| # taz.de -- Dramaturg*innen über Bären-Theater: „Ein selbstgemachtes Proble… | |
| > Schuld ist der Mensch: Statt winterzuschlafen, ängstigen in | |
| > Nord-Mazedonien hungrige Bären die Leute. Les Dramaturx machen das in | |
| > Hamburg zu Theater. | |
| Bild: Können wir über Leckerlis sprechen? Auch in der Slowakei sorgten im Som… | |
| taz: Lynn T. Musiol, Christian Tschirner, wie kommen Theaterleute dazu, | |
| sich mit Bären zu beschäftigen – noch dazu denen in [1][Nordmazedonien]? | |
| Christian Tschirner: Wir haben eine Einladung bekommen zu einem | |
| Schreibworkshop, nach Skopje, Nordmazedonien. Wir hatten überhaupt keine | |
| Ahnung von dem Land und von den Leuten da, interessieren uns aber seit | |
| längerem schon für klimapolitische Themen. Dort haben wir dann auch eine | |
| Autorin kennengelernt… | |
| taz: … [2][Ana Trpenoska] … | |
| Tschirner: … die uns diese Geschichte erzählt hat: Dass eben [3][in diesem | |
| Nationalpark] die Bären nicht in den Winterschlaf finden. Weil es durch den | |
| Klimawandel zu warm ist im Winter, und sie dann in die Dörfer gehen, weil | |
| sie im Wald nicht genug Nahrung finden. Das fanden wir auf Anhieb | |
| interessant als Geschichte. Dann ist Lynn da hingefahren, und daraus ist | |
| dann das Stück geworden. | |
| Musiol: Das reiht sich von der Form her ein in die Abende, die wir schon | |
| gemacht haben, [4][„Bitter Fields“] oder „Ödipus in der Giftfabrik“ | |
| [5][beim Festival „Osten“]: Nämlich, dass wir mit einer persönlichen | |
| Anbindung im Stil einer Recherchereise erzählen. Hier haben wir noch den | |
| Luxus, dass Ana ein richtiges Stück geschrieben hat. | |
| taz: Ihr lasst das Publikum mitvollziehen, wie eure Recherche verlaufen | |
| ist? | |
| Musiol: Genau. Die Reise ist auch geprägt von ein bisschen Naivität: Wir | |
| stellen zum Beispiel aus, dass ich überhaupt keine Ahnung habe von Bären, | |
| mich aber für das Naturschutzprojekt interessiere. Die Zuschauer*innen | |
| machen diese Reise mit, auch die Widersprüche: Wir stellen immer unsere | |
| eigenen Widersprüche in den Vordergrund. Das ist im Prinzip eine Art | |
| Selbstaufklärung, stellvertretend vielleicht für ein westliches Publikum. | |
| Tschirner: Aber es ist ein richtiges Stück, das Ana geschrieben hat, mit | |
| Szenen, in denen Lynn in Nordmazedonien unterschiedlichen Leuten begegnet | |
| und unterschiedliche Erfahrungen macht. | |
| taz: Welche Widersprüche sind da noch mit im Spiel? | |
| Musiol: Von der Kultur aus gesprochen ist natürlich schon ein Widerspruch, | |
| dass wir dafür bezahlt werden, dort einen Workshop zu geben. Wie sinnvoll | |
| ist es, so einen Workshop in einem Land zu geben, dessen Theaterkultur man | |
| überhaupt nicht kennt? Tatsächlich war das auch eine unserer Erfahrungen: | |
| Man bekommt Stückskizzen oder Szenen, die man dann gar nicht versteht. Die | |
| Autor*innen dort lachen sich tot, weil das irgendwie super lustig ist. | |
| Und man selbst sitzt etwas ratlos davor. Weil wir die Referenzen und auch | |
| die historischen Hintergründe, die Codes überhaupt nicht verstehen. Mit | |
| welcher Ansicht gehe ich als queere Großstädter*in in einen | |
| Nationalpark, in dem ich dann Menschen treffe, die mit meiner | |
| Lebensrealität natürlich nichts zu tun haben – und umgekehrt? Was für | |
| Erlebnisse kommen dann auf, was für Missverständnisse auch? Das versuchen | |
| wir mit einem Augenzwinkern zu erzählen. | |
| Tschirner: Der Workshop findet statt, weil man dann vom Westen Geld für das | |
| Klimathema bekommt. Den Autor*innen dort brennen aber ganz andere Sachen | |
| unter den Nägeln: Die [6][Luftverschmutzung] in Skopje ist horrend, weil | |
| dreckiges Öl verbrannt wird. Nordmazedonien bezieht Müll aus der EU, der | |
| dann dort verbrannt wird. Es gibt Korruption, es gibt Armut, es gibt | |
| Landflucht und so weiter. Und wir kommen relativ abstrakt, sage ich mal, | |
| mit unserem Klimathema daher? Da stoßen Welten aufeinander. Klar, das | |
| übertreiben wir auch ein bisschen, weil es soll auch unterhaltsam sein. | |
| Aber die Konflikte sind echt. | |
| taz: Und die Zutaten sind globale: Dass eine Region zur Müllhalde der EU | |
| wird, was durch Korruption vermutlich nicht erschwert wird, etwa. | |
| Andererseits ist der Sinn von Klimaschutzmaßnahmen ja nicht ernsthaft zu | |
| leugnen. | |
| Tschirner: Eine markante Szene in dem Stück ist, als Lynn in dem | |
| Nationalpark unterwegs ist, und plötzlich ist die Straße blockiert: Es gibt | |
| eine Demo von Ökoaktivist*innen und Anwohner*innen und Lynn ist | |
| ganz begeistert, dass die sich gegen die Zerstörung des Nationalparks | |
| wehren. Aber sie demonstrieren auch gegen das Bärenprojekt, für das sich | |
| Lynn engagiert. Und dann erklärt der Mensch von vor Ort: Na ja, die kriegen | |
| das ein bisschen durcheinander, weil die EU hier [7][einen großen Staudamm | |
| gebaut] hat mit einem Wasserkraftwerk, denn die EU braucht klimaneutralen | |
| Strom. Und dafür ist ein Teil des Nationalparks geflutet worden, das hat | |
| für großen Ärger gesorgt – und das Bärenprojekt ist halt auch von der EU | |
| finanziert. Es ist auch eine Demonstration gegen die EU und ihr Agieren vor | |
| Ort. | |
| Musiol: Und dann stehst du da mitten in diesen Widersprüchen und weißt | |
| erstmal nicht mehr weiter. Das ist nur ein Beispiel für diese Gemengelage | |
| und Komplexität. | |
| taz: Wie sprechen die Menschen dort über die EU? Erscheint die als | |
| ambivalent oder ist sie eindeutig ein böser Player? | |
| Tschirner: Die Leute, mit denen wir zu tun hatten, sind schon | |
| proeuropäisch. Allerdings ist der Prozess komplex: Mazedonien, so hieß das | |
| Land bis 2019, musste den eigenen Namen ändern, auch das Wappen, um | |
| überhaupt EU-Kandidat werden zu können. Gleichzeitig sagen einige Länder, | |
| zum Beispiel Frankreich, sehr deutlich: Der Zustand der EU ist überhaupt | |
| nicht so, dass wir jetzt neue Mitglieder aufnehmen können. | |
| Musiol: Es gibt also relativ viel Skepsis, Sarkasmus und Resignation, was | |
| die EU angeht. Viele haben nicht das Gefühl, dass es mit der Annäherung in | |
| großen Schritten vorangeht. Andererseits fürchten sie Einflussnahme von | |
| russischer Seite und von anderen Playern, dass also das Land auch ein Stück | |
| weit geopolitisch unter die Räder kommen könnte. | |
| taz: Sind die Bären da ein dankbarer Stoff, insofern, als sie etwas | |
| ansonsten ziemlich Abstraktes greifbar machen? | |
| Tschirner: Ja, die führen uns da durch. Anhand der Bären und der Bemühungen | |
| um ihren Schutz können wir verschiedene Widersprüche und Ungeklärtheiten, | |
| auch die Naivität von uns Westler*innen, hoffentlich sinnlich und auch ein | |
| bisschen lustig abarbeiten. | |
| taz: Man kann kaum anders, als sich erinnert fühlen an die Konflikte um den | |
| Wolf. Man muss ja nur raus aus Hamburg oder auch Berlin, dann kommt man | |
| [8][in Gegenden, in die er zurückkehrt]. Einerseits lässt sich das | |
| ökologisch bestens begründen, andererseits hat man vor Ort Betroffenheiten, | |
| die das Fehlen von Begeisterung absolut nachvollziehbar erscheinen lassen. | |
| Tschirner: Genau. Der Bär ist nur ein Stück weiter weg, das macht ihn noch | |
| interessanter. Aber die Konfliktlinien sind ziemlich die gleichen: Es gibt | |
| ein Interesse am Naturschutz, man will ein ökologisches System, in denen | |
| der Wolf wieder da ist, in Brandenburg oder in der Lüneburger Heide. Und | |
| das kollidiert mit den Lebensvorstellungen der Menschen dort oder auch mit | |
| ihrer Wirtschaftsform. Es gibt vielleicht gar nicht die benötigten Flächen, | |
| und dann werden alte Ängste wieder geschürt. | |
| Musiol: Einen wichtigen Unterschied gibt es aber auch. | |
| taz: Nämlich? | |
| Musiol: In Nordmazedonien, auf dem Dorf, gab es auch Leute, die mir gesagt | |
| haben: Der Bär war schon immer da, wir müssen uns mit ihm arrangieren. Es | |
| ist nicht der Bär, sondern wir sind es, wir Menschen, die in den Lebensraum | |
| der Bären immer stärker eindringen. Sozusagen eine traditionalistischere | |
| Haltung, die gibt es [9][in Brandenburg nicht mehr], weil der Wolf dort 100 | |
| Jahre lang ausgerottet war. | |
| taz: Es können also zumindest manche Menschen genau genug hingucken, um zu | |
| sagen: Das fällt nicht einfach vom Himmel. Das ist der von uns | |
| mitverursachte Klimawandel, wir machen uns das Problem selbst. | |
| Tschirner: Klimawandel einerseits, der spielt eine Rolle, weil die Winter | |
| zu warm werden. Da gibt es auch Berechnungen, wie viel Zehntel Grad | |
| soundsoviele Tage weniger Winterschlaf bedeuten. Und das heißt, dass sie | |
| dann nicht genügend Nahrung finden. Das andere Problem ist, dass auch die | |
| Fläche des Nationalparks einfach zerstört wird durch zum Beispiel das | |
| Wasserkraftwerk, das klimaneutralen Strom erzeugt. Das ist Territorium, das | |
| den Bären weggenommen wird, aber den Menschen auch: Es werden Dörfer | |
| geflutet, dadurch engt sich der Lebensraum ein. Oder es werden eben | |
| Hotelbauten genehmigt, was eigentlich gar nicht geht – aber es gibt | |
| Korruption. Das alles wirkt zusammen und verschärft den Konflikt zwischen | |
| Bär und Mensch noch. | |
| taz: Werdet ihr das Stück auch mal vor Ort zeigen? | |
| Musiol: Vorstellbar wäre das total, Lust hätten wir natürlich auch. Hängt, | |
| glaube ich, ein bisschen ab von Fördergeldern – auch seitens der EU. | |
| taz: Ausgerechnet die EU. | |
| Tschirner: Genau. Aber wir müssen das ja überhaupt erst mal rausbringen. | |
| Wir haben darüber gesprochen, dass es toll wäre, das Stück dann auch dort | |
| zu zeigen. Und in Brandenburg: Die Leute würden die Problematik sofort | |
| wieder erkennen. | |
| Musiol: Wir machen in der Regel Nachgespräche, haben wir auch bei „Bitter | |
| Fields“ gemacht, das sich um den Zusammenhang von Klimakrise und dem | |
| Aufstieg der Rechten dreht. Das war toll, weil unterschiedliche Menschen | |
| aufeinander getroffen sind. Das waren aufreibende und aber meist sehr | |
| konstruktive Gespräche. | |
| Tschirner: Da kommt viel hoch, gerade bei den Menschen, die nicht in den | |
| Metropolen wohnen. | |
| taz: Klimawandel und Rechtsruck, von Bären belagerte Dörfer: Was spricht | |
| dafür, sich als Theatermenschen solcher tagesaktueller Dinge anzunehmen? | |
| Tschirner: Erstens ist Theater Unterhaltung. Und es lebt ganz stark von | |
| Widersprüchen, also auch die „richtigen“ Stücke leben von Konflikten, von | |
| Figuren, die in Widerspruch zueinander stehen. Soweit sind wir davon gar | |
| nicht davon entfernt. Bei der Performance über Klimawandel und die Rechten | |
| thematisieren wir unsere Vorurteile Rechten gegenüber, auch unsere | |
| Antwortlosigkeit: Dass wir auf zentrale Fragen unserer Zeit keine Antwort | |
| haben, bietet den Rechten gute Angriffsmöglichkeiten. Vieles davon ist den | |
| Menschen so halb bewusst und wir können das spielerisch in eine clowneske | |
| Form bringen. In der erwähnte Performance bin ich so ein bisschen der dumme | |
| August, Lynn ist ein bisschen smarter als ich. Ich bringe halt dauernd so | |
| linksliberale Vorurteile, und Lynn kommt dann immer mit irgendwelchen | |
| Studien um die Ecke und sagt: Das ist aber Quatsch, das stimmt so gar | |
| nicht. Es macht Spaß das durchzuspielen und ist schöner, als wenn man jetzt | |
| irgendwie einen Klassiker nimmt und versucht, unsere Problematik jetzt | |
| einem Klassiker überzustülpen, was dann meistens hinten und vorne hinkt. | |
| Das nervt uns eher: dass man versucht, mit einem kanonischen Stück eine | |
| heutige Problemlage abzubilden. | |
| Musiol: Und aus der Perspektive von uns als Dramaturg*innen ist es | |
| total interessant zu fragen: Inwiefern kann man eine essayistische Form | |
| unterhaltsam darbieten? | |
| taz: Linksliberale Vorurteile werden ihr bei eurem Publikum auch | |
| voraussetzen können, oder? | |
| Tschirner: Na, total! Die Idee zu „Bitter Fields“ hatten wir, weil wir | |
| einen Vortrag über Klimawandel und Rechte bei [10][den Vielen in Berlin] | |
| gehalten haben… | |
| taz: … einem Netzwerk aus bundesweit inzwischen mehreren Tausend | |
| Kulturinstitutionen und -aktivist:innen für die Kunstfreiheit und gegen den | |
| zunehmenden Rechtsextremismus. | |
| Tschirner: Und da gab es richtig Proteste. Die einen waren empört, die | |
| großen Opernhäuser zum Beispiel, weil sie sich zwar gegen rechts engagieren | |
| wollen, das aber für sie in keinem Zusammenhang mit anderen Themen, wie dem | |
| Klimawandel steht. Die anderen waren empört, dass wir so ausführlich auch | |
| die Rechten selbst zu Wort kommen lassen. Wir zitieren sie ein bisschen | |
| gemein, nämlich so, dass man am Anfang gar nicht denkt, das sind Rechte. Da | |
| waren auch wieder Leute empört und haben gesagt: Wollt ihr eine | |
| Werbeveranstaltung für Rechte machen? Wir haben das zuletzt auch i[11][n | |
| den Sophiensaelen] gespielt, sozusagen am Hotspot des Linksliberalen. Und | |
| das ging sehr gut, weil die Leute fühlen sie sich da schon mitgemeint und | |
| getroffen und können dann schon auch über sich lachen. | |
| Musiol: Sowohl „Bitter Fields“ als auch die jetzige Arbeit sind ja | |
| Denkangebote. Angebote sich mit seinen eigenen Widersprüchen | |
| auseinanderzusetzen und so ein bisschen aus dem Sessel hochgerüttelt zu | |
| werden. Auch, weil wir keine Lösungen anbieten, sondern versuchen Lösungen | |
| gemeinsam in den Gesprächen danach anzudenken und zu diskutieren. | |
| taz: Habt ihr denn das Gefühl, dass Menschen da anders wieder rausgehen, | |
| als sie reingekommen waren? Dass etwas in Bewegung kommen kann? | |
| Tschirner: Schwer zu sagen. Wir hoffen natürlich. Bei „Bitter Fields“ ging | |
| es auch stark um den Konflikt [12][Stadt–Land]. Dazu gibt es auch im | |
| Publikum sehr unterschiedliche Positionen und es reden Leute miteinander, | |
| die das normalerweise nicht tun würden; auch dadurch, dass sie ein bisschen | |
| aufgewühlt oder angestachelt oder provoziert sind. | |
| Musiol: Originalzitat: „Jetzt bin ich aber verärgert.“ | |
| taz: Es geht also um Unterhaltung, aber nicht nur? | |
| Tschirner: Die Frage ist ja, wovon fühlt man sich unterhalten? Ich finde, | |
| Denken wirkt unterhaltsam. Ich mag es, wenn mir Leute Widersprüche | |
| vorführen – gedanklich. Ich bin oft gelangweilt, wenn ich in einem Stück | |
| sitze und mir wird irgendeine These ausgebreitet, und ich weiß: Aha, das | |
| geht jetzt noch 80 Minuten so weiter. Man weiß, ach so, ja, so läuft das. | |
| Ich finde Denken oder gedankliche Auseinandersetzung, wenn sie intelligent | |
| und witzig geführt werden, sehr unterhaltsam. Da würde ich gar keinen | |
| Widerspruch sehen. | |
| taz: Ich könnte mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die bei der bei | |
| denen Unterhaltung stark darauf fußt, dass sie zustimmen können, darauf, | |
| dass sie etwas genauso sehen, wie die auf der Bühne. Muss man bestimmte | |
| Voraussetzungen mitbringen, um an der Herausforderung auch das | |
| Unterhaltsame zu finden? | |
| Musiol: Kann sein. Ich würde aber auch sagen, dass im Theater eine Lust | |
| entstehen kann, gemeinsam Widersprüche auszuhalten. Und das ist eine große | |
| Qualität. | |
| 14 Feb 2025 | |
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