| # taz.de -- Aktivistin über ihren Antrieb: „Ich war ein sehr wütendes Kind�… | |
| > Sie ist aufgewachsen im Heim, wurde immer wieder ausgegrenzt: Mit | |
| > Ungerechtigkeiten kennt sich Wilma Nyari aus – und sie will das nicht | |
| > mehr ertragen. | |
| Bild: Sie ist Künstlerin, Mutter, Schwarze Frau, Aktivistin. Wobei die Reihenf… | |
| taz: Wie gehen Sie mit Hass um, Frau Nyari? | |
| Wilma Nyari: Ich versuche, das zu verstehen, aus der Perspektive der | |
| Person, von der es ausgeht. Das liegt daran, dass ich sehr christlich | |
| erzogen worden bin. Das klappt allerdings nicht, wenn dieser Hass direkt | |
| körperlich-gewaltvolle Formen annimmt. Dann versuche ich, das per Video | |
| aufzunehmen, um Strafanzeige stellen zu können. | |
| taz: Erleben Sie Hass eher auf sich als Person bezogen oder darauf, dass | |
| Sie sich in Wilhelmshaven, [1][also ausgerechnet der Stadt, die für den | |
| deutschen Imperialismus gegründet wurde], für Dekolonisierung und gegen | |
| Rassismus einsetzen? | |
| Nyari: Ich glaube, das ist ein bisschen von beidem. | |
| taz: Wenn Sie sich zu Wort melden, geht ’s in den Leserkommentaren der | |
| Lokalzeitung regelmäßig hoch her … | |
| Nyari: Ja. Das ist sonderbar. Also nein, ist es nicht, aber irgendwo | |
| verwundert es mich eben doch, dass die sich immer so darauf kaprizieren, | |
| wie ein Schwarm. Ich lese das mittlerweile nicht mehr. Ich möchte da meine | |
| Energie nicht reingeben. | |
| taz: Woher nehmen Sie denn die Kraft für Ihr Engagement? | |
| Nyari: Das frage ich mich manchmal auch. Vielleicht ist das meiner | |
| Biografie geschuldet. Ich kann Gewalt und Ungerechtigkeiten gegen andere | |
| absolut nicht vertragen, weil ich sehr viel Gewalt und Unrecht erfahren | |
| habe. Das ist ein Ansporn, mich zu engagieren – auch hier jetzt. | |
| taz: Als Sie 2016 nach Wilhelmshaven zogen, war der Plan aber, es jetzt | |
| ruhiger anzugehen, auch politisch, oder? | |
| Nyari: Eigentlich ja. Ich kenne hier in Wilhelmshaven viele wunderbare, | |
| auch sehr engagierte Menschen. Aber mir ist hier auch starker Rassismus | |
| begegnet, schon ab dem ersten Tag: als ich mein Konto eröffnet habe, oder | |
| in der Stadt, wenn die Leute so auffällig die Straßenseite gewechselt | |
| haben. Es wurde das N-Wort benutzt und man hat mich beleidigt. Darüber war | |
| ich ziemlich geschockt und habe dann gedacht: Nee, das kann ich so nicht | |
| stehen lassen. Und dann kam ich immer mehr in Kontakt mit anderen Schwarzen | |
| und POC hier und es kam immer mehr raus an Erfahrungen von Gewalt und | |
| Rassismus. Da habe ich gesagt: Da müssen wir was machen. Und eben auch in | |
| Bezug auf die verdrängte Imperialismus-Geschichte Wilhelmshavens. | |
| taz: Vorher in Frankfurt waren Sie immer politisch aktiv? | |
| Nyari: Das ist richtig. Ich war 15, als ich in den Kommunistischen | |
| Jugendbund eintrat, die Jugendorganisation des KBW, [2][des Kommunistischen | |
| Bunds Westdeutschlands,] natürlich ohne mich mit Karl Marx beschäftigt zu | |
| haben. Aber der KBW unterstützte damals die Freiheitskämpfe in Südafrika, | |
| Namibia und Zimbabwe. Da habe ich die kommunistische Volkszeitung verkauft, | |
| viel demonstriert, auch Straßenkämpfe miterlebt, Hausbesetzungen … | |
| taz: Sie waren später sogar mal Covergirl in der Auftritt, einem der großen | |
| alternativen Frankfurter Stadt-Magazine, und zwar passend zur Titelstory | |
| „Weiber unter Waffen?“ mit Helm und in Kampfanzug: Wie kam das? | |
| Nyari: Ja, die Redaktion hatte gezielt nach einer Frau gesucht, die sich | |
| mit Imperialismus und Militarisierung auseinandersetzt, und mit dem | |
| Gewaltthema eben. | |
| taz: Mit dem Sie schon in der Kindheit zu tun hatten. | |
| Nyari: Ja. Also, mir wurde schon als Baby das Ohr abgeschlagen. | |
| taz: Das Ohr abgeschlagen?! Zu Hause? | |
| Nyari: Nein, das war im Kinderheim. Da muss es eine Krankenschwester oder | |
| Erzieherin gegeben haben, die … jedenfalls kam meine Mutter von der Arbeit | |
| zu mir und ich lag apathisch im Bett. Dann hat sie mich hochgenommen und | |
| sah, dass ich am Ohr blute – und eben das halbe Ohr abgerissen war. Also | |
| ist sie mit mir in die Uniklinik gefahren. Da gab es einen Professor, der | |
| war entsetzt! Der hat sich dann auch dafür eingesetzt, dass die Person, die | |
| mir das zugefügt hatte, zur Rechenschaft gezogen wurde. Ich selbst habe | |
| daran keine Erinnerung. Ich weiß nur, dass ich immer Probleme hatte mit dem | |
| Ohr, das permanent genässt hat. Irgendwann hat mir meine Mutter dann | |
| erzählt, wie es dazu kam. | |
| taz: Aber die Idee, Sie da rauszuholen und Ihrer Mutter zu überlassen, | |
| hatte keiner? | |
| Nyari: Damals war es so, dass Frauen, die sich mit Schwarzen Männern | |
| eingelassen hatten, die Erziehungsfähigkeit abgesprochen wurde. Wobei ich | |
| es für mich als okay empfunden habe, im Kinderheim groß zu werden. Ich war | |
| mir ziemlich früh sicher, dass meine Mutter überfordert gewesen wäre mit | |
| uns: Wir waren ja fünf Geschwister. Ich bin in der Mitte geboren. Sie hatte | |
| schon vorher zwei andere Schwarze Kinder von anderen Schwarzen Männern. Das | |
| hat bestimmt dazu beigetragen, dass das Jugendamt entschieden hat: „Nein, | |
| also dieser Person, der vertrauen wir kein Kind an.“ Aber ich weiß von | |
| vielen anderen Schwarzen Kindern in meiner Altersgruppe, die ebenfalls im | |
| Heim gelandet sind, obwohl sie zu Hause gute Voraussetzungen hatten. | |
| taz: Das Ende Ihrer Heimzeit war dann relativ spektakulär? | |
| Nyari: Ja, ich war in ein streng katholisches Heim auf dem Land gekommen, | |
| mit Schule, also von der Grundschule bis zur Oberstufe, nur für Mädchen. | |
| Und dann gab es da einen Wechsel zwischen der verkrusteten alten und einer | |
| neuen Pädagogik. Dabei war dann eine junge Familie mit vielen eigenen | |
| Pflegekindern in die Heimleitung reingekommen, und zusammen mit der ein | |
| junger, attraktiver Mann. Auf den haben sich alle Mädchen gestürzt. Ich | |
| glaube, aufgrund dieser Konkurrenzsituation stand dann plötzlich mein | |
| Kleiderschrank in Flammen. | |
| taz: Hä?! | |
| Nyari: Der ist angezündet worden. Und ich wurde verdächtigt, ihn in Brand | |
| gesteckt zu haben, und dann hat man mich rausgeschmissen. | |
| taz: Ihren Kleiderschrank? | |
| Nyari: Meinen Kleiderschrank, jawohl. Ich meine, in den 60er Jahren im | |
| Heim, da musstest du die Kleider anderer Kinder auftragen. Das war für mich | |
| ein Graus. Deshalb hatte ich auch Nähkurse besucht und war megastolz, dass | |
| ich mir selber Sachen nähen konnte. Einmal habe ich ein Bettlaken | |
| zerschnitten, um mir daraus ein Hängerchen zu schneidern. Das war auch in | |
| diesem Kleiderschrank drin, als er in Flammen aufging. Also: Das war total | |
| paradox, mich zu beschuldigen. Und ich habe dann auch noch so zynisch | |
| geantwortet: Ja klar, Leute, ich stecke meinen eigenen Kleiderschrank an, | |
| so what? Und dann bin ich rausgeflogen. | |
| taz: Weil das als Geständnis gewertet wurde? | |
| Nyari: Es war eine Art Ermittlungsgruppe zusammengestellt worden aus | |
| Jugendlichen und Pädagogen. Viele Jahre später, da war das Heim längst | |
| aufgelöst, kam dann raus, dass ein Mitglied dieser Gruppe eifersüchtig auf | |
| mich gewesen sein muss – und dafür gesorgt hatte, dass man mich verdächtigt | |
| hat. Ich wurde jedenfalls wieder nach Frankfurt geschickt, vom Land in die | |
| Stadt: Ich kam mir da vor wie auf einem anderen Planeten. Ich kam dann in | |
| die Emil-Claar-Straße, in eine vollstationäre Auffanginstitution für Kinder | |
| und Jugendliche, die nicht mehr nach Hause konnten. Ich war eine der | |
| Jüngsten in der Wohngruppe. Da waren auch Mädchen dabei, das waren eher | |
| junge Frauen und vor allem waren sie drogenabhängig. Das war faszinierend | |
| für mich. Aber auch schrecklich, dass die so was machten, also Drogen | |
| nehmen und auf Freierfang gehen … | |
| taz: Frankfurt war bis weit in die 80er-Jahren eine berüchtigte Drogenstadt | |
| … | |
| Nyari: Ja. Und die Claar-Straße liegt nah am Zentrum. In den Taunusanlagen | |
| am Bahnhof stieß man damals echt auf viele Junkies. Und einige von denen | |
| wohnten halt in der Einrichtung, auch bei mir direkt im Vierbettzimmer. Ich | |
| bin dann abends da immer allein geblieben, in diesem Riesengebäude, wenn | |
| die anderen ausflogen. Zum Glück waren die Sozialarbeiter da megacool, es | |
| gab welche, die mir sozusagen zu echtem familiären Anschluss verholfen | |
| haben, die ich zu Hause besuchen durfte. | |
| taz: Hatten diese Gewalterfahrungen auch mit dem Schwarzsein zu tun? | |
| Nyari: Im Nachhinein würde ich das so bewerten, ja, auch wenn mir das nicht | |
| ganz bewusst war. Aber dieser Rauswurf aus dem Heim, das hat mich so | |
| geschockt, das war eine so große Ungerechtigkeit, die mir da angetan wurde, | |
| dass ich schon damals dachte: Das kann nicht nur an der Sache mit dem | |
| Kleiderschrank liegen. Der Verdacht, dass ich irgendwie anders bin, die | |
| Unterstellung, nicht dazuzugehören – das gab es ja schon viel früher, | |
| allein durch die ewigen Fragen: 'Wo kommst du denn her?“ und dieses | |
| ständige In-die-Haare-greifen. Ich war auch schon in der Grundschule immer | |
| diejenige, die angeblich geklaut haben soll und in die Ecke gestellt wurde. | |
| Das hat viel Trauer und auch Wut bei mir ausgelöst. | |
| taz: Wut? | |
| Nyari: Ja, ich glaube, ich war ein sehr wütendes Kind. Ich war verletzt, | |
| weil so viel Ungerechtigkeiten passierten, deren Ursache für mich nicht | |
| greifbar waren. | |
| taz: Das „Wo kommst du her?-Spiel“ hat unterschiedliche Nuancen: Wir haben | |
| ja mal zusammen bei einer Veranstaltung gesessen, da kam dann jemand, der | |
| sagte, Ihr Name sei wohl nigerianisch … | |
| Nyari: Ich erinnere mich. | |
| taz: Er lag falsch. | |
| Nyari: Ja. Es ist ein ungarischer Nachname. Ich habe Sinti-und-Roma- und | |
| auch ein paar jüdische Vorfahren, die dort gelebt haben. Auf Ungarisch | |
| bedeutet Nyári so viel wie „sommerlich“. Das finde ich schön. Das passt | |
| auch zu mir, weil ich im Sommer geboren wurde. | |
| taz: Sie selbst kommen aus Frankfurt, so wie Ihre Mutter … | |
| Nyari: Nein, die ist in Dänemark geboren. Das hat ihr und auch uns, also | |
| ihren Kindern, später echt Schwierigkeiten bereitet. Es war sehr lange | |
| unklar, ob wir als Ungarn oder Dänen zählen oder staatenlos sind: Versuchen | |
| Sie mal, sich als Staatenlose einbürgern zu lassen! Das ist echt | |
| kompliziert. | |
| taz: Wie kam denn das mit Dänemark? | |
| Nyari: Also mein Opa und meine Großmutter hatten sich in den 1920er Jahren | |
| in Frankfurt gefunden: Er kam aus Ungarn und war ein bekannter Geiger, | |
| hatte ein Engagement als Kapellmeister, aber dann ging das halt schon los | |
| mit dem Bashing von Sinti und Roma. Deswegen sind die zwei nach Dänemark | |
| ausgewandert. Dort wurden meine Tante und 1933 meine Mutter geboren. Nur | |
| ist meine Oma sehr früh gestorben. Mein Opa war also alleinerziehend. Er | |
| hat dann entschieden, nur die ältere Tochter bei sich zu behalten. Meine | |
| Mutter wurde zu ihrer Tante nach Frankfurt verfrachtet. Das war ihr | |
| Verderben. | |
| taz: Warum? | |
| Nyari: Sie hat da ein wirklich heftiges Schicksal erlitten: Sie wurde | |
| ständig versteckt, im Keller, dann auf dem Dachboden, jahrelang. | |
| taz: … um nicht von den Nazis ermordet zu werden …? | |
| Nyari: Ja. Aber zugleich ist sie mehrfach vergewaltigt worden, als Kind. | |
| Der Mann ihrer Tante hat sie regelmäßig sexuell missbraucht. Wie sie | |
| überlebt hat, woher sie die Kraft dafür hatte, weiß ich nicht. Ich meine, | |
| sie ist jetzt 92, das ist schon ein Wunder an sich. Ich glaube, für sie | |
| stand irgendwann fest: Weiße Männer sind das Grauen. Weshalb sie eben nur | |
| mit Schwarzen Männer zusammensein wollte. Was auch wieder zu Behördenstreit | |
| führte: Die haben sie ständig schikaniert. Die Sitte hat sie regelmäßig zur | |
| Untersuchung ins Gesundheitsamt einbestellt. Davor hatte sie so schrecklich | |
| Angst, dass selbst ich als Kind das wahrgenommen habe. Ich sehe mein | |
| Engagement auch als eine Konsequenz daraus. | |
| taz: Sie waren bei der Gründung der [3][Initiative Schwarzer Menschen in | |
| Deutschland] (ISD) dabei. Wie kam das? | |
| Nyari: Mein Bruder und ich, wir haben immer wieder Rassismuserfahrungen | |
| gemacht. Wenn wir uns in Frankfurt getroffen haben, haben wir gemerkt, wie | |
| schön es für uns war, dort auch andere Schwarze Menschen zu sehen und mit | |
| ihnen zu sprechen. Dieser Austausch, das war eine Wohltat, weil sie die | |
| gleichen Erfahrungen gemacht hatten, wie wir. Da waren auch viele der | |
| treibenden Persönlichkeiten der ISD-Gründung dabei, wie Eleonore | |
| Wiedenroth-Coulibaly und andere fürs Movement wichtige Namen. Wir haben uns | |
| auch oft in Wiesbaden im Park getroffen: meine Tochter und die von | |
| Eleonore, derselbe Jahrgang. Ich hatte ja dann eine Tochter bekommen. | |
| taz: Wie hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft auf die ISD-Gründung | |
| reagiert? | |
| Nyari: Die hat das gar nicht mitbekommen. Irgendwann war es dann mal | |
| öffentlich, weil das Movement so groß geworden war, und es kam halt auch | |
| diese Zeit mit [4][Audre Lorde in Berlin], was auch zu dem Buch „[5][Farbe | |
| bekennen]“ geführt hat … | |
| taz: Damals als Westberlin dieses tolle Biotop war … | |
| Nyari: Genau. Da gab es bei uns im Rhein-Main-Gebiet auch eine Anfrage, da | |
| mitzuwirken. Eleonore hat darin ihre Geschichte erzählt. Ich habe mich | |
| dafür aber nicht gemeldet. Mir war das damals noch zu ungeheuerlich. Ich | |
| konnte das nicht. Wir hatten dann mehrere Bundestreffen in | |
| unterschiedlichen Regionen. Besonders lebendig erinnern kann ich mich noch | |
| an das in Verden, weil da der Rechtsradikalismus so stark verankert war. | |
| Wir haben dann auch Nachtwachen geschoben, weil wir Angst hatten um unsere | |
| Kinder, dass sie angegriffen würden, wenn rauskommt, dass sich da etliche | |
| Schwarze treffen. | |
| taz: In der Zeitung stand damals nichts darüber. | |
| Nyari: Nein, die Zeitungen haben erst angefangen, uns wahrzunehmen, als wir | |
| öffentliche Aktionen gemacht haben, zum Beispiel als wir 1990 gegen das | |
| rassistische Benetton-Plakat protestiert haben, mit dem | |
| Teufelchen-und-Engelchen-Motiv. Da war ein Schwarzes Kind drauf, dessen | |
| Haare zu Teufelshörnern frisiert waren, und ein weißes Kind mit blonden | |
| Engelslöckchen. Da haben wir interveniert, weil da Narrative weitergetragen | |
| wurden, die uns seit Jahrhunderten schon als Verkörperung des Bösen | |
| abstempeln. Aber vor allem war uns damals wichtig, überhaupt Orte zu | |
| finden, wo wir uns austauschen konnten. Viele waren ja eingebunden in weiße | |
| Familienstrukturen, etwa, weil sie adoptiert waren. Gegen die eigene | |
| Familie eine Positionierung hinzubekommen, das war oft heftig. Der | |
| bekannteste Fall ist der von May Ayim, die daran zerbrochen ist. | |
| taz: In ihrem Beitrag zu dem 1986 erstmals erschienenen Buch „Farbe | |
| bekennen“, das als Gründungsdokument der afrodeutschen Bewegung gilt, hatte | |
| sie den Konflikt thematisiert … | |
| Nyari: Ja. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie das war, kurz nach so | |
| einem Bundestreffen, als es plötzlich hieß, sie sei verschollen. Drei Tage | |
| lang haben dann alle nach ihr gesucht, bis … Es gab damals noch mehr | |
| Suizide aufgrund solcher familiären Konstellationen. | |
| taz: Das ist heute leichter? | |
| Nyari: Auch als pädagogische Fachkraft kann ich sagen, dass die | |
| Identitätssuche für viele junge Menschen mit Schwarzem und weißem | |
| Elternteil nach wie vor unheimlich schwer und konflikthaft ist. Das hat | |
| damit zu tun, dass dir immer wieder klar gemacht wird, du wärst anders als | |
| die anderen. Das habe ich als Kind als belastend empfunden. Ich glaube, | |
| wenn dir da der Rückhalt fehlt, wird es schwer für viele Schwarze in dieser | |
| Gesellschaft. Was es umgekehrt bedrohlich macht, wenn dann Leute mir das | |
| Recht absprechen, mich selbst als Schwarz zu definieren. Die sagen: Nee, du | |
| bist weiß … | |
| taz: Weil Ihre Haut nicht dunkel genug ist? | |
| Nyari: Genau. Weil ich für deren Begriffe nicht Schwarz genug bin. Also da | |
| kannst du so einiges erleben, und das verletzt. | |
| taz: Wie sind Sie pädagogische Fachkraft geworden? | |
| Nyari: Ich bin ja eher ein Spätzünder. Also ich war nach dem | |
| Hauptschulabschluss im künstlerischen Milieu gelandet, durch Kontakte von | |
| den Demos, habe dann am Theater verschiedenste Kleinstrollen übernommen. | |
| Das war für mich so spannend, das hat mir genügt. Bloß bin ich mit 24 dann | |
| ja schwanger geworden. Da war klar, so geht es nicht weiter. Du musst jetzt | |
| was machen, was Hand und Fuß hat. Am Ende habe ich dann zwei Ausbildungen | |
| und Fachabi gemacht und darf mich staatlich anerkannte | |
| Heilerziehungspflegerin nennen. Aber als ich damit fertig war, war ich | |
| schon fast 30. Wie gesagt, ich bin echt in allem spät. Meinen Führerschein | |
| habe ich auch erst mit 55 gemacht! | |
| taz: Aber Sie haben ihn? | |
| Nyari: Ja, mittlerweile. In Frankfurt hatte ich den nie gebraucht. Da bin | |
| ich Fahrrad gefahren. | |
| taz: Wieso sind Sie weggegangen aus Frankfurt? | |
| Nyari: Es gab so viele Punkte, die mir gesagt haben: Wilma, du musst dich | |
| irgendwie neu orientieren. Erst war mein Bruder, dann mein Hund gestorben, | |
| ich hatte mich getrennt, mein Arbeitsvertrag lief aus, außerdem war ich | |
| schwer lungenkrank. Und dann hatte ich hier oft eine Freundin besucht. | |
| Irgendwann stand dann für mich fest: Ich ziehe nach Wilhelmshaven. Ich habe | |
| hier alles. Ich habe hier das Meer, bessere Luft – alles, was ich brauche. | |
| Und klar war: Irgendwann würde ich mir meine Wohnung in Frankfurt nicht | |
| mehr leisten können, und dann wäre ich wieder gefangen in einer Institution | |
| namens Sozialamt. Wenn du unter dieser Institution aufgewachsen bist und | |
| ihr entkommen bist, tust du alles, um nicht noch mal da drin zu landen. | |
| Insofern war der Umzug hierher für mich auch die Möglichkeit, meine | |
| Unabhängigkeit zu wahren. Inzwischen bin ich auch Großmutter, das ist noch | |
| eine ganz andere Rolle, das kommt noch hinzu. | |
| taz: … und Sie sind zur Kunst zurückgekehrt? | |
| Nyari: Kunst war für mich immer ein Lebensretter. Sie hat mich auch immer | |
| begleitet, die war nie weg. Schon als Kind hatte ich extrem viel gemalt, | |
| jetzt hole ich mir meine Kraft aus meiner Art, ausschließlich mit | |
| Handykamera zu fotografieren. Ich versuche die Schönheit der Welt | |
| darzustellen, um einfach zu sagen: „Hey Leute, ist das nicht geil, wo wir | |
| leben?“ Dabei kann ich total abschalten. Ich setze mich dadurch neu in | |
| Verbindung mit dem Hier und Jetzt. | |
| 1 May 2025 | |
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