| # taz.de -- Politik und Armut: „Leute wie wir werden immer am Rand bleiben“ | |
| > Über Armut spricht im Wahlkampf kaum jemand. Was denken Menschen mit | |
| > wenig Geld über Politik und wen wählen sie am Sonntag? Ein Besuch bei der | |
| > Tafel. | |
| Bild: An der Ausgabestelle der Münchner Tafel: Themen wie soziale Sicherheit u… | |
| Berlin taz | Die Menschen, die an diesem Nachmittag Mitte Februar zur | |
| [1][Berliner Tafel] gehen, erkennt man an ihren Einkaufstrolleys. Mit ihnen | |
| steigen sie die wenigen Stufen zur Ausgabestelle in der Martin Luther | |
| Kirche in Neukölln herauf. Ahmet kommt gerade raus, einen Rucksack auf dem | |
| Rücken und zündet sich eine Zigarette an. Auf die Frage, was er am Sonntag | |
| wählt, blickt er kurz überrascht. Dann antwortet er schnell: „Die Grünen �… | |
| wegen Ukraine“. Er überlegt nochmal kurz und sagt dann: „In Neukölln weiß | |
| ich es noch nicht, vielleicht auch SPD oder Linke“. | |
| Ahmet ist als Kind aus der Türkei gekommen, seit über 40 Jahren lebt er in | |
| Deutschland. Wie alle in diesem Text nennt er nur seinen Vornamen. [2][Zur | |
| Zeit arbeitet er in einem 2€-Job]. Weil er hier zur Tafel kommen kann, | |
| spart er sich zehn Euro die Woche. Wie er auf die Politik, auf die | |
| steigenden Preise blicke? Er zuckt die Schultern. | |
| Ist halt die Wirtschaft, meint er. Die wichtigsten Themen sind für ihn zur | |
| Zeit die Ukraine und das Klima. Wählen würde er deshalb meistens die Grünen | |
| oder SPD. Nur einmal habe er CDU gewählt, in den 90ern, aber da hatte er | |
| eine Wette verloren. Zu konservativ, zu bürgerlich, meint der | |
| Mitte-50-Jährige. | |
| Zur Martin Luther Kirche kommen Menschen wie Ahmet, die zu wenig haben, um | |
| sich Lebensmittel nur aus dem Supermarkt zu kaufen: Bürgergeld- und | |
| Grundsicherungsempfänger:innen, [3][BAföG-Bezieher:innen] oder Leute, die | |
| Wohngeld bekommen. Auch viele Geflüchtete aus der Ukraine nutzen das | |
| Angebot. | |
| ## Soziale Sicherheit und Teilhabe sind kaum Thema | |
| Alleine 5,7 Millionen Bürgergeld-Empfänger:innen gibt es in Deutschland, | |
| doch sie hört und sieht man wenig. Während im Bundestagswahlkampf vor allem | |
| über Migration und innere Sicherheit diskutiert wird, kommen Themen wie | |
| soziale Sicherheit und Teilhabe kaum vor. Und das, obwohl die | |
| [4][Verbraucherpreise] laut dem Statistischen Bundesamt seit 2020 um rund | |
| 20 Prozentpunkte gestiegen sind. Zum Vergleich: Eine erwachsene Person | |
| erhält 2024 und 2025 563 Euro an Bürgergeld im Monat. | |
| „Leute wie wir, die werden immer komplett am Rand bleiben“, meint Zosia. | |
| Mit so wenig Geld könne man einfach nicht am Leben teilnehmen, die Angst am | |
| Ende des Monats nicht mehr genug Geld zum Essen zu haben hinge wie ein | |
| Damoklesschwert über allem. Zusammen mit Marion, die sie bei der Tafel | |
| kennengelernt hat, wartet die 45-Jährige darauf, dass ihr Buchstabe | |
| augerufen wird. Sie selbst will die Linke wählen. Doch ob die was an der | |
| Gesamtsituation ändern kann? Alle seien gegeneinander und keiner habe eine | |
| Lösung, sagt Zosia: „Zu viele Männer, die nicht miteinander kommunizieren | |
| können“. | |
| Marion, 62, will nicht sagen, wen sie wählt. Dass irgendjemand tatsächlich | |
| Lösungen für Armutsbetroffene hat, glaubt sie aber nicht. „Sie sagen immer | |
| sie wollen [5][die Reichensteuer erhöhen], sollen sie doch mal machen“, | |
| sagt sie angriffslustig. Sie erinnert sich noch, wie viel Überwindung es | |
| sie gekostet hatte, das erste Mal zur Tafel zu kommen, wegen der Scham. Vor | |
| allem, weil sie doch immer gearbeitet hat – als Verkäuferin, dann als | |
| Tischlerin, nur den Computerkurs fand sie schwierig. Trotzdem weiß sie, | |
| dass sie Glück hat. Sie hat ein Netzwerk, eine Tochter, die mal aushelfen | |
| können. „Andere Leute haben das nicht“. | |
| „Angst wird zur Währung“ | |
| Eine Person läuft vorbei. Bei der Frage, wen sie wählt, bleibt sie kurz | |
| stehen: „Die Linke, macht für mich als Schwarze Person am meisten Sinn.“ | |
| Sie geht weiter. Dann kommen Michi und Miriam rein. Michi arbeitet in der | |
| Behindertenwerkstatt in der Nähe, seine Mitbewohnerin Miriam hat zuletzt im | |
| Sicherheitsservice gearbeitet. Beide wissen noch nicht, ob oder wen sie | |
| wählen, nur dass es nicht in die richtige Richtung geht. Gegen Drogen und | |
| Alkohol müsse was unternommen werden, und dass es so viele Obdachlose gibt, | |
| weil die Wohnungen so teuer sind. | |
| Hermann will am Sonntag wählen gehen – die Linke. Wegen der sozialen | |
| Aspekte und weil sie kritisch seien gegen die Kriegstreiberei, wie er sagt. | |
| Die hohen Stimmenanteile für die AfD, glaubt er, sind nur ein Symptom einer | |
| Krankheit, die wesentlich tiefer reiche. Angst werde von den Rechten zur | |
| politischen Währung gemacht. „Wir müssen uns emotional und intellektuell | |
| von Angst emanzipieren“, glaubt Hermann. Sonst ist die Politik zwar | |
| weiterhin repräsentativ, aber eben nicht demokratisch. | |
| 21 Feb 2025 | |
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| Amelie Sittenauer | |
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