# taz.de -- Toxische Positivität: Ungerechtigkeit lässt sich nicht wegatmen | |
> Positive Psychologie bringt uns bei, uns an Belastungen anzupassen. Dabei | |
> brauchen strukturelle Probleme oft politische Antworten – und manchmal | |
> auch wütende. | |
Bild: Positivität jederzeit? Noch ist der Luftballon gut angebunden … | |
Kennen Sie ihn auch, diesen Impuls, die friedliche Yoga-Abschlussrunde | |
durch destruktive Zwischenrufe zu stören? Das Dankbarkeitstagebuch | |
vollzukrakeln mit all den Dingen, die heute furchtbar waren? Wie die | |
übergriffigen Blicke Ihres Sitznachbarn in der Bahn, [1][oder das Vorhaben | |
der künftigen Bundesregierung, bestimmten Bürgergeld-Empfänger*innen | |
jegliche Leistungen zu streichen]? | |
Wenn es nach psychologischen Selbstverbesserungs-Programmen geht, ist | |
dieser Impuls falsch. Laut Achtsamkeit, Positiver Psychologie und Co. | |
sollten Sie Ihren Seelenfrieden von solchen Missständen nicht stören | |
lassen. Stattdessen sollten Sie an Ihrem persönlichen positiven Mindset | |
arbeiten, jede*r muss schließlich bei sich selbst anfangen, damit die Welt | |
ein besserer Ort wird. Negative Gefühle und Zornesfalten haben im Kosmos | |
der Wellbeing-Diskurse keinen Platz, sie sollen weggeatmet werden. | |
Dabei hat diese toxische Positivität für alle was im Angebot, von der durch | |
und durch rational denkenden Highperformerin bis zum gemeinschaftssuchenden | |
Hippie. Durch achtsames Zähneputzen können Sie erwiesenermaßen Ihren Stress | |
reduzieren oder durch Chakren-Stimulation Ihre inneren Schatten in Einklang | |
bringen. Die Grundidee dabei ist dieselbe. Es lässt sich viel gesünder, | |
glücklicher und noch dazu doppelt so produktiv leben, wenn man sich nicht | |
unnötig von Dingen belasten lässt, an denen ohnehin nichts zu ändern ist. | |
Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr individuelles Glück, statt anderen | |
Leuten mit Ihrem Weltschmerz auf die Nerven zu gehen. | |
Um nicht missverstanden zu werden – individuell mögen solche Praktiken eine | |
beruhigende Orientierungshilfe und ein Mittel der Selbstfürsorge im | |
anstrengenden Alltag sein. [2][Gesellschaftlich aber entpolitisieren und | |
verharmlosen die psychologischen Happiness-Programme strukturelle | |
Missstände.] Der Appell, an jeder Krise zu wachsen, jede Herausforderung | |
zur Chance umzudeuten, überdeckt Leidenszustände und Konflikte. Doch die | |
haben gesellschaftliche Ursachen und sollten deshalb Gegenstand unserer | |
politischen Debatten sein. | |
## Probleme lassen sich nicht wegatmen | |
Armut, Diskriminierungserfahrungen und Waldsterben sind keine dornigen | |
Chancen und lassen sich auch nicht wegatmen. Aber genau das suggeriert uns | |
die Wohlfühlpsychologie und bedient damit perfekt das neoliberale Narrativ | |
der Eigenverantwortung. Ein reflektierender Blick auf die Verhältnisse geht | |
so verloren. | |
Zudem verschwinden Wutaffekte und Ungerechtigkeitsgefühle ja nicht einfach, | |
bloß weil sie nicht ins Visionboard passen. Im Gegenteil, sie stauen sich | |
an. Nicht selten richten sie sich gegen Menschen, die als minderwertig, | |
schwach oder bedrohlich wahrgenommen werden. | |
Wir debattieren öffentlich zu wenig über die eigentlichen Ursachen der | |
Themen, die vielen Menschen zurzeit das Lächeln austreiben. [3][Wie zum | |
Beispiel Armut oder die Angst davor], Ausbeutung am Arbeitsplatz, die | |
Bedrohung durch die Klimakatastrophe oder die Missachtung internationaler | |
Rechte und Normen. Rechtspopulistische Akteur*innen wissen diese | |
Gemengelage zu nutzen. Sie mobilisieren Ressentiments und Wut, um | |
menschenfeindliche Scheinlösungen zu propagieren, und versammeln dabei eine | |
schockierend große und laute Menge an Menschen hinter sich. | |
Es ist deshalb der zynische Appell ans unverwüstlich-positive Mindset, der | |
uns misstrauisch machen sollte, nicht unsere Unruhe, unser Zorn oder unsere | |
Überforderung. Wer will schon von sanft lächelnden | |
Turbo-Individualist*innen umgeben sein, die Klimaschäden, Wohnungslosigkeit | |
und über 20 Prozent AfD auf dem Weg zum Glücks-Coaching achtsam links (bzw. | |
rechts) liegen lassen? Deshalb, Mut zur Zornesfalte und zu einem | |
solidarischen Diskurs über ihre strukturellen Ursachen! | |
14 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Fanny Mertens | |
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