# taz.de -- NGO-Mitarbeiterin über Krieg im Libanon: „Der Albtraum für die … | |
> Bei den Angriffen auf die Hisbollah starben mehr als 4000 Menschen. Rasha | |
> Chedid, erklärt, wie man mit Kindern über traumatische Ereignisse | |
> spricht. | |
Bild: Schöner Schein: Die Kinder leben in einem Flüchtlingscamp am Strand von… | |
taz: Nach dem [1][7. Oktober 2023] hat Israel seine Angriffe auf die | |
Hisbollah im Libanon verstärkt. Das hat vor allem auch die Zivilbevölkerung | |
getroffen. Über 4.000 Menschen wurden getötet. Im Oktober ist das | |
israelische Militär in den Libanon einmarschiert, seit dem 27. November | |
gibt es einen [2][temporären Waffenstillstand]. Wie geht es der Bevölkerung | |
heute? | |
Rasha Chedid: Der Krieg hatte 1,2 Millionen Menschen aus ihren Häusern | |
vertrieben, darunter 400.000 Kinder. Viele Familien haben ihr Zuhause, ihre | |
Lebensgrundlage und ihre Angehörigen verloren. Schulen wurden zu | |
Notunterkünften umfunktioniert, sodass viele Kinder keinen Zugang zu | |
Bildung hatten. Mittlerweile sind zwar viele [3][in ihre Häuser | |
zurückgekehrt], aber rund 113.500 Menschen leben weiterhin außerhalb ihrer | |
Heimatorte. Diese Familien haben oft keinen Ort, an den sie zurückkehren | |
können. Selbst Kinder sind gezwungen, arbeiten zu gehen, um zu überleben. | |
taz: Wie geht es den Kindern, die in ihre Dörfer zurückkehren? | |
Rasha Chedid: [4][Die meisten Häuser sind zerstört.] Überall können nicht | |
explodierte Sprengkörper liegen. Das ist eine große Gefahr. Die | |
Infrastruktur für die Wasserversorgung ist beschädigt. Viele Kinder können | |
nicht in die Schule, was ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden | |
beeinträchtigt. | |
taz: Wie ist die Lage im Südlibanon, der besonders stark zerstört ist? | |
Rasha Chedid: Marktplätze und Geschäfte sind zerstört, das erschwert den | |
Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Wasser. Die Schulen sind nicht in | |
Betrieb, und die Kinder haben angesichts der weit verbreiteten Zerstörung | |
um sie herum mit psychischen Problemen zu kämpfen. Alles Vertraute ist | |
zerstört, wie Spielplätze und Orte, an denen sie sich mit Freunden trafen. | |
taz: Ist der Krieg vorbei? | |
Rasha Chedid: Es gibt derzeit einen Waffenstillstand, [5][aber die | |
israelische Armee verstößt immer wieder dagegen]. Zum Beispiel gibt es die | |
Einigung, dass die israelischen Streitkräfte sich aus den Dörfern | |
zurückziehen, damit die Vertriebenen sie betreten können. Doch das macht | |
sie nicht überall. Die Menschen brauchen immer noch Hilfe. Der Albtraum für | |
die Kinder ist noch nicht vorbei. | |
taz: Wie helfen Sie Kindern und Familien? | |
Rasha Chedid: Wir verteilen lebenswichtige Dinge wie Matratzen, Decken und | |
Winterkleidung. Wir verbessern die Wasserversorgung und reparieren sanitäre | |
Einrichtungen, geben Bargeld und Nahrungsmittel aus. | |
taz: Wie berücksichtigen Sie mentale Gesundheit? | |
Rasha Chedid: Wir integrieren psychosoziale Dienste in alle unsere | |
Programme und bieten Kindern und Betreuenden psychosoziale Unterstützung. | |
Zum Beispiel gestalten wir kinderfreundliche Räume mit Spielzeug oder | |
Bastelmaterial. Dort bekommen sie auch emotionale und pädagogische | |
Unterstützung. | |
taz: Wie gehen Sie mit Traumata um? | |
Rasha Chedid: Kinder zeigen Anzeichen von Stress wie Hyperaktivität, | |
Rückzug, Aggression oder Panikattacken. Unsere Programme gehen auf diese | |
Verhaltensweisen ein. Wir bieten ein sicheres Umfeld, in dem Kinder ihre | |
Gefühle ausdrücken und die emotionale Belastung verarbeiten können, die | |
durch die örtliche Vertreibung entstanden ist. | |
taz: Sind diese Anzeichen mit dem teilweisen Waffenstillstand | |
zurückgegangen? | |
Rasha Chedid: Das hängt vom Kind und dem Ort ab. Insgesamt kann man sagen, | |
dass die sich überlagernden Krisen – wirtschaftlicher Zusammenbruch, | |
Corona, die [6][Explosion in Beirut im Jahr 2020], [7][Cholera] und jetzt | |
der Krieg – die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder stark | |
beeinträchtigt haben. Die Schulausbildung ist nun bereits seit über sechs | |
Jahren unterbrochen. Das ist ein großes Problem. | |
taz: Welche Bewältigungsstrategien gibt es für Eltern? | |
Rasha Chedid: Wir ermutigen Eltern, ihren Kindern zuzuhören. Wir schlagen | |
ihnen vor, Räume zu schaffen, in denen die Kinder ihre Gefühle ausleben und | |
ausdrücken können. Zu akzeptieren, dass es normal ist, wenn Kinder Wut oder | |
Kummer zeigen und weinen. Für die psychische Gesundheit der Kinder sollten | |
ihre Grundbedürfnisse befriedigt sein, und es sollte Freizeitaktivitäten | |
wie Malen oder Spielen geben. Und natürlich brauchen die Menschen die | |
Unterstützung der Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe. | |
taz: Was haben Sie von den Kindern gelernt? | |
Rasha Chedid: Kinder sind anpassungsfähig und hoffnungsvoll, oft | |
optimistischer als Erwachsene. Sie inspirieren uns mit ihrer klaren Vision | |
für die Zukunft. Sie sagen, dass sich die Dinge ändern werden. Es ist | |
wirklich schön, diese Einstellung zu sehen. | |
## Drei Protokolle von Eltern | |
## „Am meisten vermisse ich mein Zuhause“ | |
„Es ist sehr schwer, eine Mutter mit drei kleinen Kindern zu sein. Ich | |
denke nicht an mich, ich denke nur an sie. Ich möchte sie vor allem | |
schützen, was passiert. Jetzt sind wir schon eine ganze Weile hier. Ich | |
wusste, dass wir an einen Ort kommen, an dem es schwieriger ist, als im | |
Dorf. Aber das Wichtigste sind die Kinder. Ihretwegen sind wir | |
hierhergekommen. Keiner verlässt sein Haus einfach so. | |
Die Kinder wissen, dass wir uns im Krieg befinden. Sie verstehen, was vor | |
sich geht. Sie hören die Geräusche, den Überschallknall, dann kommen sie zu | |
mir und erzählen mir, was sie gesehen oder gehört haben: Hier war ein | |
Geräusch, dort wird angegriffen, dort gibt es Märtyrer, „Mama, schau mal | |
auf die Straße, da sind Menschen, die keinen ruhigen Platz zum Bleiben | |
finden“, sagen sie zum Beispiel. Es gibt eine Menge Dinge, die sie wissen, | |
die sie um sich herum sehen. Sie hören es auch von anderen Kindern. Wir | |
sprechen nicht über alles mit ihnen oder vor ihnen, damit sie keine Angst | |
bekommen. Wir sagen ihnen: „Das ist nichts, Liebes, morgen wird alles | |
besser sein, der Libanon wird besser sein.“ Wir vereinfachen die Dinge, | |
damit sie sich nicht so viele Sorgen machen. | |
Mit meinen Sorgen wende ich mich an Gott. Er ist meine Stütze, mein Retter. | |
Er tröstet mich. Keiner kann mir geben, was Gott mir gibt. Letztendlich | |
sorgt Gott für mich. Keiner fühlt sich mehr sicher. Wir alle haben Angst. | |
Woher nehmen wir all diese Kraft? Es gibt niemanden außer Gott, der dir | |
Kraft und Geduld geben kann. Was wir jetzt erleben, ist unglaublich. | |
Ich bin kein besonders ängstlicher Mensch. Selbst als wir im Dorf waren und | |
wenn wir den Überschallknall der Raketen hörten. Ich habe mich an die | |
Kinder gewandt, sie beruhigt und gesagt: „Nicht so schlimm, meine Lieben.“ | |
Ich versuche, in ihrer Nähe stark zu sein. Aber natürlich ist es dann doch | |
etwas anderes, wenn ein schwerer Angriff passiert, eine Bombe oder Rakete | |
neben dir einschlägt. Dann möchte man fliehen. | |
Gott sei Dank haben wir unser Dorf verlassen, bevor die Angriffe in unsere | |
Nähe kamen. Vor ein paar Tagen wurde unser Dorf getroffen, und mindestens | |
zehn Märtyrer, Männer und Frauen, starben. Wäre ich im Dorf gewesen, hätte | |
ich die Einschläge sicher hautnah miterlebt und mehr Angst gehabt. | |
Bevor wir fliehen mussten, war unser Leben sehr ruhig. Wir hatten ein | |
schönes Haus, in dem wir uns sehr wohlgefühlt haben, die Kinder gingen in | |
den Garten, sie spielten und trafen ihre Freunde. Nichts hat uns gestört | |
oder belästigt. Alles war gut – Gott sei Dank. So wie es eben für die | |
meisten Menschen ist. | |
Am meisten vermisse ich natürlich mein Zuhause. Ich bin ein sehr häuslicher | |
Mensch. Wir hatten keine Probleme oder Streitereien mit den Nachbarn. Die | |
meiste Zeit habe ich zu Hause mit den Kindern verbracht. Ich vermisse die | |
Ruhe dieser Momente. Das ist es, was ich hier nicht habe und was ich mir | |
hier wünschte. | |
Es macht mir zu schaffen, mich weit weg der Heimat und fremd zu fühlen. Wir | |
leben zusammen mit Leuten, die wir nicht kennen. Wir sind jetzt drei | |
Familien, vorher waren wir vier. Die Leute kommen und gehen. Ich muss mich | |
vor den Augen der Männer bedecken, wir können uns nicht ständig waschen und | |
auch unsere Kinder nicht waschen. Das sind die Alltäglichkeiten, die mir | |
Stress bereiten. | |
Die Kinder haben sich leider verändert. Vor allem in Bezug auf Disziplin | |
und Pünktlichkeit. Zu Hause waren sie brav und gehorsam. Wenn ich sie | |
gerufen habe, sind sie gekommen. Sie hatten eine Struktur und Routine. Sie | |
hatten eine bestimmte Zeit, zu der sie ins Bett gegangen sind, eine Zeit | |
fürs Essen; das Essen kam immer rechtzeitig auf den Tisch. Jetzt kommen sie | |
einfach und sagen: „Mama, ich will mit meinen Freunden spielen, anstatt die | |
Hausaufgaben zu machen.“ Ich habe ein anderes Kind beobachtet, das nicht | |
auf seine Eltern reagiert hat. | |
Was die Erziehung vielleicht noch schwieriger macht, ist, dass die Kinder | |
von anderen Kindern oder Erwachsenen beeinflusst werden: Sie schnappen auf, | |
was sie sagen und orientieren sich daran, was sie tun.“ | |
Lina, 36 Jahre alt, Mutter von drei Kindern im Alter von 5, 7 und 12 | |
Jahren. Die Familie lebte in einem Dorf im Süden des Libanons und ist jetzt | |
in einer Sammelunterkunft im Norden untergebracht. Das Protokoll entstand | |
zur Zeit in der Notunterkunft mit Unterstützung von Save the Children. | |
## „Ich bin viel schneller gereizt“ | |
„Ich bin alleinerziehender Vater einer dreijährigen Tochter. Als | |
Alleinerziehender ist es sowieso nicht so einfach. Im Libanon gibt es | |
wenige öffentliche Orte oder Aktivitäten für Kinder, die kostenlos sind. | |
Und dann richten sich die meisten Angebote an Mütter. Als Mann kann ich | |
auch keine Windeln auf öffentlichen Toiletten wechseln. Wenn es | |
Wickeltische gibt, dann in den Frauenkabinen. | |
Ich wünsche mir für meine Tochter eine unbeschwerte Kindheit. Aber das ist | |
nicht möglich. Diesen Sommer hatte die Vorschule wegen des Kriegs | |
geschlossen. Aus Angst bin ich nicht mal mit meiner Tochter an den Strand | |
gefahren. | |
Im Sommer hatte ich mit ihr eine Art Aufklärungsgespräch – über den | |
Überschallknall. Das hört sich an wie richtige Bomben. Wir kennen Schüsse | |
und Feuerwerkskörper von feierlichen Anlässen. Meine Tochter kennt daher | |
laute Geräusche. Aber dieses Mal war es so, dass sie Angst bekam, weinte | |
und zu mir rannte. Auch unser Hund drehte durch. Also habe ich sie | |
gehalten, sie getröstet. Ich habe ihr gesagt, dass sie keine Angst haben | |
muss. Dann habe ich ihr erklärt, dass das ein Flugzeug am Himmel ist. Wenn | |
es schnell fliegt, macht es das laute Geräusch. Wenn sie das Geräusch dann | |
hörte, sagte sie zu mir: „Papa, ein schnelles Flugzeug!“ | |
Es war nicht das erste Gespräch. Vergangenes Jahr hatten wir schon ein | |
Erdbeben, das unser Gebäude erschüttert hat. Da war sie jünger und ich | |
glaube nicht, dass sie wirklich verstanden hat, dass die Erde wackelt. Ich | |
habe am Bett gerüttelt und gesagt: „Siehst du, du brauchst keine Angst zu | |
haben.“ Dann habe ich sie geschüttelt und den Vorhang und die Lampe, um ihr | |
zu zeigen: Dinge können wackeln und es ist okay. Dann musste ich ihr das | |
mit den Raketen und Bomben beibringen. | |
Solche Dinge erklären zu müssen, da fühlt man sich hilflos. Ich fühle mich | |
klein, unbedeutend. Es gibt keine Sicherheit, und ich kann keine Sicherheit | |
geben. Krieg bedeutet Stress: Ich bin viel schneller gereizt, verliere die | |
Geduld, schnauze meine Tochter an. Ich bin die ganze Zeit kurz davor, meine | |
Nerven zu verlieren. Ganz schlimm war es, wenn sie nicht bei mir, sondern | |
selten mal bei ihrer Mutter war. Ich habe dann überlegt: Wenn jetzt etwas | |
passiert, wie kann ich so schnell wie möglich zu ihr kommen? Wenn ich zur | |
Arbeit gegangen oder generell aus dem Haus gegangen bin, habe ich genau | |
geplant: Durch welche Straße gehe ich, in die Nähe von welchen Orten? Wir | |
leben zum Glück in einer eigentlich sicheren Gegend. Aber aus Erfahrung | |
weiß ich: Es gibt keine wirklich sicheren Gegenden. Das ist noch 1000-mal | |
schwieriger als der tägliche Kram, denn dieser Gedanke kann dich wirklich | |
kaputtmachen. Ein Kind großzuziehen ist sowieso schon, wie einen Berg zu | |
besteigen. Aber ich habe gefühlt noch einen Rucksack voller Steine auf dem | |
Rücken. | |
Ich selbst habe als Kind den Krieg durchlebt. Meine Eltern haben 20 Jahre | |
lang im Krieg gelebt und ich 12 Jahre. Ich bin damit aufgewachsen, ständig | |
umziehen zu müssen, je nachdem wo die Gefahr war. Ja, ich habe es überlebt, | |
aber nicht unbeschadet überstanden. Und jetzt ist mein Kind davon | |
betroffen. Das Trauma ist generationsübergreifend. Ich frage mich sogar, ob | |
die Kinder meines Kindes später mal im Krieg aufwachsen werden. | |
Der Tod bedroht uns ständig. Dieses Gefühl nimmt uns sogar das letzte | |
Quäntchen Kontrolle, das wir zu haben glaubten. Vor allem in einem Land wie | |
dem Libanon, in dem es keine mentale Sicherheit gibt. Alleine das | |
Überqueren der Straße ist schon gefährlich. Ich fühle mich so hilflos. Es | |
ist außerhalb meiner Hände, meiner Kontrolle. | |
Deshalb hatte ich keine Notfalltasche gepackt, mit Pässen oder wichtigen | |
Dingen. Ich möchte mich selbst nicht beunruhigen – und meine Tochter nicht | |
verstören. Das ist sowieso nutzlos: Wenn du aus dem Haus fliehen musst, was | |
bringt dir dann ein Pass?“ | |
Saseen Kawzally, 44, Schriftsteller und Schauspieler. Er lebt im | |
Libanongebirge in einem Vorort von Beirut. | |
## „Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza“ | |
„Der Völkermord an den Palästinensern in Gaza begann eine Woche vor der | |
Geburt meiner Tochter. Die ersten viereinhalb Monate verbrachte sie auf der | |
Neugeborenen-Intensivstation, sie wurde mit 640 Gramm und 26 Zentimetern | |
geboren. | |
Die Videos von Frühchen in Gaza, die zur selben Zeit wie sie im Brutkasten | |
lagen, haben mich sofort beschäftigt. Die meisten dieser Babys wurden nicht | |
so früh geboren wie mein Kind, aber diese Seelen waren immer weitaus mehr | |
gefährdet als sie. | |
Da unsere Situation unglaublich prekär war, hatte ich vorgehabt, mich vor | |
den Nachrichten aus Gaza abzuschirmen, um meine Energie für meine Tochter | |
zu bewahren. Und auch, weil ich damit rechnete, dass der Libanon irgendwann | |
von diesem Albtraum heimgesucht würde. Menschen, die im Libanon leben, | |
erwarten immer Gewalt in naher Zukunft. Die Gegenwart wird nur als eine | |
„Zwischenzeit“ erlebt, bis die nächste Runde der Gewalt alles wieder | |
infrage stellt. | |
Es war aber unmöglich, die Nachrichten auszublenden. Also habe ich mir | |
vorgenommen, mir die Aufnahmen aus Gaza nicht anzusehen, wenn ich mit | |
meiner Tochter in einem Raum bin. Auch das war nicht möglich, also habe ich | |
es zumindest so weit wie möglich minimiert: keine Videos von sterbenden | |
oder toten Kindern, während ich auf der Babyintensivstation war. | |
Es war schwierig. Ich wollte irgendwie den Völkermord „verstehen“, mein | |
Bewältigungsmechanismus. Ich las so viele Artikel in so vielen Sprachen wie | |
möglich und tauschte mich stundenlang mit Freunden aus der Region aus, | |
deren Gedanken ich schätze. | |
Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza. Das ist etwas, auf das ich | |
keinen Einfluss habe, aber ich kann es nicht ignorieren, und ich will es | |
auch nicht. Jeder Atemzug, den sie bisher in ihrem Leben getan hat, tut sie | |
in einer Welt, in der Israel Kinder wie sie ermordet, und das ist eine | |
Welt, in der ich als ihr Vater bestehen muss. Alles andere wäre ihr | |
gegenüber unfair, denn ich würde ihr das Rüstzeug vorenthalten, das sie | |
braucht, um die Welt zu verstehen, die sie erbt. | |
Sie wird eines Tages erfahren, dass sie selbst Libanesin und | |
Palästinenserin ist. Dass ihr Urgroßvater väterlicherseits im Exil lebte. | |
Sie wird auch sehen müssen, dass das Land, dessen Staatsbürgerschaft sie | |
besitzt, Italien, zu denjenigen gehört, die den Staat Israel mit Mitteln | |
ausstatten, um Kinder wie sie zu töten. | |
Ich möchte, dass sie in der Lage ist, ein starkes Gefühl für Recht und | |
Unrecht zu haben. Das beginnt mit einem belastbaren, grundlegenden Wissen | |
über die jüngste und ferne Vergangenheit. Ich möchte, dass sie die | |
Fallstricke älterer Generationen vermeidet, die die Welt nach dem Kalten | |
Krieg mit ihrem neoliberalen Kapitalismus und der Dominanz einer Handvoll | |
Regierungen über alle anderen als selbstverständlich betrachtet haben. | |
Um ein moralischer Mensch zu sein, muss sie sich mit einer Reflexion James | |
Baldwins auseinandersetzen: „Die Kinder gehören immer uns, jedes einzelne | |
von ihnen, überall auf der Welt […], wer das nicht erkennt, ist vielleicht | |
unfähig zur Moral.“ | |
Sie wird realisieren, dass Israel als Nächstes den Libanon angegriffen hat. | |
Das Land, in dem ihr Vater aufgewachsen ist, in das ihr Urgroßvater | |
verbannt wurde und in dem ihre beiden Großeltern als Mitglieder des | |
libanesischen Roten Kreuzes fünfzehn Jahre Bürgerkrieg überlebt haben. Sie | |
werden sich nie kennenlernen, da mein Opa 2020 starb. Ein Mann, der bis er | |
80 Jahre wurde im ständigen Exil lebte und dann starb. Ich spüre seine | |
eindringliche Präsenz, und sie wird das auch spüren. | |
Wir hatten das Privileg, in einer stabilen Umgebung in einem gut | |
ausgestatteten Krankenhaus zu sein. Ich habe es vermieden, dem | |
Krankenhauspersonal gegenüber ihre palästinensische Herkunft anzusprechen. | |
Wegen der Haltung Europas, das „Recht auf Selbstverteidigung“ Israels zu | |
unterstützen, kam ich zu dem Schluss, es wäre besser, wenn dieses Frühchen | |
noch nicht mit den Folgen der weißen Vorherrschaft konfrontiert wird – das | |
wird sie später noch. Als Araber habe ich über dreißig Jahre Erfahrung im | |
Maskieren: Ich spreche Französisch. Keine Kufija außerhalb des Hauses und | |
keine Shirts mit arabischer Schrift, nur für den Fall. | |
Das bedeutet auch, dass sie, so schwierig es auch sein wird, daran denken | |
muss, dass diejenigen, die den Völkermord begehen, selbst sehr menschlich | |
sind. Es gibt nichts, wozu sie fähig sind, wozu sie nicht auch selbst fähig | |
wäre. Sie muss sich entscheiden, nicht zu dieser Person zu werden. | |
Netanjahus Wunsch, an der Macht zu bleiben, ist moralisch nicht höher zu | |
bewerten als das Existenzrecht eines Kindes. So einfach sollte es sein. | |
Aber die Macht wird von einer Handvoll Menschen ausgeübt, die nicht zur | |
Rechenschaft gezogen werden. Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist | |
ebenso mittelmäßig wie zerstörerisch, und das macht alles noch | |
unerträglicher. | |
Als ich auf der Neugeborenen-Intensivstation an ihrer Seite war, konnte ich | |
Baldwins Überlegungen bis ins Mark nachempfinden. Die Kinder in Gaza waren | |
auch meine Kinder. Ich konnte nichts tun, um sie zu retten. Dieses kostbare | |
Leben, das man kaum kennengelernt hat, die Dinge, die man ihnen zeigen | |
möchte, wie man sie beschützen und pflegen möchte. Was passiert im Kopf, | |
wenn man feststellt, dass die Welt, in der man lebt, in ihrer verarmten | |
Vorstellungskraft keinen Platz für einen selbst oder das eigene Kind hat? | |
Was macht das mit dir als Eltern?“ | |
Elia Ayoub, 33 Jahre alt, libanesisch-palästinensischer Postdoktorand, | |
politischer Analyst und Podcaster. Er lebt in Großbritannien. | |
7 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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