| # taz.de -- 5 Jahre nach Hanau-Anschlag: „Was habe ich diesem Land getan?“ | |
| > Der rechtsextreme Anschlag begleitet Überlebende jeden Tag. Ihre | |
| > Enttäuschung über den Staat ist groß. Aufgeben wollen sie aber auch 5 | |
| > Jahre danach nicht. | |
| Bild: Auf Ibrahim Akkuş wurde beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 mehrf… | |
| Hanau taz | Ibrahim Akkuş leidet. Seit fünf Jahren brennt das Licht in | |
| seinem kleinen, neun Quadratmeter großen Zimmer ununterbrochen. Denn seit | |
| fünf Jahren lebt Akkuş in Angst, gefangen in seinen [1][Erinnerungen an den | |
| 19. Februar 2020]. „Ich kann diesen Abend nicht vergessen“, sagt er, als er | |
| auf seinem Bett in Tränen ausbricht. | |
| An jenem Abend vor fünf Jahren war er, wie so oft zuvor, in der Arena Bar | |
| in Hanau. Er stand im Eingangsbereich mit seinem Rollator, wollte seinen | |
| Bekannten Gökhan Gültekin treffen. Dann kam der rechtsextreme Täter, schoss | |
| achtmal auf ihn. Vermutlich wollte er Akkuş töten. Dass Akkuş überlebte, | |
| war reines Glück. | |
| Viele Monate verbrachte Akkuş nach dem Anschlag im Krankenhaus. Vielleicht | |
| ist er deshalb in den Medien in Vergessenheit geraten. Heute, fünf Jahre | |
| später, geht es dem 69-jährigen Mann nicht gut. Er ist auf den Rollstuhl | |
| angewiesen, sitzt alleine auf seinem Bett, bricht mal in Tränen aus, ist | |
| mal voller Wut. Oft kommen die Erinnerungen hoch. Er schreit und schreit. | |
| Das stört die Nachbar*innen, die dann die Polizei rufen. Und manchmal | |
| überkommt ihn Panik, er ruft nach seiner Frau, weil sein Bein verrutscht | |
| ist. „Nein“, antwortet sie auf Kurdisch. „Deine Prothese ist noch da. All… | |
| ist gut.“ | |
| Seine 49-jährige Partnerin und die 19-jährige Tochter erleben sein Leiden | |
| jeden Tag. Bewegen kann Akkuş sich kaum noch. Sie müssen ihn windeln. Die | |
| Wohnung, die nicht behindertengerecht ist, ist eine große Herausforderung. | |
| Sie müssen Akkuş tragen, oft müssen sie ihn auf dem Boden des Badezimmers | |
| waschen. Vieles in der Wohnung funktioniert nicht. Doch die Hanauer | |
| Baugesellschaft ignoriere ihre Hilferufe, sagt die Familie. | |
| ## „Ich will nicht mehr leben“ | |
| Sara Akkuş trägt, seitdem sie 14 Jahre alt ist, viel Verantwortung. Sie | |
| unterstützt ihre Eltern, übernimmt organisatorische Aufgaben, denn sie ist | |
| die Einzige in der Familie, die gut Deutsch kann. Sie kommuniziert mit den | |
| Behörden, stellt Anträge für den Vater und vermittelt zwischen der Familie | |
| und der Außenwelt. Sie macht alles gerne, trotzdem fragt sie sich manchmal, | |
| „wie das Leben ohne den 19. Februar gewesen wäre“. | |
| Eigentlich hätte sie nach der Schule am liebsten eine Ausbildung zur | |
| Rettungssanitäterin gemacht, aber „ich hätte ein schlechtes Gewissen | |
| gehabt, wenn ich meine Eltern nicht zu Hause unterstützt hätte“. Seit dem | |
| Anschlag hat sich Sara Akkuş Alltag drastisch verändert. „Ich habe mein | |
| Zimmer meinem Vater gegeben. Ich schlafe seit fünf Jahren in einem Zimmer | |
| mit meiner Mutter“, erzählt sie. Kaum jemand habe die Familie unterstützt �… | |
| außer der Initiative 19. Februar. „Es leiden nicht nur die Familien der | |
| Getöteten, sondern auch die Überlebenden“, beklagt die junge Frau. Auch sie | |
| begleitet der 19. Februar weiterhin – besonders, wenn sie dem Vater des | |
| Täters in Kesselstadt begegnet. Ihren Vater aus ihrer Kindheit vermisst | |
| sie: „Mein Vater war sehr aktiv. Er hat uns Frühstück gemacht, alles für | |
| uns gemacht.“ Nun macht sie alles für ihn. | |
| „Ich werde verrückt, wenn ich an meine alten Tage denke“, sagt Ibrahim | |
| Akkuş. „Ich war ein starker Mann, ein Bauarbeiter, der sein eigenes Geld | |
| verdient hat“, erzählt er. Und nun? „Ich bin ein Mensch, der nichts kann.�… | |
| Wann er das letzte Mal seine Wohnung verlassen konnte, weiß er nicht mehr. | |
| Am meisten schmerzt ihn der Gedanke, dass er das Leben nicht mehr wirklich | |
| genießen kann: „Im Krankenhaus nach dem Anschlag habe ich zu den Ärzten | |
| gesagt: Bitte gebt mir eine Giftspritze, ich will nicht mehr leben.“ | |
| Der 19. Februar 2020 war nicht das erste Mal, dass Akkuş mit rechtem Terror | |
| konfrontiert wurde. Mit Anfang 20 floh er mit seinem Bruder aus Diyarbakır. | |
| Als Kurden waren sie in der Türkei gefährdet. Sie beantragten Asyl in Hanau | |
| – doch sein Bruder wurde abgeschoben. Und: Wenig später wurde der damals | |
| 19-Jährige in der Türkei vor seiner Haustür von türkischen | |
| Rechtsextremisten ermordet. | |
| Seit über 40 Jahren lebt Akkuş in Hanau. Er hat Deutschland nicht | |
| verlassen, auch um sich und seine Familie zu schützen. „Ich dachte, das ist | |
| ein demokratisches Land. Niemand würde uns umbringen.“ | |
| ## Jeden Tag auf der Suche nach Gerechtigkeit | |
| Auf die Frage, wie es ihr geht, muss auch Dijana Kurtović erst schlucken. | |
| Dann sagt die 51-Jährige langsam: „Ich muss.“ Am 19. Februar 2020 verloren | |
| sie und ihr Mann ihren 22-jährigen Sohn Hamza. Nicht nur die Bilder von | |
| Hamza, die überall in ihrer Wohnung hängen, prägen den Alltag der | |
| Kurtovićs, auch der unermüdliche Kampf um Aufklärung. | |
| Jeder Tag bei den Kurtovićs dreht sich um die Suche nach Gerechtigkeit: Sie | |
| führen Telefonate mit Journalist*innen, Gespräche mit Politiker*innen, sie | |
| suchen nach Zeug*innen, werben um Spenden für die Verfahrenskosten, nehmen | |
| Termine bei Anwält*innen wahr. Immer wieder diskutieren sie die nächsten | |
| Schritte – wie es weitergeht, wie sie weitermachen können. „Es kostet | |
| Gesundheit, es kostet Energie, es kostet Nerven, es kostet alles“, sagt | |
| Dijana Kurtović. „Man hat uns unsere Kinder weggenommen. Und auch unser | |
| Sicherheitsgefühl.“ | |
| Armin Kurtović, der Vater von Hamza Kurtović, versucht stark zu bleiben. | |
| Seit fünf Jahren scheut er keine Bühne, keine Gespräche in der | |
| Öffentlichkeit. Seine Entschlossenheit ist für jeden sichtbar. Zusammen | |
| kämpft das Paar für den Sohn. Zwei Jahre lang haben sie den | |
| Untersuchungsausschuss beobachtet, immer wieder auf Behördenfehler | |
| aufmerksam gemacht. [2][Neulich reichten sie eine Strafanzeige bei der | |
| Staatsanwaltschaft Hanau ein] – wegen fahrlässiger Tötung und | |
| Strafvereitelung. | |
| Doch man fragt sich, trotz der großen Enttäuschung, woher sie die Kraft | |
| nehmen, weiter zu kämpfen. „Wir haben noch Hoffnung. Und wir wollen nicht, | |
| dass es wieder passiert“, sagt Dijana Kurtović. Aber auch ihre Hoffnung hat | |
| Grenzen. Die Familie erwartet bald ein Enkelkind. Doch die Freude darüber | |
| wird von Angst überschattet. „Es ist schwer, sich nach all dem zu freuen“, | |
| sagt Dijana Kurtović. „Immer kommt die Frage: Wie soll ich in diesem Land | |
| noch ein Kind großziehen?“ | |
| Enttäuschung über die Behörden und Sicherheitsbedenken überwiegen bei der | |
| Familie Kurtović. „Wenn ich ehrlich bin, kann ich das alles in diesem Land | |
| nicht mehr“, sagt Armin Kurtović. „Ich will weg aus Deutschland.“ | |
| Vielleicht nach Österreich oder in die Schweiz. Auch seine Frau teilt | |
| diesen Gedanken. „Unsere Kinder kennen nichts anderes als Deutschland“, | |
| sagt sie. „Aber gleichzeitig ist es unsicher hier für sie. Wir haben | |
| Angst.“ | |
| ## Hoffnung auf ein besseres Leben | |
| Nicht nur die Kurtovićs kämpfen um die Wahrheit. Auch Niculescu Păun setzt | |
| alles daran, dass der Anschlag vollständig aufgeklärt wird. [3][Der Vater | |
| von Vili-Viorel Păun hatte Anfang Januar Anzeige gegen leitende Polizisten | |
| gestellt], die am Abend des Anschlags im Einsatz waren. Doch kurz darauf | |
| wurden die Ermittlungen eingestellt. Damit scheint die letzte Chance vor | |
| der Verjährung auf Gerechtigkeit für seinen Sohn vorerst vertan. | |
| Niculescu Păun kam 2015 aus Rumänien nach Hanau, voller Hoffnung auf ein | |
| besseres Leben. Er arbeitete in einer Logistikfirma und holte kurz darauf | |
| seinen Sohn nach Deutschland. Vili-Viorel lernte schnell Deutsch, war sehr | |
| ambitioniert und voller Freude. „Mein Sohn war sehr zufrieden hier in | |
| Deutschland“, sagt Păun. „Er war verliebt, er war glücklich.“ Der Vater | |
| betont immer wieder, wie stolz er ihn machte – bis zu seinem letzten | |
| Moment. „Mein Sohn ist weg und wir sind alle hier alleingelassen.“ | |
| Heute sitzt Niculescu Păun oft in den Räumen der Initiative 19. Februar. | |
| Seine Worte wählt er mit Bedacht. „Mein Deutsch ist nicht gut, ich habe | |
| nicht studiert“, sagt er. Dann schweift sein Blick ab, und er erinnert sich | |
| an sein einziges Kind: „Mein Sohn hat aber studiert.“ Doch mit der | |
| Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen einzustellen, scheint | |
| ein weiterer Funken Hoffnung für die Familie erloschen zu sein. „Ich habe | |
| für meinen Sohn gekämpft, und ich werde weiter kämpfen“, sagt er. „Diese | |
| Ungerechtigkeit kann ich nicht akzeptieren.“ | |
| Seit dem Anschlag können Niculescu Păun und seine Frau nicht mehr arbeiten. | |
| Sie sind gesundheitlich schwer angeschlagen. „Uns geht es gar nicht gut“, | |
| sagt er. „Wir schlafen kaum noch, wir haben seit dem 19. Februar viele | |
| Krankheiten bekommen.“ Besonders schwer wiegt der Vertrauensverlust. „Wir | |
| haben unser Vertrauen in die Polizei verloren“, sagt Păun. „Sie sollten die | |
| Garantie für unsere Sicherheit sein, aber mein Sohn konnte sie nicht einmal | |
| erreichen.“ Trotz allem will er nicht aufgeben. „Wenn wir die Situation | |
| einfach so akzeptieren, sollten wir uns nicht wundern, wenn der nächste | |
| Anschlag passiert.“ | |
| Damit es nicht zu einem weiteren Anschlag kommt, kämpft auch Newroz Duman | |
| seit fünf Jahren an der Seite der Betroffenen für Aufklärung. Die | |
| 35-jährige Sprecherin der Initiative 19. Februar arbeitet unermüdlich | |
| dafür. „Fünf Jahre Hanau bedeuten auch fünf Jahre Selbstorganisation der | |
| Angehörigen, fünf Jahre Ermittlungen der Angehörigen, Recherchen der | |
| Angehörigen, Strategien entwickeln und Pressearbeit“, sagt Duman. | |
| ## „Wir müssen weitermachen“ | |
| Die Initiative hatte in den vergangenen Jahren viele Ungereimtheiten mit | |
| den Opferangehörigen selbst ans Licht gebracht. Bestes Beispiel ist der | |
| verschlossene Notausgang und auch zum Notruf, der nicht durchkam, gibt es | |
| bis heute noch viele Fragen. Immer wieder habe man gedacht, die Behörden | |
| zur Verantwortung ziehen zu können, doch jedes Mal gab es Enttäuschungen. | |
| „Du rennst und rennst und rennst und trägst die ganze Verantwortung, die | |
| der Staat eigentlich tragen müsste. Und sobald es gegen die | |
| Sicherheitsbehörden geht, kommst du einfach nicht durch diese dicke, dicke, | |
| dicke Mauer“, erzählt sie. Für sie ist das eine politische Entscheidung. | |
| „Wir kämpfen für Gerechtigkeit in einem Rechtsstaat, der nicht in der Lage | |
| ist, diese Gerechtigkeit herzustellen.“ | |
| Mit dem fünften Jahrestag drohen nun Verjährungsfristen in vielen | |
| Verfahren, dabei gewinnen rechte Parteien in Deutschland zunehmend an | |
| Einfluss. Auf die Frage, ob sie sich Sorgen um die Zukunft der Initiative | |
| macht, antwortet Duman mit einem klaren Nein. „Wenn man versteht, dass | |
| selbstorganisierte Kreise sich nie auf den Staat verlassen haben oder auf | |
| solche Strukturen, weiß man auch, dass dies nicht unsere erste Sorge ist.“ | |
| Für sie, wie auch für viele Angehörige, bleibt trotz der Enttäuschungen der | |
| vergangenen fünf Jahre in Hanau eines sicher: „Es gibt keine Alternative. | |
| Wir müssen weitermachen.“ | |
| Weiterzumachen fällt Ibrahim Akkuş enorm schwer. Die Frage, die ihn mit am | |
| meisten umtreibt: „Was habe ich diesem Land getan? Das ist doch auch unsere | |
| Heimat.“ Noch unerträglicher für Ibrahim Akkuş ist das Gefühl, vergessen … | |
| werden. | |
| „Niemand ruft mich an. Niemand fragt, wie es mir geht“, sagt er flüsternd. | |
| „Ich leide hier.“ | |
| 18 Feb 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Anschlag-in-Hanau/!5665253 | |
| [2] /Anschlag-von-Hanau/!6067819 | |
| [3] /Anzeige-gegen-die-Polizei-Hanau/!6060803 | |
| ## AUTOREN | |
| Yağmur Ekim Çay | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Rechte Gewalt | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedenken an Hanau-Anschlag: SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene | |
| Die Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz hat die kommunale Koalition in Hanau | |
| kritisiert. Nun will diese das Gedenken so nicht mehr zulassen. | |
| 5. Jahrestag des Anschlags: „Die Stadt Hanau ist schuldig“ | |
| Am fünften Jahrestag des rassistischen Anschlags gedenken die Angehörige | |
| der Opfer. Sie üben scharfe Kritik an den ebenfalls anwesenden Politikern. | |
| 5 Jahre nach dem Attentat von Hanau: Erinnern als leere Geste | |
| Vor fünf Jahren ermordete ein Rassist neun Menschen in Hanau. Fünf Jahre, | |
| in denen viel versäumt wurde und die Hinterbliebenen alleingelassen wurden. | |
| Rekord rechtsextremer Straftaten: „Erschreckender Aufwärtstrend“ | |
| Rechtsextreme Straftaten erreichen neuen Höchststand: mehr als 40.000 | |
| Delikte. Das zeigt eine Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau | |
| (Linke). | |
| Rechtsextremer Anschlag: Trauma nach Hanau | |
| Fast fünf Jahre nach dem rassistischen Attentat in Hanau kämpfen Betroffene | |
| weiter um Unterstützung. Eine Studie zeigt nun, wie wichtig Beratung ist. | |
| Studie zur deutschen Polizei: „Es gibt kein Rassismus-Problem“ | |
| Eine Studie zu Einstellungen bei der Polizei legt jetzt den | |
| Abschlussbericht vor. Studienleiterin Anja Schiemann über überraschend | |
| positive Befunde – und einige Problembereiche. |