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# taz.de -- Mediziner zur E-Patientenakte: Forschung beginnt mit Fragen
> Mehr Daten, bessere Forschung? Die elektronische Patientenakte soll
> beides bringen. Wie realistisch das ist, weiß Medizinexperte Jürgen
> Windeler.
Bild: Hausarztpraxis in Mecklenburg Vorpommern
taz: Herr Windeler, der Gesundheitsminister will mit der elektronischen
Patientenakte (ePA) den Forschungsstandort Deutschland auf ein neues Level
heben. Ist diese Hoffnung berechtigt?
Jürgen Windeler: [1][Hoffnungen] sind so eine Sache. Es spricht jedenfalls
nicht viel dafür, dass man mit diesen Daten den Forschungsstandort
Deutschland wirklich voranbringen kann. Jedenfalls dann nicht, wenn man
Forschung betreiben will, die wirklich einen Mehrwert für die Patienten
bedeutet.
taz: Warum nicht?
Windeler: Für ernsthafte Forschung braucht es mehr als einen großen
Datenhaufen, der völlig unstrukturiert und unvollständig ist und der nicht
einmal aktuell sein muss. Aber die Daten aus den [2][elektronischen
Patientenakten] sind genau so ein Datenhaufen.
taz: Sie meinen, der Datenpool ist aus Forschungssicht zu nichts zu
gebrauchen?
Windeler: Bestimmt gibt es Fragen, die man auch mit diesen Daten versuchen
kann zu beantworten, etwa zur Häufigkeit von Diagnosen. Aber bereits hier
gibt es Grenzen: Gerade Menschen mit sensiblen Diagnosen, zum Beispiel
[3][HIV] oder psychische Erkrankungen, werden vermutlich überproportional
häufig der Akte oder der Speicherung der Diagnose darin widersprechen. Dazu
kommt, dass auch gespeicherte Diagnosen nicht stimmen müssen. Wenn ein Arzt
meint, dass ein bestimmtes Medikament seinem Patienten hilft, das aber nur
bei einer bestimmten Diagnose verordnet werden darf, dann kommt es vor,
dass er diese Diagnose aufschreibt – auch wenn sie nicht genau zutrifft.
taz: Das sind aber keine entscheidenden Fragen?
Windeler: Für die wirklich entscheidenden Fragen lassen sich diese Daten
nicht mal ansatzweise nutzen. Welche Methoden und Behandlungsansätze sind
eigentlich nutzbringend? Da geht es nicht nur um Medikamente, sondern um
alle möglichen Dinge von Operationsverfahren bis Psychotherapie. Und da
kann man nicht einfach in die ePA gucken. Sondern man braucht bestimmte
wissenschaftliche Methoden, zum Beispiel Vergleichsgruppen und gesichert
korrekte Daten.
taz: In der Pandemie gab es immer wieder Kritik: Deutschland habe auf
epidemiologische Daten aus anderen Ländern zurückgreifen müssen, zum
Beispiel aus Israel und Großbritannien. Ist da was dran?
Windeler: Ja. Andere Länder haben Gesundheitsdaten viel umfangreicher und
strukturierter vorliegen – zum Beispiel in Skandinavien, wo es auch eine
ganz andere Kultur bei der Offenheit von Daten gibt. Die Kultur hierzulande
lässt sich aber nicht einfach durch Verordnungen ändern, und das ist auch
nicht das Entscheidende.
taz: Sondern?
Windeler: Das Entscheidende ist nicht, dass wir keine Daten hatten, sondern
dass wir keine Fragen hatten.
taz: Wie meinen Sie das?
Windeler: Man hat in Deutschland nicht ernsthaft versucht, die Dinge, die
man meinte zu wissen, zu hinterfragen – und dieses Wissen dann mit Daten zu
unterfüttern. Dabei wäre das aber durchaus möglich gewesen. Es gibt zum
Beispiel die Nationale Kohorte, das ist Deutschlands größte Langzeitstudie
im Gesundheitsbereich mit über 200.000 Teilnehmenden. Deren Daten und die
bestehende Struktur hätte man dann dafür nutzen können.
taz: Welche Fragen hätte man stellen müssen?
Windeler: Um [4][bei der Pandemie zu bleiben] – hier hätte man die wichtige
Frage stellen müssen: Wer ist eigentlich infektiös? Wir haben uns darauf
beschränkt, nachzuweisen, wer infiziert ist und die Menschen isoliert, wenn
man das Virus nachweisen konnte. Das ergibt auch erst mal Sinn, aber man
hätte auch klären müssen, wann Infizierte auch infektiös sind und wann eine
Isolation notwendig ist. Aber auch über die Pandemie hinaus läuft es nicht
gut in unserem Gesundheitssystem.
taz: Was macht denn zum Beispiel Dänemark besser?
Windeler: Sehr viel. Zum Beispiel, was die digitale Kultur, das Vertrauen
in das System und den soliden Pragmatismus, auch in der Pandemie, angeht.
Dänemark hat als Staatsziel formuliert, dass sie klinische Forschung
voranbringen wollen, und sie sind damit europaweit sehr erfolgreich. In
Deutschland fehlt dagegen schon das politische Verständnis, dass Forschung
mit Fragen beginnt. Der nächste Schritt ist dann, die passende Methode für
die Fragestellung zu finden. Und erst dann kann man anfangen, über Daten
nachzudenken. Aber klar – wenn man Fragen stellt, kann es sein, dass man
Antworten bekommt, die einem nicht so gut gefallen.
taz: Zum Beispiel?
Windeler: Zum Beispiel Antworten darauf, wo es in unserem Gesundheitssystem
abgesehen von den gravierenden Strukturproblemen hakt. Wo zum Beispiel
Behandlungsmethoden weit verbreitet sind, die nichts bringen oder kaum
etwas. Und meine große Befürchtung in Sachen ePA ist, dass die Politik
jetzt denkt, ach, wir haben ja ganz viele Daten, alles ist prima – und dann
die zielorientierte, gute, aussagefähige Forschung noch weiter aus dem
Fokus gerät. Der Gesundheitsminister hat kürzlich gesagt, mit der ePA
würden zehntausende Leben gerettet. Das ist natürlich ein
Wolkenkuckucksheim.
taz: Jetzt könnte man sagen, Deutschland ist vielleicht in anderen
Forschungsbereichen stärker, dafür im medizinischen Bereich nicht so sehr.
Warum brauchen wir das auch hier?
Windeler: Jedes Gesundheitssystem braucht Antworten auf diese Fragen, und
sie sollten nicht nur von Studien aus anderen Ländern kommen. In der
medizinischen Grundlagenforschung und bei Studien an Unikliniken, die die
Pharmaindustrie zur Zulassung von Medikamenten durchführt, ist Deutschland
gar nicht so schlecht. Aber das hat mit eigener Forschung und eigenen
Fragen nicht so viel zu tun. Deutschland ist sehr entwicklungsbedürftig
dort, wo es darum geht, zu bewerten und zu untersuchen, was bestimmte
Medikamente oder auch einfach nur bestimmte Vorgehensweisen in der Praxis
wirklich bedeuten.
taz: Was könnte besser laufen?
Windeler: Vor einem halben Jahr ist eine große Studie aus Großbritannien
erschienen. 332 Hausarztpraxen, fast 14.000 Patienten und die simple
Forschungsfrage: Was ist bei einer einfachen Erkältung eigentlich am
besten: Gar nichts machen? Kochsalzlösung in die Nase sprühen? Oder ein
befeuchtendes Nasenspray auf Gelbasis? Oder hilft am besten eine Anleitung,
wie man die köpereigene Abwehr stärkt, zum Beispiel mit einer besseren
Stressbewältigung? Die Studie war sehr gut gemacht, es gab vier
randomisierte Gruppen, also wurden die Patienten zufällig den Gruppen
zugeordnet. Es sind solche Studien, die wirklich auf breiter Basis die
Versorgung verbessern können. So was wird in Deutschland bisher einfach
nicht gemacht – und das wird sich auch mit der ePA nicht ändern.
taz: Für alle, die gerade unter einer Erkältung leiden: Was ist
rausgekommen?
Windeler: Am besten ist, ein Nasenspray ohne Wirkstoff zu verwenden, am
günstigsten einfach Kochsalzlösung.
taz: Wenn wir es also schaffen würden, in Deutschland eine andere
Forschungskultur zu etablieren, dann würde das Gesundheitssystem besser
werden und wahrscheinlich auch billiger?
Windeler: Was billiger angeht – so weit würde ich mich nicht aus dem
Fenster lehnen. Und das finde ich auch nicht so entscheidend. Aber
möglichst vieles sorgfältig zu prüfen – wie im britischen Beispiel – und
das Gute zu behalten, macht natürlich die Versorgung besser. Und deswegen
brauchen wir solche Forschung auch hier. Schließlich sind die
Behandlungsansätze und Therapien nicht in jedem Land gleich.
taz: Auch wenn Sie kritisieren, die ePA-Daten seien unstrukturiert und
wenig hilfreich – laut dem Gesundheitsminister haben Big-Tech-Konzerne wie
Google oder Meta trotzdem Interesse, mit ihnen zu arbeiten.
Windeler: Ich befürchte, den meisten Menschen ist überhaupt nicht klar, was
mit den Daten aus ihrer ePA passiert. Also: Die werden pseudonymisiert –
also ohne Namen – in ein deutsches Forschungsdatenzentrum überspielt. Dort
kann sie jeder, der einen Antrag stellt und den bewilligt bekommt, nutzen,
eben auch Firmen. Nach welchen Kriterien diese Anträge entschieden werden?
Das ist unklar. Die Daten werden außerdem perspektivisch in einen
europäischen Datenraum geleitet, damit Akteure in ganz Europa damit
arbeiten können. Und es gibt Überlegungen, dass diese Daten auch in
transatlantischer Kooperation genutzt werden sollen – also in die USA
gehen.
taz: Wie haben Sie denn in Sachen ePA entschieden?
Windeler: Ich habe [5][nach sorgfältiger Abwägung widersprochen]. Aber das
muss jede und jeder nach sorgfältigem Informieren selbst abwägen. Deswegen
wäre es wichtig, dass die Versicherten umfangreich und ausgewogen von den
Krankenkassen oder auch in der Presse informiert werden – und dass das
nicht passiert, ist wirklich problematisch.
21 Feb 2025
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## AUTOREN
Svenja Bergt
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