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# taz.de -- Regisseur über Film „Was Marielle weiß“: „Ein Kind ist eine…
> In „Was Marielle weiß“ sieht und hört ein Kind alles, was die Eltern tu…
> Regisseur Frédéric Hambalek spricht über Geheimnisse und Selbstbefreiung.
Bild: Ist das ein harmloses Kinderlächeln? Marielle (Laeni Geiseler) in „Was…
taz: Herr Hambalek, in „Was Marielle weiß“ erlangt die 12-jährige
titelgebende Tochter plötzlich die Fähigkeit, alles zu sehen und zu hören,
was die Eltern den Tag über tun. So etwas wie Privatsphäre gibt es für sie
damit nicht mehr. Was hat Sie auf die Idee zu dieser Geschichte gebracht?
Frédéric Hambalek: Da gab es im Grunde zwei Dinge. Vor vielen Jahren hat
mir ein befreundetes Paar ein Babyfon mit eingebauter Kamera gezeigt. Das
war damals ganz neu, und es hat sich gleich ein wenig falsch angefühlt. Das
schlafende Kind weiß nicht, dass es beobachtet wird. Damals dachte ich mir:
Wann haben Kinder eigentlich Privatsphäre? Was bedeutet Privatsphäre
überhaupt in einer Familie? Und was wäre eigentlich, wenn es andersherum
wäre – wenn Kinder auch Erwachsene beobachten könnten, wenn sich plötzlich
die Erwachsenen vor den Kindern rechtfertigen müssten? Der zweite Aspekt
war: Mich hat immer interessiert, wie Kinder ihre Eltern erleben. Am Anfang
wirken die Erwachsenen auf sie wahrscheinlich beinahe wie Götter. Sie
wissen alles, können alles, haben stets alle Regeln parat. Je älter ein
Kind wird, desto mehr erlebt es aber auch, dass die Eltern fehlbar sind,
dass sie Dinge richtig und falsch machen – und mit dem Leben womöglich
genauso sehr hadern, wie man das als Kind oder Heranwachsender tut.
taz: Die Prämisse von „Was Marielle weiß“ erinnert stark an den
„Panoptikum“-Vergleich in [1][Michel Foucaults] „Überwachen und Strafen�…
Im Panoptikum können alle Gefangenen den Wachturm sehen, aber nicht den
Wächter selbst. Die Insassen haben so ständig das Gefühl, überwacht zu
werden. Foucault nutzte diese Metapher, um das Ordnungsprinzip in
westlich-liberalen Gesellschaften zu beschreiben: Die Menschen
disziplinieren sich selbst, weil sie sich unter ständiger Beobachtung und
Beurteilung wähnen. Will Ihr Film auf etwas Ähnliches hinaus?
Hambalek: Ich habe lustigerweise „Überwachen und Strafen“ gelesen, als ich
das Drehbuch geschrieben habe. Spezifisch für den Film habe ich daraus
nicht so viel mitgenommen, allerdings hat sich in diesem Prozess meine Idee
immer mehr auf die Frage hin destilliert, wie sich Menschen wohl verhalten,
wenn ihre Privatsphäre sofort weg wäre, wenn sie sich immer vor einer
höheren Instanz rechtfertigen müssen. Bei Foucault mag das ein
Justizapparat oder ein Staat sein – noch spannender ist für mich der
Mikrokosmos der Familie. Ein Kind ist wie eine moralische Instanz, die man
selbst heranzieht. Ich bin selbst Vater, und in dieser Rolle vermittelt man
einem Kind auch Ideale, die man selbst nicht erfüllt oder gar nicht
erfüllen kann. Kinder haben aber gerade in dem Alter, in dem Marielle ist,
eine Phase, in der sie selbst unglaublich moralisierend sein können. Und
das fand ich interessant: Diese gottgleiche Instanz, die man geschaffen
hat, sucht einen nun selbst heim. Das ist für mich amüsant, witzig – und
auch ironisch.
taz: Oft wird in Filmen die Technik bemüht, wenn vom „gläsernen Menschen“
erzählt wird. Sie haben stattdessen ein magisch-realistisches
Handlungselement gewählt: Marielle bekommt von einer Mitschülerin eine
Ohrfeige und gelangt so zu ihrer übernatürlichen Fähigkeit. Warum haben Sie
sich für diese Variante, die Tochter als unfreiwilliger „Big Brother“,
entschieden?
Hambalek: Ich wollte den Einsatz von Technik auf jeden Fall vermeiden. Das
lenkt unweigerlich vom existenziellen Kern des Problems ab. Ich hätte
Marielle natürlich mit diversen Apps oder Überwachungskameras ausstatten
können, aber das wäre bereits zwei Jahre später veraltet. Ich wollte den
Fokus voll und ganz auf das veränderte Verhalten der Eltern richten.
taz: Im Film werden die Eltern durch das Wissen um ihre Überwachung durch
die Tochter zunächst vorsichtiger: Mutter Julia (Julia Jentsch) und Vater
Tobias (Felix Kramer) verhalten sich am Arbeitsplatz so, wie sie von ihrem
Kind gesehen werden wollen. Dann verändert sich ihr Auftreten radikal, sie
überschreiten Grenzen – es kommt zu einer Affäre, sogar zu
Handgreiflichkeiten mit Kollegen. Was ist das für Sie? Radikale
Selbstbefreiung oder Kapitulation vor dem moralischen Erwartungsdruck?
Hambalek: Das kann man so sehen oder so. Für mich gibt es ein Moment der
Befreiung, vor allem bei Mutter Julia. Später wird sie sich von ihrer
Grenzüberschreitung aber wieder distanzieren. Als der Film schon fertig
geschnitten war und ich ihn noch mal sichtete, dachte ich: „Mein Gott, tu
das nicht! Du verleugnest dich hier wieder – es war doch eine Befreiung!“
Was ich daran interessant finde: Wenn man sich selbst befreit, wenn man
ganz zu sich selbst steht, muss man sich immer fragen: Ist das denn
richtig, selbst auf Kosten anderer? Was kann und was darf man anderen
eigentlich zumuten? Das sind die für mich spannenden Fragen, in die sich
die Eltern hier hineinbegeben.
taz: Ist „Was Marielle weiß“ am Ende auch ein Plädoyer für mehr
Verschwiegenheit und Verschleierung – gerade in familiären Zusammenhängen?
Hambalek: Für mich fragt der Film, welche Geheimnisse es braucht. Wo wäre
es vielleicht besser, wenn es in einer Familie mehr Offenheit gäbe – und wo
nicht? Ich glaube, [2][„Was Marielle weiß“] ergreift nicht Partei für das
eine oder andere, aber ich sage es mal so: Ich fände es sehr amüsant, wenn
man den Film so lesen würde.
taz: Sie wenden sich dem Sujet „Elternschaft“ in Verbindung mit
„Geheimnissen“ immer wieder zu. In Ihrem Langfilmdebüt nimmt der Zwang zur
familiären Heimlichkeit noch deutlich radikalere Züge an: In „Modell
Olimpia“ versucht eine Mutter, ihrem erwachsenen Sohn die gefährliche
Neigung zu sexuellen Gewaltfantasien in Eigenregie abzutrainieren. Ein
ungewöhnlicher Stoff für ein Erstlingswerk, oder?
Hambalek: Ich habe immer mehrere Ideen, die mich interessieren. In diesem
Fall war es schlicht und ergreifend so, dass ich möglichst schnell einen
Film drehen und nicht auf eine Debütfilmfinanzierung warten wollte, die
sich über Jahre hinziehen kann. Daher dachte ich mir: Ich habe 10.000 Euro
mit meinem Bausparvertrag gespart, ich habe einen befreundeten Kameramann
und eine Crew – ich frage sie einfach, ob sie Lust haben, einen Langfilm zu
drehen. Das hatten sie, und dann musste ich aus meinen Ideen die auswählen,
die mit diesem Budget machbar ist, womöglich sogar von der Limitierung
profitieren kann. Ich glaubte, diese Idee würde mir sowieso niemals jemand
finanzieren. Und das Schöne ist: Im Rahmen dieses Budgets konnten wir
letztlich alles machen, was wir wollten.
taz: Trotz der Extremsituationen, in die Sie Ihre Figuren mitunter geraten
lassen, bleibt Ihr Inszenierungsstil meist auffällig nüchtern. Sowohl in
„Modell Olimpia“ als auch im neuen Film bewegen sich die Protagonisten
durch nahezu sterile Räume, die Kamera bleibt oft statisch, es gibt wenig
Musikeinsatz. Warum?
Hambalek: Ich bin ein großer Freund von Fokus. Ich will alles weglassen,
was nicht den Kern der Sache trifft. Es hat aber, so hoffe ich, auch mit
den Stoffen zu tun. Ich versuche, einen jeweils passenden Stil zu finden,
daher gibt es bei der Art zu inszenieren zwischen den Filmen auch
Unterschiede. Was gleich ist, ist aber auf jeden Fall dieser Versuch der
Präzision. Bei „Was Marielle weiß“ war einfach klar: Ich will auf die
Gesichter der Eltern halten und sehen, wie sie sich unter dem
unerbittlichen Blick der Tochter winden. Bei „Modell Olimpia“ war ein
gegenteiliger Gedanke der Hintergrund: Menschen sind immer vollkommen
unergründlich, wir können nie wirklich in sie hineinsehen – und daher sind
sie eher wie Objekte gefilmt. Beim Produktionsdesign möchte ich wiederum
vom realen Leben ausgehen, und da finde ich oft totale Leere vor. Ich sehe
sehr oft weiße, kahle Wände, glatte Oberflächen und spärliche Einrichtung.
Es scheint fester Teil unseres modernen Lebens zu sein, alles wegzuräumen,
was auch nur irgendwie stören könnte. Das heißt aber nicht, dass ich beim
nächsten Stoff nicht vielleicht viel mehr aus dem Vollen schöpfen möchte.
15 Apr 2025
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
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Spielfilm
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