fällt deren Spiegel stark ab und ein | |
| anderes Hormon, Prolaktin, löst die Milchbildung aus. | |
| Die Einnahme von Östrogen und Progesteron spielt dem Körper also eine | |
| Schwangerschaft vor. Hinzu kommt ein Medikament, das die Milchbildung | |
| anregt, zum Beispiel Domperidon. Zwei bis vier Wochen vor der Geburt des | |
| Kindes reduzieren die Frauen die Hormontherapie oder setzen sie ab, um den | |
| Hormonabfall nach der Geburt zu simulieren. Zusätzlich unterstützen | |
| Abpumpen und Stimulation der Brustwarzen die Milchbildung. | |
| Die vorhandenen wissenschaftlichen Studien belegen, dass induziertes | |
| Stillen für trans Frauen grundsätzlich möglich ist. Wie häufig es klappt, | |
| dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen, weil bisher so wenig dazu | |
| geforscht wurde. Umfangreicher ist das Erfahrungswissen aus queeren | |
| Communities. Unter stillenden trans Frauen zirkuliert zudem der | |
| Erfahrungsbericht zu induzierter Laktation, den die Mutter Lenore Goldfarb | |
| und der Kinderarzt Jack Newman erarbeitet haben. Aus mindestens einer | |
| wissenschaftlichen Fallstudie ist bekannt, dass die Zusammensetzung der | |
| Milch von trans Frauen hinsichtlich Fettanteil, Proteinen und Kalorien mit | |
| der Milch von cis Frauen vergleichbar ist. | |
| ## 7 Milliliter Milch pro Tag | |
| Anfang Juni 2020, knapp vier Monate nach Schwangerschaftsbeginn ihrer | |
| Partnerin, begann die werdende Mutter mit der Hormonbehandlung. Mitte | |
| August bildeten ihre Brüste die ersten Tropfen Flüssigkeit. Ab Mitte | |
| Oktober pumpte sie alle paar Stunden ab, um die Produktion anzuregen. | |
| Anfang November kam das Baby zur Welt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie ihre | |
| Milchbildung auf maximal 7 Milliliter pro Tag gesteigert, doch viele | |
| Neugeborene trinken pro Mahlzeit rund 20 Milliliter. Die ausreichende Menge | |
| Milch für ein Baby herzustellen, sei für eine komplett ausgereifte Brust | |
| viel einfacher als für eine, die gerade erst entsteht, erklärt van | |
| Amesfoort. | |
| Die Anstrengung der induzierten Laktation war eine zu viel für die junge | |
| Familie. Nach zwei Wochen beendete die Mutter das Stillen. Die Entscheidung | |
| sei „hart gewesen, aber die richtige“, zitiert van Amesfoort die Patientin. | |
| Den direkten Kontakt durfte van Amesfoort für diesen Text aus | |
| medizinethischen Gründen nicht herstellen. | |
| Van Amesfoort hofft, dass Stillen zukünftig unabhängig von | |
| Geschlechtsidentität und Schwangerschaft leichter von all denen in Erwägung | |
| gezogen werden kann, die es sich wünschen, „lesbische Partnerinnen, | |
| Adoptiveltern, nicht-binäre Eltern, trans Mütter.“ | |
| Als Maya, ihre damalige Partnerin Ina und Co-Mutter Nette ihr Baby | |
| erwarteten, wussten sie noch nicht, dass auch trans Mütter stillen können. | |
| Aber Erfahrungsberichte von induzierter Laktation bei cis Frauen kannten | |
| sie. So entschied Ina sich dafür, das Stillen ohne vorherige | |
| Schwangerschaft auszuprobieren, während Maya sich darauf einstellte, die | |
| Flasche zu geben. | |
| ## Zugang zu Medikamenten einfacher geworden | |
| Grundsätzlich funktioniert induzierte Laktation bei cis und trans Frauen | |
| nach dem gleichen Prinzip. An Östrogen und Progesteron zu kommen, ist | |
| unkompliziert, viele gängige Verhütungspillen bestehen daraus. Aber das | |
| Paar scheiterte an der Beschaffung von Domperidon. Herkömmlich wird das | |
| Medikament gegen Übelkeit eingesetzt, hat aber Nebenwirkungen. Van | |
| Amesfoort empfiehlt, sich bei der Einnahme milchstimulierender Medikamente | |
| ärztlich begleiten zu lassen. „Wir wussten, dass es Hausärzt*innen gibt, | |
| die Überdosen verschreiben“, erinnert sich Maya, „aber wir hatten kein | |
| solches Vertrauensverhältnis zu unseren Hausärzt*innen“. | |
| Inzwischen sei der Zugang zu notwendigen Ressourcen fürs induzierte Stillen | |
| einfacher geworden, sagt Liesel Burisch. Als Doula begleitet Burisch | |
| insbesondere Regenbogenfamilien nach der Geburt und bildet Hebammen und | |
| Stillberater*innen zu induzierter Laktation fort. Die Pandemie habe | |
| vieles verändert, auch zum Positiven, sagt Burisch. Zum Beispiel könnten | |
| Ärzt*innen und Hebammen bundesländerübergreifend online zu Domperidon | |
| beraten oder es sogar verschreiben. Außerdem gebe es mittlerweile mehr | |
| informierte Hebammen. | |
| Burisch, gleichzeitig Künstler*in, hat ein Buch übers Stillen geschrieben, | |
| „Stillen für alle“ heißt es. „Stillen ist für Induzierende und Gebäre… | |
| extrem viel Arbeit“, sagt Burisch. Die wenigsten schafften es über die von | |
| der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen sechs Monate hinaus. Gründe | |
| dafür seien Einsamkeit, Überforderung und Stress nach der Geburt. Bis zu 20 | |
| Prozent der Gebärenden leiden Studien zufolge [2][in den ersten Monaten | |
| nach der Geburt an Depressionen]. | |
| „Gesellschaftlich bekommt die gebärende Person die größte Verantwortung und | |
| Schuld zugeschrieben, wenn etwas mit dem Neugeborenen nicht klappt“, sagt | |
| Burisch. Hinzu komme zu viel Druck, was der eigene Körper unbedingt leisten | |
| muss – [3][aus einer missverstandenen Idee von Natürlichkeit] heraus. | |
| Hetero-Eltern könnten sich einiges von queeren Familien abschauen, dort | |
| werde laut Burisch oft weniger Verantwortung auf der einen stillenden | |
| Person abgeladen, weil Stillen und gleichgestellte Elternschaft viel | |
| häufiger für mehrere infrage komme. Burisch wünscht sich, dass Stillwünsche | |
| nicht gebärender Eltern nicht „als individuelles Passion Project“ gesehen | |
| werden, sondern sie dabei die gleiche Unterstützung bekommen wie Gebärende. | |
| ## „Stillen als Argument, um Sorgearbeit einseitig zu verteilen“ | |
| Maya hat in Leos Krabbelgruppe erlebt, wie das Familienleben in vielen | |
| Heterofamilien aussieht. Sie traf dort nur auf Mütter, für die einige | |
| Stunden ohne Kind undenkbar gewesen seien. „Stillen wird gern als Argument | |
| genutzt, um Sorgearbeit einseitig zu verteilen“, sagt sie. Nette, Ina und | |
| Maya wollten das unbedingt vermeiden. Dazu gehörte für sie, nicht alle | |
| zusammenzuwohnen. Nette blieb in ihrer WG, Maya und Ina suchten sich eine | |
| Wohnung in der Nähe. | |
| Nach den ersten Wochen begannen sie den neuen Alltag im Wechselmodell. | |
| Nette pumpte ab, sodass Leo auch bei Maya und Ina Brustmilch trinken | |
| konnte. Die Milch bekam Leo am Ende nicht aus der Flasche, Maya und Ina | |
| stillten per Brusternährungsset. Aus einem Beutel, gefüllt mit Milch, führt | |
| ein dünner Schlauch zur Brust, dessen Ende an der Brustwarze befestigt | |
| wird. Das Baby saugt so zeitgleich an Brustwarze und Schlauch. | |
| Maya hat sich den Schlauch an den Finger geklemmt: „Ich war ja noch ganz am | |
| Anfang meiner Transition, und ohne nennenswerte Brustwölbung ist es für ein | |
| Baby schwierig anzudocken.“ Der Milchfluss durch den Schlauch war ähnlich | |
| langsam wie durch die Brust. „Das Baby hat was zum Nuckeln, spürt | |
| körperliche Nähe und kann sich dabei beruhigen, so wie an der Brust“, sagt | |
| Maya. „Es hat sich schon anders angefühlt, ob man Fläschchen gibt oder ob | |
| es am Finger nuckelt und man dabei kuschelt.“ | |
| Durch die Finger-Lösung habe sich ihr Blick aufs Stillen verändert. „In | |
| meinem Kopf war stark verankert, dass Stillen unbedingt an der Brust | |
| stattfinden muss – aber warum eigentlich? Ich wünsche mir, dass der Umgang | |
| mit dem Stillen weniger ideologisch ist. Allein, weil Babys ja auch oft auf | |
| die eine oder andere Weise brutal zur Brust sind und man ohne schlechtes | |
| Gewissen abpumpen können sollte.“ | |
| 5 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Franziska Schindler | |
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