# taz.de -- Politikverdrossenheit in der Lausitz: Feuerwehr for President | |
> Warum misstrauen immer mehr Menschen den politischen Institutionen? | |
> Unsere Autorin ist in der Lausitz auf Wut gestoßen, aber auch auf | |
> Hoffnung. | |
Bild: 11 Prozent trauen Parteien, 93 Prozent der Feuerwehr: Wache in Boblitz, L… | |
Vor einigen Wochen waren Gerda und ich zu Gast in Weißwasser, wo der | |
Organisationspsychologe Jörg Heidig die Ergebnisse der „[1][Oberlausitzer] | |
Wertefragen“ vorstellte. In der Studie wurden die Einstellungen von etwa | |
500 Personen aus den Landkreisen Bautzen und Görlitz zu unserem politischen | |
System untersucht. | |
So viel sei verraten: Es war kein Gute-Laune-Abend. Rund zwei Drittel der | |
Befragten hielten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Klingt erst | |
mal stabil, ist aber innerhalb von nur zwei Jahren um 15 Prozentpunkte | |
abgerutscht. Am geringsten war die Demokratiezustimmung bei | |
[2][AfD-Wählenden], wenig überraschend. Auch bei Frauen unter 40 Jahren, | |
für mich ziemlich überraschend. | |
Mit dem tatsächlichen [3][Funktionieren der] Demokratie äußerte sich dann | |
nicht mal jede*r Dritte zufrieden oder sehr zufrieden. Autsch. Heidig | |
projizierte eine Grafik an die Beamerwand, die das Vertrauen in | |
verschiedene Institutionen darstellte: mit Abstand angeführt von der | |
Feuerwehr (93 Prozent) und abgeschlossen von Parteien (11 Prozent). | |
Besonders hohes Misstrauen in politische Institutionen auch hier wieder bei | |
Anhänger*innen der AfD wie auch bei Nichtwählenden. | |
Als Erklärungsansatz führte er die sogenannte Reaktanz an: „Widerstand | |
gegen Überzeugungsdruck.“ Der Psychologe schilderte das Phänomen, dass sich | |
viele Menschen durch gesellschaftliche Veränderungen bedroht fühlten. Wenn | |
auf ihre Skepsis jedoch mit Belehrung oder Abwertung reagiert wird, kann | |
sich eine Haltung von „jetzt erst recht“ entwickeln. | |
Die Menschen beginnen das Gegenteil von dem zu tun, was von ihnen verlangt | |
wird. So entspinnt sich ein Teufelskreis aus Belehrung und Widerstand und | |
die Toleranz gegenüber Radikalität nimmt mehr und mehr zu. | |
Ob man diesem Erklärungsmodell etwas abgewinnen kann, welche Schlüsse man | |
aus solchen Ergebnissen zieht, und ob es jetzt wohl Zeit wäre, der | |
Feuerwehr beizutreten, sei jeder und jedem selbst überlassen. Mich hat es | |
auf jeden Fall länger beschäftigt. | |
## Was treibt die Leute um? | |
Ich wollte besser verstehen, was die Leute in meinem Umfeld mit Blick auf | |
die anstehende Bundestagswahl so umtreibt. Also habe ich – ganz abseits von | |
wissenschaftlichen Erhebungen – einfach mal gefragt. Wenn ich meinen | |
Nachbarn am Glascontainer getroffen habe, zum Glühweintrinken beim | |
Weihnachtsbaumverbrennen oder beim Zurückbringen des uns geliehenen | |
Anhängers. | |
Insgesamt schlug mir ein enormer Frust gegenüber Politik entgegen. Oft | |
wurden an erster Stelle die Themen benannt, die in den letzten Monaten so | |
brav diskursiv gefüttert wurden: zu viele Ausländer und faule | |
Bürgergeldempfänger, die die Wirtschaft ruinieren. | |
Zynismus ist naheliegend, hilft uns aber auch nicht weiter. Mit Heidigs | |
Reaktanz-Begriff im Hinterkopf versuchte ich also den Spagat, in den | |
Gesprächen weiterzukommen und dennoch meine Haltung deutlich zu machen. | |
Ziemlich schnell stellte sich heraus: Viele sind enorm wütend über | |
wahrgenommene Ungerechtigkeiten – vor allem bei sozialpolitischen Fragen. | |
Eine Frau erzählte mir von ihrer alleinerziehenden Tochter, die nur mit Ach | |
und Krach über die Runden kommt. Ein älterer Herr von seiner Angst, bald | |
den Führerschein abgeben zu müssen, weil das bei der örtlichen | |
ÖPNV-Situation der absoluten Hilfslosigkeit gleichkommt. | |
Ein anderer, dass es ihm gesundheitlich schlecht geht, der nächst freie | |
Facharzttermin aber erst im September ist. Eine Lehrerin vom zunehmend | |
verrohten Miteinander innerhalb der Schüler*innenschaft in Kombination | |
mit lächerlich viel Stundenausfall aufgrund des Personalmangels. | |
In meinem Umfeld haben viele Leute das Gefühl, das haut so alles nicht mehr | |
hin. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer, | |
Gesellschaftsverträge wie das Renten- oder Pflegesystem sind am Rande der | |
Belastungsgrenzen, Kommunen heillos überansprucht. | |
## Reaktanz in Reinform | |
Die Zeiten des „Weiter-so“ sind vorbei. Es ist ein Trauerspiel, dass es | |
bisher so wenig gelingt, dieses Gefühl mit einer positiven, solidarischen | |
Zukunftsvision einzufangen. Stattdessen wird es bei vielen kanalisiert über | |
ein nach unten treten, begleitet vom diffusen Wunsch der Rückkehr in längst | |
vergangene Zeiten. Mit welcher Heftigkeit sich das aktuell über | |
rassistische Positionen Bahn bricht, ist gefährlich und nicht tragbar. | |
Daraufhin kann man sagen: Mit „solchen Leuten“ reden wir nicht. Nur leider | |
scheint sich dieser Ansatz in den letzten Jahren ja nicht wirklich bewährt | |
zu haben. In meinem dörflich-sächsischem Umfeld habe ich immer wieder | |
hautnah erlebt, wie zunächst ehrlich verunsicherte Menschen in eine Ecke | |
gestellt wurden mit Nazis, Querdenkern oder Reichsbürgern. Das Ergebnis war | |
Reaktanz in Reinform und profitiert haben vor allem Rechtspopulisten. | |
Daraufhin können wir (zurecht) mit dem Finger auf die AfD zeigen. | |
Wir können aber auch darüber diskutieren, welchen Anteil die anderen | |
Parteien und auch die Gesellschaft daran tragen. Wie wir diesem | |
Teufelskreis aus verstärkender Radikalisierung etwas entgegensetzen können. | |
Im aufgeheiztem Diskussionsklima darüber zu schreiben, dass und wie ich | |
mich in der Oberlausitz mit Leuten über Politik unterhalte, kommt mir | |
beinahe „riskant“ vor. Nicht, weil meine vornehmlich rechts-konservativen | |
Nachbar*innen nicht wissen sollen, dass ich am anderen Ende des | |
politischen Spektrums angesiedelt bin. | |
Meine Sorge gilt eher einer Verurteilung seitens der urban-progressiven | |
Ecke. Das finde ich zumindest mal bemerkenswert. Für meine persönlichen | |
Erfahrungen in Ostsachsen kann ich es analog zu Kraftklub halten: Bautzen | |
ist nicht Berlin. | |
Was also am Ende meiner Textreihe bleibt, ist ein grundlegendes Plädoyer | |
für die Graustufen zwischen all den vermeintlichen Widersprüchlichkeiten. | |
Für Differenziertheit, besonders wenn sie schwerfällt. Damit verbleibe ich | |
auf unserem kleinen Hof mit Sorge auf die anstehende Wahl, Vorfreude auf | |
weitere Dorferlebnisse und Angst um gesellschaftliche Entwicklungen. Ich | |
habe Bock auf die Gartensaison. | |
19 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Linda Leibhold | |
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