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# taz.de -- Bücher über Bismarck und Wilhelm I.: „Ein Bismarckreich gab es …
> Kaiser Wilhelm I. tritt aus dem Schatten seines Reichskanzlers. Drei
> Bücher stellen das Bismarckbild auf den Kopf und Wilhelm I. auf die
> Bühne.
Bild: Wer diktiert hier wem? Wilhelm I. und Bismarck, Aquarell von Konrad Sieme…
Das Kaiserreich von 1870/71 gilt als das Werk des preußischen
Ministerpräsidenten Otto von Bismarck und seiner drei Einigungskriege gegen
Dänemark, Österreich und Frankreich. Man spricht vom „Bismarckreich“, gar
von „Kanzlerdiktatur“. Die Regie führte der „eiserne Kanzler“. Das ber…
Zitat Kaiser Wilhelms flankiert dieses Bild: „Es ist nicht leicht, unter
einem solchen Kanzler Kaiser zu sein.“
Treffender könnte die Asymmetrie zwischen Wilhelm dem Getriebenen und
Bismarck dem Macher kaum zum Ausdruck kommen. Der oben erwähnte
Allerhöchste Ausspruch gehört zum deutschen Erinnerungskulturschatz. Doch
hat seine Majestät das wirklich je formuliert? Das Zitat taucht erstmals
1899 auf, als Wilhelm (1797–1888) und Bismarck (1815–1898) längst
verstorben waren. Der linksliberale Ludwig Bamberger schrieb, Wilhelm habe
das einmal „einem Vertrauten“ gesagt – wem genau und wann bleibt unbekann…
Wenn das lieb gewonnene Zitat schon fragwürdig ist, stimmt dann überhaupt
unser Bild des Machtgefälles zwischen Bismarck und Wilhelm? Müssen wir
unser Schulwissen über Bord werfen? Die hergebrachte Vorstellung, der König
von Preußen (seit 1861) und Deutsche Kaiser (seit 1871) habe ebenso unter
dem Pantoffel seiner Frau Augusta gestanden wie unter der Kuratel
Bismarcks, gerät durch drei Neuerscheinungen massiv in Bedrängnis. Was wie
eine konzertierte Kampagne wirkt, entpuppt sich als den Umständen
geschuldet. Jan Markert (Oldenburg), Susanne Bauer (Trier) und Frederik
Frank Sterkenburgh (Warwick) lernten sich während ihrer Dissertationen
kennen und stimmten ihre Arbeitsfelder aufeinander ab. Alle danken sich
jeweils gegenseitig. Als Trio reisen sie von Münster über Berlin bis
Auckland, Australien, auf Vortragtournee.
## Nie gesehene Quellen
Wilhelms Licht wird verdunkelt durch die Strahlkraft Bismarcks, durch die
vermeintlichen Einflüsterungen von Augusta und durch Wilhelm II., der den
Kanzler 1890 entließ, um endlich das „persönliche Regiment“ zu führen.
Gegen alle drei Vorurteile zieht Jan Markert zu Felde. Sein mit 768 Seiten
etwas aus dem Ruder gelaufenes Werk beschreibt den Zeitraum von Wilhelms
Geburt 1797 bis an die [1][Schwelle der Reichsgründung]: seine soldatische
Erziehung, die Revolutionsfurcht und erzkonservative Oppositionshaltung
gegenüber seinem romantisch-großdeutsch veranlagten älteren Bruder, König
Friedrich Wilhelm IV. Es widerlegt die Mär vom „Kartätschenprinzen“, denn
Wilhelm hatte in Berlin 1848 keinerlei militärische Befehlsgewalt. Nie
gesehene Quellen erschließen die Wandlung des Thronfolgers nach der
Revolution: Die Monarchie, das sah er nun ein, ließ sich nur retten, wenn
sie dem Drang der Zeit nach Verfassungen nachgab und die nationale Bewegung
vor den eigenen Karren spannte. Wilhelm war weder Parlamentarier noch
deutschnational. Aber er wusste beide Kräfte zu instrumentalisieren, um die
schleichende Delegitimierung der Monarchie aufzuhalten, lange bevor er
Bismarck 1862 zum Ministerpräsidenten kürte. Nicht dieser, sondern Wilhelm
verfolgte die Ausweitung Preußens in die Nation. Bismarck diente als sein
getreuer Erfüllungsgehilfe.
Wenn jemand ein „persönliches Regiment“ führte, dann Wilhelm seit 1857, a…
er stellvertretend für seinen erkrankten Bruder zu regieren begann. Er nahm
an Ministerkonferenzen teil; er wollte die Einigungskriege; er änderte in
wichtigen Punkten Bismarcks Verfassungsentwurf. Viele etablierte Legenden
werden plausibel zerstört. Erstaunlicherweise hat keine der großen
Bismarckbiografien von Erich Marcks (1918) über Lothar Gall (1980), Otto
Pflanze (1990) bis Christoph Nonn (2015) je den 27,5 Meter langen Nachlass
Wilhelms im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz studiert. Sie
verließen sich auf Quellen von Bismarck. Der habe, so hieß es daher
durchgängig, genialerweise Wilhelm 1866 davon abgehalten, nach der
Niederlage bei Königgrätz in Wien einzumarschieren und Österreich durch
Gebietsabtretungen zu demütigen. Nun zeigt sich: Bismarck selbst wollte
anfangs genau dieses. Wilhelm hat ihn umgestimmt.
Scharf verurteilt Markert den Bismarckzentrismus der deutschen
Historiografie. „Ein Bismarckreich gab es nie“, sondern ein Kaiserreich.
Bismarck musste Wilhelm „nach dem Munde“ reden. Auch Augusta sei in
Konfliktfällen die „eindeutige Verliererin“ gewesen. Markerts
„Totalrevision des tradierten Kaiserbildes“ macht Wilhelm zum eigentlichen
Reichsgründer.
## 5.800 überlieferte Briefe
Der Einfluss der damals angeprangerten „Damenpolitik“ bleibt unklar. Eine
2006 begonnene Dissertation darüber lässt leider bis heute auf sich warten.
Ihretwegen setzte Susanne Bauer einen anderen Akzent: auf die
Handlungsspielräume der seit 1829 mit Wilhelm verheirateten Augusta. Beide
waren verschieden, respektierten sich aber gegenseitig. Da Augusta die
meiste Zeit des Jahres in Koblenz weilte, schrieben sie sich Briefe – doch
selbst dann, wenn sie sich am selben Ort in demselben Gebäude aufhielten.
Über 5.800 solcher Briefe sind überliefert.
Bismarck klagte über Wilhelm, er rauche nicht und lese keine Zeitungen,
bloß Akten. Augusta dagegen las täglich mehrere Zeitungen und schickte
ihrem Mann Presseausschnitte mit eigenen Stellungnahmen. Die „Politik im
Unterrock“ galt misogynen Zeitgenossen als Kompetenzüberschreitung. Einer
Frau und Herrschergattin stand das nicht zu. Bauer wertet das
Kommunikationsnetzwerk aus anhand von mehr als 22.000 Briefen an und von
Augusta mit über 500 Korrespondenzpartnern, mit Fürsten in ganz Europa,
Bischöfen, Priestern und Politikern. Dieses Netzwerk erlaubte Augusta einen
indirekten Einfluss auf die Politik, etwa bei der Wahl eines Bischofs oder
von Ministern. Wilhelm schenkte ihren Ansichten Gehör, folgte ihnen aber
nur selten. Weder Bauer noch die anderen Autoren messen Augusta den
Einfluss zu, den ihr Bismarck immer wieder unterstellte.
Frederick Frank Sterkenburgh beginnt zeitlich dort, wo Markerts Buch
ausklingt: mit dem Feldherrn inmitten der Schlacht von Königgrätz 1866.
Beinahe hätte den Kaiser österreichisches Kanonenfeuer erwischt, was seinem
Heldennimbus zuträglich war. Damit setzt Sterkenburgh wiederum einen
anderen Akzent. Ihm geht es um das „Staging“ des [2][Militärmonarchen].
Wilhelm zelebrierte seine Rolle und ließ sein Image pflegen.
## Selbstinszenierung schuf Realität
Der kulturhistorische Zugriff ist kein Selbstzweck um der modischen
Kulturgeschichte willen. Gerade die „performance“ – durch Präsenz auf dem
Schlachtfeld, öffentliche Reden, Reichstagseröffnungen, Zeremonien,
Militärmanöver – stabilisierte Wilhelms politische Macht. Jeder konnte beim
Spaziergang zum Palais Unter den Linden sehen, wie er von früh bis spät an
seinem zum Straßenfenster gelegenen Schreibtisch saß und am Wohle
Deutschlands arbeitete. Die Selbstinszenierung schuf Realität, machte
Wilhelm zum letztentscheidenden Hauptakteur, während Bismarck nur seine
Direktiven umsetzte. Auch das Parlament blieb im monarchischen
Konstitutionalismus zweitrangig. Erst ab 1877 zog sich der nunmehr
Achtzigjährige aus dem politischen Tagesgeschäft zurück. Jetzt
konzentrierte er sich darauf, vor dem zunehmend einflussreicheren Reichstag
Präsenz zu demonstrieren.
Wilhelms Empfänge oder Besuche anderer deutscher Fürsten waren eine
distinkte Strategie. Öffentliche Auftritte mit ihnen setzten ihn als Primus
inter Pares in Szene, als Hauptherrscher. Der föderative Fürstenbund mit
Wilhelm an der Spitze fungierte als Gegengewicht zur weiteren
Parlamentarisierung. Schließlich hatte er den Kaisertitel am 16. Dezember
1870 nicht vom Reichstag angenommen, sondern am 18. Januar 1871 von den
deutschen Fürsten in Versailles.
Auch Sterkenburgh fordert eine Neuinterpretation von Wilhelm als
politischem Akteur. Narrative, die [3][Bismarck] zur Schlüsselfigur des
Kaiserreichs machen, sollten seiner Meinung nach einer Revision unterzogen
werden. Der Kanzler hing von seinem Monarchen ab. Selbst wenn Wilhelm
manchmal scheiterte, zähle doch die „Suggestion“ seines „persönlichen
Regiments“. Der Allerhöchste hatte das „letzte Wort“.
## Die Zivilehe musste Wilhelm mühsam abgetrotzt werden
Doch wer hatte das erste Wort? Wer brachte neue Ideen, neue Impulse ein?
Wer ergriff die Initiative? Wer löste knifflige Konflikte wie etwa 1867,
als Frankreich Luxemburg kaufen wollte, was beinahe zu einem Krieg geführt
hätte, oder die nach 1868 aufgeworfene Thronfolgefrage in Spanien?
Entschieden wehrte sich Napoleon III. gegen den Sigmaringer Erbprinzen
Leopold aus einer Nebenlinie der Hohenzollern und diese Einkreisung. Auch
Wilhelm war gegen ihn. Dieser Konflikt mündete in die von Bismarck
manipulierte Emser Depesche 1870. Sie wird in keinem der Bücher auch nur
erwähnt, erwies sich aber als Coup, um Frankreich als Aggressor dastehen zu
lassen.
War Bismarck nicht eben doch vielfach Motor und Weichensteller? Von den 22
Kulturkampfgesetzen erwähnen die Bücher lediglich zwei. Die Zivilehe musste
Wilhelm mühsam abgetrotzt werden. Auch zu den antiklerikalen Maigesetzen
von 1873 fehlt jede Zeile. Kultusminister Adalbert Falk und der Kanzler
mussten sie gegen Wilhelm erstreiten.
Sterkenburgh schreibt, in seiner anhaltenden Revolutionsphobie habe Wilhelm
die Sozialistengesetze 1878 unterstützt. Offen bleibt, von wem sie
konzipiert wurden. Komplementär dazu wollte der Kaiser das Zuckerbrot der
Sozialgesetzgebung mit seiner Adresse zur Reichstagseröffnung Ende 1881
präsentieren und sich selbst als paternalistischen Landesvater. Aber wer
hatte die Gesetze ausgeheckt? Wilhelm hatte sich seit 1851 für die soziale
Frage nicht mehr interessiert.
So überzeugend der unterschätzte König und Kaiser wieder in seine Rolle als
aktiver Politiker und Herrscher eingesetzt wird, auch als Vorbereiter des
nationalen Weges, so richtig bleibt es doch, aus ihm jetzt nicht „Wilhelm
den Großen“ zu machen, wie es sein Enkel Wilhelm II. versuchte.
König/Kaiser und Ministerpräsident/Kanzler sollten nicht gegeneinander
ausgespielt werden. Beide waren sich einig in ihrem Ziel, die
Demokratisierung zu zähmen. Die tradierte [4][Bismarckgläubigkeit] darf
weder in Wilhelmgläubigkeit umschlagen noch Wilhelm die Hauptlast für den
deutschen „Sonderweg“ aufgebürdet werden.
9 Mar 2025
## LINKS
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[2] /Nachruf-auf-Historiker-John-Roehl/!5971355
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[4] /Bismarck-und-die-Rechten/!5644694
## AUTOREN
Olaf Blaschke
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