# taz.de -- Sorgen von Minderheiten in Syrien: „Möge Gott dir vergeben“ | |
> Ex-Diktator al-Assad gehört der Minderheit der Alawit*innen an, so wie | |
> viele Hochrangige des alten Regimes. Im alawitischen Viertel von Homs | |
> fürchten Viele die neuen Machthaber. | |
Bild: Auch tagsüber sind kaum Menschen auf der Straße: Zahra, das alawitische… | |
Homs taz | Am Abend ist es ein anderes Homs. Das Viertel Zahra, von | |
Alawitinnen und Alawiten bewohnt, ähnelt nach Einbruch der Dunkelheit einer | |
Geisterstadt. Gespenstische Gebäude erheben sich am Straßenrand, teilweise | |
durch den Krieg gezeichnet. Alles – Türen, Fenster, Geschäfte – sind | |
geschlossen, als hätte die Lebensader dieses Viertels aufgehört zu pumpen. | |
Vereinzelt laufen Menschen durch die Straßen. Die Stille ist | |
ohrenbetäubend. | |
Unterbrochen wird sie lediglich durch Salven. Immer wieder, die ganze Nacht | |
hindurch. Vier Checkpoints muss man überqueren, um vom Zentrum der | |
syrischen Stadt Homs ins Viertel Zahra zu fahren – weniger als fünf | |
Kilometer Strecke. An den Absperrungen stehen junge Männer, meistens mit | |
langen Bärten und in Flecktarn, manche schwarz angezogen oder mit einem | |
Schal über den Mund gezogen. Und mit Maschinengewehren in den Händen. | |
Freundlich sind sie, zumindest zu Frauen und Sunnit*innen. | |
„Wir haben Angst, abends vor die Tür zu gehen“, sagt F. I., ein 24-jährig… | |
alawitischer Mann, der in einem der gespenstischen Häuser in Zahra lebt. | |
„Es gab einige Entführungen.“ Drei, vier junge Männer innerhalb von zwei | |
Wochen. Einer soll ein Medizinstudent gewesen sein, zwei Tage später wurde | |
er mit zwei Einschusslöchern in der Stirn an einem abgelegenen Ort | |
wiedergefunden. Alle seien Alawiten gewesen. | |
Wer sie entführt hat, ist schwer zu sagen. Die Alawit*innen vermuten | |
[1][Racheakte] gegen Verwandte von ehemaligen Regimeoffizieren – oder | |
Milizen, die eigenständig handeln. „Nach der Belagerung 2015 flohen viele | |
Rebellenkämpfer von Homs nach Idlib. Nun sind sie zurückgekehrt“, erläutert | |
I., der mit seiner Familie stets in Homs gelebt hat. So genau weiß das | |
jedoch niemand. Eine Anfrage der taz an die neue Regierung Syriens bleibt | |
unbeantwortet. | |
## Leben voller Kontraste | |
Keinen Strom gibt es gerade in dem Viertel. Nur zwei Stunden pro Tag fließt | |
er, daher sehen selbst bewohnte Häuser abends verlassen aus. Es ist ein | |
starker Kontrast, verglichen mit den quirligen Straßen des Zentrums. Dort | |
flanieren Männer und [2][Frauen]zwischen Restaurants und teuren, | |
ausländischen Modegeschäften unter leuchtenden Straßendekorationen. Eine | |
Art Bipolarität, die das ganze Land durchzieht und in Homs besonders gut | |
sichtbar ist. Das Zerstörte neben dem Glänzenden, das Verlassene neben dem | |
Lebendigen. Die Erschrockenen neben den Jubelnden. Das gesamte Land steht | |
weiterhin unter Schock. An Orten wie diesen wird dies besonders deutlich. | |
In Homs gab es während des Kriegs Massaker und Menschenrechtsverletzungen | |
auf beiden Seiten. Hier gab es besonders viel konfessionsbedingte Gewalt | |
zwischen Sunnit*innen und Alawit*innen. Auch der Widerstand gegen den | |
nun gestürzten Ex-Diktator Baschar al-Assad war stark. Bombardierungen und | |
eine dreijährige Belagerung der Stadt durch die syrischen Truppen sorgten | |
für Hunderte zivile Tote. Die Soldaten Assads schnitten die | |
Lebensmittelversorgung ab zu den Vierteln, die in die Hände der Opposition | |
gefallen waren. | |
Als die Rebellen, angeführt von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir | |
al-Scham, am 7. Dezember 2024 Homs unter ihre Kontrolle brachten, war klar: | |
Das Regime Assads war gefallen. Seitdem herrschen vorwiegend sunnitische | |
Kräfte über die Stadt, so wie in ganz Syrien. Kämpfer der Hayat Tahrir | |
al-Scham (HTS), die nun auch die Regierung stellt, patrouillieren die | |
Straßen. Anwesend sind in Homs wohl auch andere Milizen, die nach der neuen | |
Regierung in eine einzige staatliche Armee übergehen sollen. | |
## Ungeklärte Morde in Homs | |
Assad gehörte der Minderheit der Alawit*innen an, so wie viele in seiner | |
Armee und Verwaltung. Viele von ihnen haben Angst. Ein älteres Video, das | |
Milizionäre vor einem brennenden alawitischen Schrein in Aleppo zeigte, | |
löste am Weihnachtstag Proteste aus. In Homs brach Gewalt aus, | |
Sicherheitskräfte schossen, ein Demonstrant starb. Syriens | |
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa betont stets, Racheakte und religiöse | |
oder ethnische Konflikte unterbinden zu wollen. | |
Doch eine Reihe von ungeklärten Tötungen sorgt nicht nur in Homs für Angst. | |
„Zwei Menschen exekutiert in Homs und Latakia“, „Zivilist getötet von | |
unidentifizierten Bewaffneten in Homs“, titelte binnen drei Tagen die | |
Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. | |
I., der gerade in seinem kargen Wohnzimmer sitzt, zeigt ein Video auf | |
seinem Smartphone. Darauf ist eine Frau zu hören, die verzweifelt nach | |
ihrem Sohn ruft, ein Auto und ein Motorrad rasen durch eine dunkle Straße. | |
„In dem Post steht, dass Kämpfer ihren Sohn aus der Wohnung geholt haben, | |
hier in der Nähe“, erklärt I. Ob das stimmt, kann nicht unabhängig | |
überprüft werden. Seit Wochen finden Razzien und Festnahmen in | |
verschiedenen Städten statt. Laut der [3][HTS-Regierung] gelten sie | |
Mitgliedern des ehemaligen Regimes. Doch manche beklagen das Vorgehen: Sie | |
ähnelten eher dem gewaltsamen Verschwindenlassen aus einer vergangenen Ära. | |
Tagsüber ist das alawitische Viertel in Homs ein anderes: Autos und | |
Menschen sind unterwegs, Kinder spielen in den Straßen, ein Mann verkauft | |
Zitronen und Orangen. Doch die Sorgen der Alawit*innen verblassen nicht | |
bei Tageslicht. So erzählt ein junger Mann, sein Cousin sei am 2. Januar | |
während einer Razzia festgenommen worden. | |
„Es gab keinen Haft- oder Durchsuchungsbefehl. Sie brachten uns alle nach | |
draußen, dann ließen sie uns wieder in die Häuser, behielten aber einige | |
Männer dort. Sie befahlen uns, nicht aus dem Fenster zu schauen und nicht | |
zu filmen“, erzählt er. Doch er habe unauffällig aus dem Fenster geschaut. | |
So sah er, wie die Sicherheitskräfte die Männer demütigten und schlugen. | |
Drei verschiedene Männer bestätigen das Geschehen. „Dann haben sie sie | |
hinter die Ecke gestoßen – und wir haben sie nicht mehr gesehen. Sie sind | |
verschwunden“, erzählt er. Die Soldaten sollen sie abtransportiert haben: | |
50, 60 Menschen insgesamt. | |
## Bangen um Zukunft in Freiheit | |
Das war das letzte Mal, dass er seinen Cousin sah. Jemand habe ihnen | |
gesagt, er sei im Gefängnis. Persönlich nachzufragen, dafür hat er zu viel | |
Angst. Der Cousin war Soldat unter Assad. Ob er etwas Schlechtes getan | |
habe, weiß er nicht. Doch darum gehe es ihm nicht, eher um die Modalitäten, | |
um die Behandlung. Selbst Soldat, fürchtet er nun um seine Freiheit. Angst | |
hat er jedes Mal, wenn jemand an der Tür klopft. „Möge Gott dir vergeben“, | |
habe ein Kämpfer geantwortet, als er ihn mit der üblichen Formel „Möge Gott | |
euch zum Sieg verhelfen“ gegrüßt hat. Ob er ein Soldat von HTS oder einer | |
Miliz war, weiß er nicht, so wie bei der Hausdurchsuchung: „Sie sind | |
vermummt, tragen weder Uniform noch Namensschild.“ | |
Jüngst hatte die neue HTS-Verwaltung die erste Kohorte Festgenommener | |
wieder freigelassen. Weil nach einer ersten Untersuchung klar geworden war, | |
dass sie keine Gefahr für die neue Regierung darstellten, so die | |
Begründung. 360 waren es, in grünen Bussen. | |
Auf einen dieser grünen Busse wartet die 56-jährige Safiya, die in Wahrheit | |
anders heißt, jeden Tag. „Sie holten meinen Bruder um 9 Uhr morgens aus | |
seinem Haus. Als er die Tür aufmachte, schrien sie ‚Komm, komm‘, zogen sein | |
Shirt über sein Gesicht und schlugen ihn. Dann verließen sie die Wohnung | |
und schubsten meinen Bruder in ein Auto“, erzählt sie. | |
Man habe ihr gesagt, er sei im Gefängnis und müsse verhört werden. „Jetzt | |
warte ich nur noch auf den Bus“, sagt sie und nimmt einen Zug aus ihrer | |
Zigarette [soll dieses Detail den Text lebendiger machen?, [4][d. säzz.]]. | |
Am Tag darauf verbreitet sich eine andere Meldung: Alawit*innen seien im | |
Viertel Al-Qadam in Damaskus aus ihren Häusern vertrieben worden. In dem | |
vom Krieg gezeichneten Viertel im südlichen Damaskus neben dem alten | |
Bahnhof laden gerade bärtige Kämpfer von Hayat Tahrir al-Scham in | |
Plastikfolie eingewickelte Möbelstücke, Bettdecken und Matratzen auf die | |
offene Tragfläche eines Lastwagens. | |
„Wir haben nicht [5][Alawit*innen aus ihren Häusern vertrieben], anders | |
als manche behaupten“, sagt Yahya Saqqal, HTS-Offizier, der gerade die | |
Räumung überwacht. „Wir haben nach dem Fall Assads an jeder Tür geklopft | |
und gefragt, wer hier wohnt, ob sie die Eigentümer waren und dies durch | |
Dokumente beweisen konnten.“ In dem Fall des Hauses nebenan habe eine | |
Familie die leer stehende Wohnung nach Beginn des Kriegs besetzt. | |
Während des Konflikts kam es in Syrien immer wieder vor, dass | |
Binnenvertriebene in verlassene Gebäude einzogen. Saqqal – gepflegter | |
schwarzer Bart, um den Kopf gefaltetes, schwarzes Tuch und ein Mantel aus | |
brauner Wolle – gibt zu: Es habe doch einige Fälle gegeben, in denen | |
Milizen, die nicht zu HTS gehörten, Menschen aus ihren Häusern vertrieben | |
haben. HTS versuche, dagegen vorzugehen. „Denn dazu haben sie kein Recht“, | |
sagt er. „Wir akzeptieren so etwas nicht.“ | |
## Sorge vor Selbstjustiz | |
Alawitische Generäle hätten ebenfalls ihre Häuser verlassen müssen. Das | |
findet er ebenfalls nicht richtig, denn zuerst sollte die Schuld | |
festgestellt werden. Nicht alle, die unter dem alten Regime in höheren | |
Rängen des Militärs arbeiteten, seien per se schuldig. Andererseits könnte | |
so verhindert werden, dass es zu Selbstjustiz unter Nachbarn komme, sagt | |
er. | |
Unter den Familien, die ihre Häuser verlassen mussten, findet sich auch in | |
den nächsten Tagen keine, die bereit wäre, mit der Presse zu reden. In der | |
Zwischenzeit protestieren in Damaskus immer wieder Familien gegen die | |
Festnahmen ihrer Angehörigen, verlangen ihre Freilassung. Und [6][in Homs, | |
eine Stadt der Kontraste, die „Hauptstadt der Revolution“], sitzen und | |
warten immer noch Menschen wie Ali und Safiya. Auf faire Verfahren für ihre | |
Angehörigen. Oder den grünen Bus in die Freiheit. | |
20 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-dem-Sturz-von-Assad/!6059730 | |
[2] /Neue-Regierung-in-Syrien/!6067038 | |
[3] /Die-HTS-in-Syrien/!6049870 | |
[4] /Nachruf-auf-taz-Setzer-Georg-Schmitz/!6067175 | |
[5] /Lage-der-Alawiten-in-Syrien/!6059466 | |
[6] /Doku-Homs-und-ich-bei-3sat/!5845399 | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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Annalena Baerbock | |
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sein. |