# taz.de -- Wahlkampf der Linkspartei: Auferstehung ganz ohne Religion | |
> Nicht nur bei einem Auftritt der „Silberlocken“ in Friedrichshagen zu | |
> erleben: der wundersame Boom der schon geschlagen geglaubten Linkspartei. | |
Bild: Im Aufschwung: Bodo Ramelow mit gar mal nicht so silbernen Locken in Frie… | |
Berlin taz | Vor der Tür eine große Menschentraube, Wartende auch auf den | |
Treppen in den zweiten Stock und schließlich ein voller Saal. Nein, es ist | |
keine Promi-Veranstaltung der Berlinale und auch keine Schlange vor einem | |
angesagten Club. All diese Menschen wollen zur Linkspartei oder zumindest | |
zu einer ihrer Veranstaltungen. Was dieser Tage in Friedrichshagen im | |
Südosten Berlins zu erleben war, nur ein paar hundert Meter vom Müggelsee | |
entfernt, ist sinnbildlich für die Auferstehung einer Partei, die doch mit | |
Religion – laut Karl Marx „Opium des Volkes“ – wenig im Sinn hat. | |
Drei Wochen zurück. Die [1][Meinungsforscher von Forsa und andere | |
Umfrageinstitute] sehen die Linkspartei allen Anstrengungen zum Trotz | |
weiter bloß bei drei Prozent. Zwei Prozentpunkte fehlen, um es bei der | |
Bundestagswahl am 23. Februar wieder über die Fünfprozenthürde ins | |
Parlament zu schaffen. | |
Zwei Punkte? Das klingt nach wenig, bedeutet aber nichts anderes als: Die | |
Linke muss ihren Zuspruch beinahe verdoppeln. Wie soll das gehen? Es ist ja | |
nicht so, dass die Partei in den vorangegangenen drei Monaten untätig | |
gewesen wäre. Das neue Hinhören und die vielen Besuche bei Wählern, die im | |
Oktober die neue Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner ankündigte – „Wir | |
werden an 100.000 Haustüren gehen“ -, das hat es ja alles gegeben, umso | |
mehr nach dem Ampel-Aus am 8. November. | |
Wobei die Starteuphorie schnell in der parteiinternen Antisemitismusdebatte | |
unterzugehen drohte. Bekannte Gesichter verließen die Partei, in Berlin | |
traten gleich drei ehemalige Senatsmitglieder aus: Klaus Lederer, Elke | |
Breitenbach und Sebastian Scheel, dazu noch der frühere Fraktionschef | |
Carsten Schatz. Beim Landesparteitag hatte es zuvor eine Mehrheit der | |
Delegierten [2][abgelehnt, Judenfeindlichkeit auch in den eigenen Reihen | |
klar zu benennen]. Die Forderung, jüdisches Leben „konsequent und unter | |
Einsatz rechtsstaatlicher Mittel zu schützen“, fand ebenfalls keine | |
Mehrheit. | |
Nur drei, maximal vier Prozent in Wahlumfragen waren es noch bis in die | |
vierte Woche des neuen Jahres hinein. Dann aber kam der 24. Januar. Es ist | |
der Tag, an dem CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz als Reaktion auf die | |
Morde in Aschaffenburg Anträge zu verschärfter Migrationspolitik ankündigt | |
– und über diese sagt: „Wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer | |
ihnen zustimmt.“ Das wird als Ende der Brandmauer zur AfD aufgefasst, weil | |
Merz in Kauf nimmt, durch AfD-Stimmen zu einer Mehrheit im Bundestag zu | |
kommen – wozu es am Ende dann auch kommt. | |
## „Auf die Barrikaden!“ | |
Protest regt sich allenthalben, Massendemonstrationen formen sich – und | |
wenige Tage später wird eine 36-Jährige, bei der die Bild später vor allem | |
den tätowierten linken Unterarm heraushebt, durch eine emotionale | |
Bundestagsrede sprunghaft einer breiten Öffentlichkeit bekannt: „Auf die | |
Barrikaden!“, fordert Heidi Reichinnek, Gruppenchefin der | |
Linkspartei-Abgeordneten. In Reaktionen auf ihre Worte wird sie quasi zur | |
deutschen Urenkelin der [3][Fahnen schwenken Marianne] aus der | |
Französischen Revolution. | |
Tags darauf steigt die Linkspartei bei Forsa auf vier Prozent, vier Tage | |
danach ist sie bei fünf. Und an jenem Abend, als sich in Friedrichshagen | |
die Leute am und im örtlichen Rathaus drängen, das heute ein Kulturzentrum | |
ist, sind es schon sechs Prozent – doppelt so viel wie drei Wochen vorher. | |
Am nächsten Morgen werden es sogar sieben Prozent sein. In Neukölln lassen | |
die Umfragen sogar auf das erste Direktmandat für die Linke im Westen der | |
Stadt hoffen. Begleitet wird all das von einer noch nie erlebten | |
Eintrittswelle. Die lässt den Berliner Landesverband seit Jahresbeginn von | |
8.300 auf über 11.100 Mitglieder wachsen. | |
Die Umfragezahlen nehmen durchaus etwas Druck von den beiden Männern, | |
deretwegen so viele gekommen sind. Im Ratssaal vor über 200 Menschen sitzen | |
nämlich zwei jener drei älteren Herren, die seit Mitte November als | |
„Mission Silberlocke“ zur Parteirettung unterwegs sind: Gregor Gysi, 77, | |
der hier im Wahlkreis Treptow-Köpenick seit 2005 immer klar gewonnen hat, | |
und Bodo Ramelow, 68, der bis kurz vor Weihnachten zehn Jahre thüringischer | |
Ministerpräsident war. Nicht dabei an diesem Abend: Dietmar Bartsch, 66, | |
bis Ende 2023 vorerst letzter Chef der Linksfraktion im Bundestag – seither | |
ist die Partei dort nur noch mit einer von Reichinnek geführten Gruppe | |
vertreten. | |
Diese drei, zusammen 211 Jahre alt, wollten eigentlich mit ihrer Mission | |
die Linke im Parlament halten: Bei drei gewonnenen Direktmandaten gilt | |
nämlich die Fünfprozenthürde nicht. Auf diesem Weg blieb die Linkspartei | |
schon 2021 im Bundestag, als sie nur auf 4,9 Prozent kam. Dass Ramelow | |
seinen Wahlkreis Erfurt/Weimar gewinnen könnte, galt nicht als ganz | |
abwegig. Aber Bartsch in Rostock, wo die Linkspartei bei der Europawahl im | |
Juni nur auf Platz fünf landete? Da schien der PR-Aspekt einer | |
Drei-ältere-Männer-Mission durchaus im Vordergrund zu stehen. | |
## Gemeindeschwester Agnes? | |
Dass die Rettung der Partei nun nicht mehr allein an den beiden vorne im | |
Ratssaal zu hängen scheint, hat das Interesse an ihrem Auftritt sichtlich | |
nicht gemindert. Gysi und Ramelow streifen große Themen wie Umverteilung | |
und die Krankenhausreform, streicheln die ostdeutsche Seele, wünschen sich | |
Poliklinken zurück – und Gemeindeschwester Agnes. „Die Jüngeren werden gar | |
nicht wissen, wovon ich rede“, sagt Ramelow über dieses in der DDR übliche | |
Versorgungsmodell, zu dem es eine bekannte gleichnamige Fernsehserie gab, | |
„Westdeutsche auch nicht“. | |
Fast zum Ende geht es im Saal bei dieser aus der Dreiprozentniederung | |
auferstandenen und vermeintlich religionsfernen Partei plötzlich auch um | |
das Christentum. „Jesus würde links wählen“, sagt der gläubige Protestant | |
Ramelow. Gysi, nach eigenen Worten nicht religiös, behauptet das seit | |
Jahren – und beide haben immerhin schon Jesu Stellvertreter auf Erden | |
persönlich getroffen, den Papst Franziskus. Die Auferstehung ihrer Partei | |
kommt ohnehin wie ein Wunder daher, wenn auch kein biblisches. | |
Hinweis: In einer früheren Version war der Müggelsee inkorrekterweise im | |
Südwesten statt im Südosten Berlins eingeordnet | |
16 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wahlrecht.de/umfragen/forsa.htm | |
[2] /Linkspartei-streitet-ueber-Antisemitismus/!6039646 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Marianne#/media/Datei:La_Libert%C3%A9_guidant… | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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