# taz.de -- UNO-Berichterstatter über Inklusion: „Das System muss sich anpas… | |
> Wenn Migration als Problem gesehen wird, verändert das auch etwas für | |
> Menschen mit Behinderungen, sagt Jurist Markus Schefer. Er kritisiert die | |
> Union. | |
Bild: Besucher*innen im Bundestag – hier hätten mehr Gesetze zur Inklusion v… | |
taz: Sie überwachen als UN-Berichterstatter die Umsetzung der Konvention | |
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wie steht es in Deutschland | |
um diese Rechte? | |
Markus Schefer: Man ist in Deutschland noch immer weitgehend in dem Denken | |
verhaftet, dass die Welt für Menschen mit Behinderung grundsätzlich eine | |
andere ist als für alle anderen. Dass Menschen mit und ohne Behinderung | |
sich vielfach in komplett getrennten Lebensräumen befinden, sieht die | |
Politik nicht als Problem. Den entscheidenden Punkt möchte man in | |
Deutschland nicht so recht begreifen, und ist damit in Europa in guter | |
Gesellschaft. | |
taz: Was ist denn der entscheidende Punkt? | |
Schefer: Viele Menschen haben die Vorstellung, dass man eine Behinderung | |
feststellen kann, indem man medizinisch nur genau genug hinschaut: Was kann | |
ein Mensch und was kann er nicht? Aber die Frage ist eigentlich: Inwieweit | |
kann ein Mensch mit Behinderung seine Menschenrechte so ausüben wie andere | |
Leute auch? Kann ich beispielsweise mit einem Partner oder einer Partnerin | |
in einer Wohnung wohnen, die ich selbst gewählt habe? Kann ich selbst | |
entscheiden, was und mit wem ich frühstücke und wie mein Tagesablauf | |
aussehen soll? Menschen mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie alle | |
anderen. Das System muss sich anpassen, damit alle teilhaben können, nicht | |
die Menschen. | |
taz: W ie stehen die Chancen dafü r? | |
Schefer: Typischerweise kommt die Energie, um Inklusion voranzutreiben, | |
einerseits von Behindertenverbänden, und andererseits aus Regierung und | |
Verwaltung. Meine Erfahrung ist, dass Veränderung bei den Letzteren meist | |
von einigen wenigen Leuten ausgeht. Wenn die ein grundsätzlich | |
wohlgesonnenes Umfeld haben, kann es ihnen gelingen, signifikante | |
Fortschritte zu erzielen. | |
taz: Das klingt wenig optimistisch. | |
Schefer: Regierung und Verwaltung sind am Ende auch nur ein Abbild der | |
Gesellschaft. Und da ist die Stimmung momentan wenig | |
menschenrechtsfreundlich. Das erleben wir nicht nur in Deutschland, sondern | |
bei sämtlichen Prüfungen europäischer Staaten. Schweden und Dänemark etwa, | |
die einst Vorreiter der Inklusion waren, haben wir bei den letzten | |
Staatenprüfungen erstmals wegen regressiver Maßnahmen gerügt. Das ist in | |
Deutschland noch nicht passiert, aber die gesellschaftlichen Entwicklungen | |
bleiben auch hier offen. | |
taz: Was meinen Sie damit? | |
Schefer: Wenn Migration von vielen Menschen als Problem wahrgenommen wird, | |
verändert sich auch etwas für Menschen mit Behinderungen. | |
Rechtskonservative Parteien nehmen diese gesellschaftliche Stimmung auf. | |
Die restriktive Politik, die dann umgesetzt wird, bezieht sich regelmäßig | |
nicht allein auf Geflüchtete, sondern oft auch auf Menschen mit | |
Behinderungen. In Schweden gibt es inzwischen wieder mehr Institutionen für | |
Menschen mit Behinderungen, statt individuelle Wohnmöglichkeiten. In | |
Dänemark bekommen Menschen mit Behinderung weniger finanzielle Leistungen | |
als in der Vergangenheit. Die Tendenz geht dahin, Menschen mit | |
Behinderungen wieder in Parallelwelten abzuschieben. Und dazu kommt noch | |
die Frage der Prioritäten. | |
taz: Inwiefern? | |
Schefer: Wir leben in einer Zeit, in der Deutschland eine große Priorität | |
auf seine Wirtschaftspolitik wird richten müssen – einerseits, falls der | |
amerikanische Präsident seine protektionistischen Ankündigungen | |
verwirklichen sollte, andererseits, weil Deutschland im europäischen | |
Vergleich wirtschaftlich immer schlechter dasteht. Die Wirtschaft wird also | |
effizienter ausgestaltet werden müssen. In einem gewissen Rahmen wird man | |
versuchen, Regulierungen abzubauen, die wirtschaftliches Handeln hemmen. In | |
einer solchen Zeit neue Regelungen einführen zu wollen, die den | |
Arbeitsmarkt inklusiver machen? Das scheint mir nicht sehr realistisch. | |
taz: Der nächste Bundeskanzler ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Friedrich | |
Merz. In ihrem Wahlprogramm schreibt die Union unter anderem, dass sie | |
neben Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt Inklusionsbetriebe und | |
Werkstätten stärken will, denn „sie bieten einen geschützten Raum, um sich | |
im Arbeitsleben zu erproben“. | |
Schefer: Das ist ein bisschen widersprüchlich. Sollen die | |
Inklusionsbetriebe gestärkt werden, damit das Separieren besser | |
funktioniert? Das ist genau nicht die Idee der Inklusion. Klar, es muss | |
auch spezialisierte Einheiten geben, die Menschen auf den Arbeitsmarkt | |
vorbereiten. Aber hier klingt es eher nach: Die Leute sollen fit gemacht | |
werden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt, so wie er ist, bestehen können. | |
Dabei sollte der Arbeitsmarkt sich an die Menschen anpassen, damit sie, so | |
wie sie sind, daran teilhaben können. | |
taz: Zum Thema Bildung steht da: „Wir sorgen für individuelle | |
Bildungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und | |
sehen neben Inklusionsangeboten auch Förderschulen als Bestandteil der | |
Bildungswelt.“ | |
Schefer: Ja, eben, individuell! Es geht eben gerade nicht nur um | |
individuelle Bildungsmöglichkeiten. Sondern die Konvention fordert, dass | |
man einen institutionellen Ansatz verfolgt und die Schulen insgesamt so | |
strukturiert, dass sie inklusiv sind. Aber dieser Passus sagt im Prinzip: | |
Wir werden kein inklusives Bildungssystem errichten, aber es sollen | |
möglichst viele Leute in die Regelschule. Das kann nicht funktionieren. | |
taz: 2023 haben Sie im Fachausschuss der Vereinten Nationen zur | |
Behindertenrechtskonvention geprüft, wie Deutschland die Konvention | |
umgesetzt hat. Und? | |
Schefer: In Deutschland herrscht die Überzeugung: Grundsätzlich machen wir | |
es gut, aber wir müssen in kleinen Schritten vorangehen. Wenn man so denkt, | |
kommt man nie zu der Erkenntnis, dass man es grundsätzlich nicht gut macht. | |
Das ist ganz überwiegend kein schlechter Wille. Es geht eher darum, ob man | |
das Ziel einer inklusiven Gesellschaft anerkennt – eine Frage der Haltung | |
also. Die kenne ich aber auch von anderen wirtschaftlich hoch entwickelten | |
Staaten, zum Beispiel Japan, der Schweiz, Singapur oder Österreich. | |
taz: Diese Haltung ist Ihnen auch bei der deutschen Delegation aufgefallen? | |
Schefer: Natürlich! Man hat dann etwa die Spezialisten im | |
Erwachsenenschutzrecht aus dem zuständigen Ministerium vor sich sitzen. Die | |
kommen nicht mit der Einstellung, dass ihr Erwachsenenschutzrecht | |
möglicherweise ein Grundsatzproblem hat, weil es Menschen entmündigt. Sie | |
gehen eher davon aus, dass diese 18 Leute in Genf vielleicht nicht so recht | |
begreifen, wie es im eigenen Land läuft, und erklären uns dann alle | |
rechtlichen Details. Diese Details können den grundsätzlichen Mangel aber | |
nicht beheben; es geht ums System. | |
taz: In Ihrem Abschlussbericht haben Sie hervorgehoben, dass Deutschland im | |
[1][Bildungssystem] und auf dem Arbeitsmarkt besonders viel Nachholbedarf | |
hat. | |
Schefer: Es geht dabei um zwei Ebenen. Die eine ist die lebenspraktische: | |
Es braucht etwa griffigere Maßnahmen, wenn Arbeitgeber*innen Menschen | |
mit Behinderungen trotz rechtlicher Verpflichtungen nicht anstellen, und | |
ein wirklich inklusives Bildungssystem. Wenn Menschen echte Bildungschancen | |
haben, ist auch die Inklusion in den Arbeitsmarkt einfacher. | |
taz: Und die zweite Ebene? | |
Schefer: Das ist die strukturelle: Das Ziel von Gesetzgebung muss sein, | |
keine separaten Lebenswelten zu schaffen. Damit das gelingt, braucht es | |
entsprechende Rechtssetzungs- und Planungsprozesse. Die Vertreter*innen | |
von Menschen mit Behinderung müssen systematisch und geplant in | |
Gesetzgebungsprozesse mit einbezogen werden, unabhängig davon, was dem | |
zuständigen Staatssekretär gerade opportun erscheint. | |
taz: Was passiert bisher? | |
Schefer: Es gibt einen Beauftragten für die Belange von Menschen mit | |
Behinderung, der unmöglich systematisch in sämtliche Gesetzgebungsprozesse | |
hineingehen kann. Wenn es politisch opportun ist, findet vielleicht mal | |
eine Anhörung von Betroffenenverbänden statt, sonst eher nicht. | |
taz: Bei der Staatenprüfung haben Sie auch das Thema | |
[2][Gesundheitsversorgung] stark gemacht. | |
Schefer: Das ist auf verschiedenen Ebenen relevant. Zum Beispiel: Komme ich | |
in eine Arztpraxis rein? Wenn ich einmal da bin, habe ich dann eine | |
Möglichkeit, mit der Ärzt*in zu kommunizieren? Es geht auch sehr stark | |
darum, wie man mit Menschen mit psychosozialen Behinderungen umgeht. | |
taz: Was heißt das konkret? | |
Schefer: Denken Sie zum Beispiel an die Anwendung von Zwang. Deutschland | |
hat hervorragende [3][psychiatrische Kliniken], die wirklich versuchen, vom | |
Zwang Abschied zu nehmen. Aber es ist rechtlich noch immer völlig | |
akzeptiert und [4][Standard, dass Zwangsmaßnahmen ergriffen werden], | |
entweder physisch, in der Unterbringung oder mit Medikamenten. Und es ist | |
rechtlich und praktisch etabliert, dass Menschen abgesprochen werden kann, | |
selber einen rechtlich relevanten Willen haben und äußern zu können. | |
taz: Aber was ist, wenn ein Mensch nicht allein entscheiden kann? | |
Schefer: Es geht um die Herangehensweise. Österreich hat zum Beispiel ein | |
Erwachsenenschutzrecht, das rechtlich grundsätzlich anders funktioniert. | |
Anstatt eines Stellvertreters, der für Menschen entscheidet, bekommt man | |
eine unterstützende Person zur Seite gestellt, die dabei hilft, den eigenen | |
Willen zu formen und auszudrücken. Im Extremfall, wenn die Person ihren | |
Willen nicht mehr ausdrücken kann, muss man so entscheiden, wie es dem | |
mutmaßlichen Willen der Person am ehesten entsprechen würde. Das klingt | |
nach Haarspalterei, aber es ist ein elementarer Unterschied. Allerdings: So | |
gut das österreichische Recht ist, so schlecht wird es umgesetzt, weil die | |
unterstützenden Maßnahmen nicht angeboten werden. Mit dem Ergebnis, dass | |
die tatsächliche Situation heute sogar noch schlechter ist als unter den | |
alten Regelungen. | |
7 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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