# taz.de -- Album von Derya Yıldırım & Grup Şimşek: Zwischen Nähe und Dis… | |
> „Yarın Yoksa“, das neue Album der Künstlerin Derya Yıldırım und ihrer | |
> Band Grup Şimşek, schneidert Anadolurock ein zeitgenössisches Gewand. | |
Bild: Derya Yıldırım, zweite von links, und ihre Grup Şimşek | |
„Yarın Yoksa“, das neue Album der Berliner Künstlerin Derya Yıldırım, … | |
auf Deutsch „Wenn es kein Morgen gibt“. Der Albumtitel klingt existenziell, | |
die Musik der elf Songs, ihr sanft psychedelischer, irisierender Touch, | |
überführt diese Dringlichkeit in luftige Arrangements. | |
Gleich im Auftaktsong „Çiçek Açıyor“ (Blühende Blume) heißt es in der | |
zweiten Strophe „Kül Olorum, kor bakar / Parlarım, sönemem / Bana vebal, | |
alınırım yar“. Das Text-Ich verwandelt sich in Asche „wegen deines | |
brennenden Blicks“. Die Glut leuchtet trotzdem, sein Feuer kann nicht | |
gelöscht werden, auch wenn der Blick des anderen „eine Bürde ist, der mich | |
beleidigt“. | |
„Wenn es kein Morgen gibt, muss man sich ums Heute kümmern, als ginge es um | |
den letzten Atemzug“, [1][erklärt die 30-jährige Yıldırım] der taz zur | |
leidenschaftlichen Intention des Albums. Die Band habe sich beim Aufnehmen | |
vorgestellt, sie sei in einer Glaskugel auf einem Ozean ohne Kompass. Innen | |
drin Gefühle, Hoffnungen, aber auch Sorgen. „Die Musik ist uns ernst, damit | |
lassen wir tief blicken.“ | |
## Anklänge an die 1970er Jahre | |
Mit ihrer dreiköpfigen Band Grup Şimşek – den beiden französischen Musike… | |
Graham Mushnik und Antonin Voyant und der südafrikanischen Drummerin Helen | |
Wells – hat Derya Yıldırım eine zeitgenössische Form von Folkrocksound | |
entwickelt, durch ihre Stimme und die türkisch gesungenen Texte mit | |
deutlichen Anklängen an den anatolischen Sound der 1970er. | |
Auch wenn darin britischer Progrock oder der grobkörnige modernistische | |
Blue-Eyed-Soul der Spencer Davis Group durchscheinen, „Yarın Yoksa“ hat | |
anatolische Schlagseite. „Niemand von uns hat eine direkte Verbindung zu | |
Anatolien. Da war immer Distanz, und zugleich fühle ich mich zu Hause in | |
der anatolischen Musik. Wir tragen sie weiter und drücken sie mit unseren | |
Worten aus.“ | |
Gleich zu Beginn erklingt Yıldırıms Signalinstrument, die Bağlama, aber | |
auch ein Mellotron, ein Tasteninstrument, typisch für softe Psychedelik. | |
## Ölfass verstärkt den Hall | |
Für die Aufnahme verwirklichte Yıldırım einen Traum, die Musik wurde in | |
einem Studio in New York eingespielt. US-Produzent Leon Michels, bekannt | |
von der Soulband El Michels Affair, saß an den Reglern und wirkte an den | |
Aufnahmen mit. Von ihm stammt etwa die Idee, den Leslie-Amp von Yıldırıms | |
Bağlama in ein Ölfass zu stellen, um den Hall zu verstärken. Wie virtuos | |
sie die Bağlama spielt, manchmal auch mit Wah-Wah-Pedal, das macht Yıldırım | |
niemand nach. | |
„Was meine Musik psychedelisch werden lässt, ist die Resonanz der Saiten, | |
daraus ergibt sich ein mystischer Touch.“ Yıldırıms Bağlama hat eine | |
diatonische Stimmung, „ich spiele damit Vierteltöne, die ziehe ich groß | |
auf“. Auch wenn auf dem neuen Album Raum für ihre solistischen Eskapaden | |
bleibt, wird sie behutsam eingehegt von der Band. Sie betont, dass das | |
Album keinen Retro-Charme hat: „Wir leisten damit auch einen Beitrag zum | |
gegenwärtigen türkischen Musikschaffen. Wir spielen regelmäßig Konzerte in | |
der Türkei. Türkische Musikfans schätzen uns.“ | |
Aufgewachsen ist Derya Yıldırım auf der Veddel am Hamburger Hafen: „Was es | |
bedeutet, im Kollektiv zu sein, habe ich dort gelernt. Marginalisierung, | |
Ausgrenzung, das habe ich auch dort gelernt. Ich mag die Veddel trotzdem, | |
ich bin ein Hafenkind. Die Bağlama hat auch in Hamburg Wurzeln.“ | |
## Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft | |
Yıldırım ärgert sich darüber, wie lange es gedauert hat, bis der Sound der | |
Bağlama, der seit mehr als 60 Jahren in der Bundesrepublik ertönt, von der | |
Mehrheitsgesellschaft überhaupt wahrgenommen wurde. [2][Es sei diese | |
Ignoranz, hat der Berliner Autor İmran Ayata neulich in der FAS | |
geschrieben], die „nicht nur eine zeitgemäße Einwanderungspolitik“ | |
verhindere, sondern „auch soziale Ungleichheit“ verfestige und daher | |
„Rassismus nicht bekämpfen“ könne. | |
Derya Yıldırım empfindet sich angesichts dieser Ignoranz als | |
„Nicht-Deutsche“. Mit dieser „gespaltenen Haltung“ hat sie auch [3][die | |
Musik für den unbedingt sehenswerten Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ | |
(kürzlich bei der Berlinale im Programm) komponiert.] Darin geht es um | |
Kondolenzschreiben und Trauerbekundungen von Deutschen, die 1993 nicht an | |
die Opferfamilien des Nazi-Brandanschlags von Mölln übermittelt wurden. | |
Yıldırıms Soundtrack ist in seiner stillen Zurückhaltung und unpathetischen | |
Parteinahme sehr wirkungsvoll. | |
Bei einem Song des Albums schlägt tatsächlich der Bullshit-Detektor an, | |
sein funky Soulgroove passt nicht zum aktivistischen Songtext von „Direne | |
Direne“, bei dem es um Tyrannen, Blut von Unschuldigen geht, um Kinder, die | |
nicht vergeben, und um Patronen und Messer. In einer Strophe heißt es | |
„Irmaktan denize işgal edenler“, die, „die vom Fluss bis zum Meer | |
einmarschieren“. Die Antwort im Refrain: „Yine de yine de, direne direne“: | |
„Wir leisten dagegen Widerstand, immer wieder“. | |
## Unguter Slogan | |
Das Parolenhafte erinnert auf ungute Art an den palästinensischen Slogan | |
„From the River to the Sea“, der Israel von der Landkarte tilgen möchte. | |
Auf Nachfrage erklärt Yıldırım, es ginge ihr dabei um Gewalt gegen Frauen | |
in der Türkei, Ungerechtigkeit in Deutschland, aber auch um den Krieg in | |
Gaza. Dann schaltet sich Drummerin Helen ein, ob der Slogan „From the River | |
to the Sea“ wirklich antisemitisch sei, „können wir gar nicht bestimmen, er | |
ließe sich auch über den Kongo sagen, wo gerade ein Krieg wütet.“ Ein | |
Unbehagen bleibt. | |
14 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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