# taz.de -- Wenn das Kind ins Ausland entführt wird: Nicht ohne meinen Vater | |
> Nikola H. war acht, als ihre amerikanische Mutter mit ihr in die USA zog | |
> – gegen den Willen des Vaters. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. | |
Bild: Scheinbar heile Welt: Nikola H. am Schlachtensee in Berlin | |
Die Joggingstrecke führt Nikola H. zweimal die Woche an den Ort, an dem es | |
passiert ist. Sie läuft durch ruhige Straßen mit Kopfsteinpflaster, vorbei | |
an Villen mit Gärten, in denen unter alten Bäumen Schaukeln hängen, vorbei | |
an Zahnarztpraxen und Steuerberatungsbüros. Nach einiger Zeit glitzert | |
hinter Bäumen der Berliner Schlachtensee in der Wintersonne. | |
Sonntagsspaziergänger trotten gemächlich durch das Laub, Eltern mit Buggys | |
und Hunden, Kinder in Schneeanzügen. Alles hier schreit heile Welt, für | |
Nikola H. aber war die behütete Kindheit mit einem Schlag vorbei. | |
Nikola H. wurde als Achtjährige in die USA entführt – nicht von einem | |
Fremden, sondern von ihrer Mutter. Heute ist sie 51 Jahre alt. Ihr voller | |
Name ist der taz bekannt, wurde aber auf ihren Wunsch abgekürzt, um die | |
Identität ihrer Familie zu schützen. „Berlin ist ein Dorf“, sagt Nikola H. | |
Fast ihr ganzes Leben hat sie hier verbracht. Als sie geboren wurde, war | |
die Stadt noch in Ost und West geteilt. Nach ihrer Entführung ist sie | |
hierher zurückkehrt. | |
Die Entführung ist schon mehr als 40 Jahre her, es war die Nacht vom 11. | |
auf den 12. Juli 1981. Nikola H.s Erinnerungen daran sind schwammig, | |
lückenhaft. Nach vielen Jahren der Therapie hat sie endlich die Worte, um | |
darüber zu sprechen. Und doch kann sie nicht alles beantworten: Manches hat | |
sie vergessen, anderes verdrängt, zu traumatisch waren die Erfahrungen. | |
Doch ein paar Momente haben sich für immer eingebrannt. | |
Am Abend des 11. Juli fährt die Mutter mit Nikola H. und ihrem großen | |
Bruder zu einer Freundin an den Schlachtensee, um dort zu übernachten, wie | |
so oft. Doch diesmal ist alles anders: | |
Ich erinnere mich, dass meine Mutter uns mitten in der Nacht geweckt hat. | |
Dass sie gesagt hat: „Wir gehen jetzt.“ Ich erinnere mich, dass wir hinten | |
aus dem Haus geschlichen sind, im Stockdunkeln, durch den Garten hinunter | |
zum See. Ich erinnere mich, dass ich gefragt habe: „Warum können wir denn | |
nicht vorne raus?“ Und dass meine Mutter geantwortet hat: „Da wartet die | |
Polizei.“ Ich erinnere mich an die Angst. | |
Zuvor gab es einen Sorgerechtsstreit: Nikola H.s Mutter, eine | |
US-Amerikanerin, hat zu diesem Zeitpunkt das alleinige Sorgerecht. Sie | |
beschließt, gemeinsam mit ihrem neuen Mann, einem US-Offizier, und den | |
beiden Kindern in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Nikola H.s | |
deutscher Vater, der im selben Haus nur einen Stock über den Kindern lebt | |
und sie bis dato jederzeit sehen darf, zieht vor Gericht, um seinerseits | |
das alleinige Sorgerecht zu erstreiten. Einen Tag bevor das Urteil zu | |
seinen Gunsten gefällt wird, ist die Mutter mit den Kindern schon auf dem | |
Weg in die USA. | |
Wenn ein Kind gegen den Willen eines mitsorgeberechtigten Elternteils ins | |
Ausland gebracht wird, spricht man von einer grenzüberschreitenden | |
Kindesentziehung. Besonders häufig passiert das nach der Trennung in | |
binationalen Beziehungen, also wenn – wie etwa in Nikola H.s Fall – die | |
Mutter nach der Trennung mit den Kindern in ihr Heimatland zieht, ohne dass | |
der Vater seine Zustimmung gegeben hat. | |
Wie viele Kinder jedes Jahr von einem Elternteil ins Ausland entführt | |
werden, ist unklar. Anhaltspunkte liefern jedoch die Fallzahlen nach dem | |
[1][Haager Kindesentführungsübereinkommen] (HKÜ), die jedes Jahr durch das | |
Bundesamt für Justiz veröffentlicht werden. Im Jahr 2023 wurden demnach 236 | |
Kinder aus Deutschland ins Ausland entführt, die Dunkelziffer dürfte höher | |
liegen. Denn es werden nur Entführungsfälle der etwa 100 Staaten erfasst, | |
die dem Abkommen beigetreten sind. Viele arabische, afrikanische und | |
asiatische Staaten gehören dem Abkommen nicht an, Entführungsfälle aus | |
diesen Ländern werden also nicht mitgezählt. | |
Entziehender Elternteil sind überwiegend die Mütter. Das bestätigt auch die | |
Leiterin des [2][Internationalen Sozialdienstes (ISD)], Ursula Rölke. Beim | |
ISD ist die Zentrale Anlaufstelle für grenzüberschreitende | |
Kindschaftskonflikte und Mediation angesiedelt, eine der ersten | |
Anlaufstellen für Betroffene. Nach dem Zerbrechen ihrer Beziehung halte | |
junge Mütter ohne eigenes familiäres und soziales Umfeld häufig wenig im | |
Land, erklärt Rölke. „Auch das Flüchten vor häuslicher Gewalt wird nicht | |
selten als Grund angeführt.“ Um sich und ihre Kinder zu schützen, zögen sie | |
ins Ausland – ungeachtet der Sorgerechtsregelung. Doch natürlich gibt es | |
auch Väter, die ihre Kinder ohne Einverständnis der Mutter ins Ausland | |
bringen: Gerade wurde ein Vater verurteilt, der seine Kinder aus Karlsruhe | |
in den Libanon entführt hatte. | |
Zuletzt gingen zwei Fälle mutmaßlicher Kindesentziehungen durch die Presse: | |
der Sorgerechtsstreit zwischen Blockhouse-Erbin Christina Block und ihrem | |
dänischen Ehemann, der in einer Entführung der Kinder in der Silvesternacht | |
2024 gipfelte. Und der neuseeländische Vater, der mit seinen drei Kindern | |
für Jahre im Busch untertauchte. Nicht immer bekommen die Fälle so viel | |
mediale Aufmerksamkeit. Die meisten passieren im Stillen, lassen | |
verzweifelte Eltern und traumatisierte Kinder zurück. | |
Wie fühlt es sich an, wenn man als Kind aus seinem vertrauten Umfeld | |
gerissen wird? Was ist das für ein Moment, in dem man versteht, dass es | |
wohl keine Rückkehr nach Deutschland geben wird? Dass man den | |
zurückgelassenen Elternteil vielleicht niemals wiedersieht? | |
Der Tag von Nikola H.s Entführung war ein warmer Sommertag, heute ist es | |
frostig. Den Großteil des Wegs war Nikola H. sehr gesprächig, 100 Meter vor | |
dem Haus, aus dem sie entführt wurde, wird sie plötzlich wortkarg. Sie | |
bleibt stehen, vergräbt die Hände in den Taschen und nickt in Richtung | |
einer weißen Villa oberhalb des Sees. Am Rand des Grundstücks führt eine | |
schmale Treppe hinunter zum Wasser. | |
Ich erinnere mich, dass wir in ein hölzernes Boot gestiegen und über den | |
See gerudert sind. Ich erinnere mich an ein Auto, das auf der anderen Seite | |
wartete. An eine offene Beifahrertür, an eine Fahrerin. Dass mein Bruder | |
und ich uns hinten auf den Fußboden legen mussten. Vor dem Fenster zog | |
Berlin vorbei: Die Avus, das Huhn vom Wienerwald – den Weg kannte ich. Wir | |
fuhren zum Flughafen Tegel. | |
Und dann? Stiegen sie direkt in ein Flugzeug oder harrten sie die Nacht am | |
Flughafen aus? Hatten sie Gepäck dabei? Nikola H. weiß es nicht. Sie | |
erinnert sich erst wieder an den folgenden Tag. Es ist der 13. Juni 1981, | |
Flughafen Stockholm: | |
Ich erinnere mich, dass meine Mutter und mein Stiefvater im Flieger vor mir | |
und meinem Bruder saßen und dass ich zwischen die Sitze fragte: „Wo fliegen | |
wir hin?“ Und dass meine Mutter antwortete: „Na, wir ziehen in die USA.“ | |
Ich erinnere mich an den Schreck, die Ungläubigkeit und die Tränen, als ich | |
sagte: „Aber ich konnte mich doch gar nicht von meinem Vater | |
verabschieden.“ Und wie mein Stiefvater antwortete – in einer Stimmlage, | |
die ich von ihm noch nie gehört hatte: „Du wirst deinen Vater nie | |
wiedersehen.“ | |
Eine Woche vor dem Spaziergang um den Schlachtensee hat Nikola H. zu sich | |
nach Hause eingeladen, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie lebt in einem | |
bürgerlichen Bezirk am Rand von Berlin. Haus und Garten teilt sie mit ihren | |
vier Kindern und einer grauen Katze. Von Ersteren sind nur die Schritte aus | |
dem oberen Stockwerk zu hören, Letztere fordert maunzend | |
Streicheleinheiten. Nikola H. sitzt an einem kleinen Holztisch am | |
Küchenfenster. Draußen ist es bitterkalt, der Rosmarin vor dem Fenster ist | |
von Frost überzogen. Drinnen riecht es nach Kaffee und Zimt, auf dem | |
Küchentresen steht ein Rest Pekannuss-Pie. | |
Vor Nikola H. liegen mehrere Fotoalben und ein dickes Buch. Ihr Vater hat | |
es ihr geschenkt, als sie ein Teenager war. Es enthält Dokumente, die davon | |
zeugen, was ihr passiert ist. Und wie es so weit kommen konnte. Scheidung, | |
Sorgerecht, Unterhalt. Anwaltsschreiben, Briefe, Gerichtsurteile. Vorne im | |
Buch steht eine Widmung: „Wenn man Erinnerungen und Wissen erwirbt, kann | |
man die Vergangenheit vielleicht bewältigen.“ | |
Die Geschichte von Nikola H.s Entführung klingt bisweilen wie ein | |
schlechter Film. Eine Villa, ein Boot, eine offene Beifahrertür? Manchmal | |
kann sie selbst nicht glauben, was damals passiert ist. Dann fängt sie an | |
zu zweifeln. Schließlich war sie damals erst acht Jahre alt und die | |
Entführung liegt lange zurück. Vielleicht erinnert sie sich falsch? | |
Nikola H.s Mutter bestätigt die wesentlichen Punkte in einem Telefonat mit | |
der taz. Sie ist heute 85 Jahre alt und lebt noch immer in den USA. „Ich | |
hatte damals riesige Angst, dass ich meine Kinder verlieren könnte“, sagt | |
sie. Deshalb habe sie mit Nikola H. und ihrem Bruder noch vor der | |
Urteilsverkündung das Land verlassen. In ihrer Version gibt es keine | |
Polizei, die vor dem Haus wartet, und auch keine Fahrt mit dem Ruderboot. | |
Aber das meiste stimmt überein: Sie habe die Kinder um drei Uhr nachts | |
geweckt, dann ging es mit dem Auto der Freundin zum Flughafen und von dort | |
in die USA. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob ich etwas Illegales | |
mache“, sagt sie. | |
Die Entziehung eines Kindes ins Ausland ist strafbar und kann laut Paragraf | |
235 des Strafgesetzbuches mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren | |
geahndet werden. In Nikola H.s Fall wurde nie ein Urteil gesprochen. Bei | |
Kindesentziehung handelt es sich um ein Antragsdelikt. Das heißt, die | |
Straftat wird nur verfolgt, wenn der Elternteil, dem das Kind entzogen | |
wurde, einen Antrag auf Strafverfolgung stellt. Das hat Nikola H.s Vater | |
nicht getan, der Fall ist längst verjährt. Doch in einem | |
Sorgerechtsbeschluss des Amtsgerichts Charlottenburg vom 2. Juli 1982, der | |
Nikola H. als beglaubigte Abschrift vorliegt, heißt es, der Fall sei den | |
„sog. Entführungsfällen gleichzustellen“. Das ergebe sich aus dem | |
„Verhalten der Mutter bei Abreise“. In einem Schreiben des zuständigen | |
Richters heißt es, die Kindesmutter habe sich vor der | |
Sorgerechtsentscheidung in die USA „abgesetzt, um dem möglichen negativen | |
Spruch des Gerichts zuvorzukommen“. | |
Teil des Sorgerechts ist auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Hat ein | |
Elternteil das alleinige Sorgerecht, kann er mit den Kindern umziehen, | |
wohin er möchte – von Nord- nach Süddeutschland oder auch ins Ausland. Für | |
Nikola H.s Fall heißt das, ihre Mutter, die am Tag der Entführung noch das | |
alleinige Sorgerecht hatte, durfte mit den Kindern das Land ohne die | |
Zustimmung des Vaters verlassen, hätte diese aber direkt nach dem | |
Urteilsspruch zurückbringen müssen. | |
Nikola H. blättert durch die Seiten der Gerichtsakte, mit großer Ruhe | |
erzählt sie von ihrem Leben. Das sei nicht immer so gewesen, sagt sie. | |
Nikola H. war wütend, hat geweint und sich gefragt: Warum ich? Seit vielen | |
Jahren versucht sie zu verstehen, wie es zu der Entführung kommen konnte. | |
Die Akten helfen ihr dabei. | |
1978 lassen sich Nikola H.s Eltern scheiden. Die beiden einigen sich | |
darauf, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht erhält, der Vater ein | |
großzügiges Umgangsrecht. So weit, so normal: Bis 1982 gab es kein | |
geteiltes Sorgerecht; noch heute bekommen Mütter nach einer Scheidung | |
häufiger das alleinige Sorgerecht zugesprochen als Väter. Doch in den | |
Scheidungsunterlagen findet sich ein Zusatz. Dort steht: Die Kinder sollen | |
in Deutschland, möglichst in Westberlin bleiben. Sollte sich die Mutter | |
entscheiden, mit den Kindern in die USA zu ziehen, soll das Sorgerecht neu | |
verhandelt werden. Bindend ist das nicht, zeugt aber davon, dass Nikola H.s | |
Vater schon damals Sorge hatte, seine Ex-Frau könnte mit den Kindern das | |
Land verlassen. | |
Davon merken die Kinder nichts. Ihre Eltern ziehen aus der gemeinsamen | |
Wohnung in ein Wohnprojekt, ihr Vater in den zweiten Stock, Nikola H.s | |
Mutter und die Kinder in die Wohnung darunter. „Das waren alles Hippies“, | |
sagt Nikola H. Fotos aus der Zeit zeigen Menschen mit langen Haaren, | |
Sommerkleider, Gartenfeste. Nikola H. mit einem Stoffhund vom Rummel, die | |
Bretterbude von ihrem Bruder. Die Türen im Haus stehen immer offen, die | |
Kinder können selbst entscheiden, bei wem sie essen oder übernachten | |
wollen. „Das war eigentlich ein Traum.“ | |
Nikola H.s Mutter beschreibt die Situation etwas anders. Ihr Ex-Mann habe | |
sich wenig um die beiden Kinder gekümmert. Er habe sie nicht gewickelt, | |
nicht gebadet, nie gekocht. Außerdem störte sie die antiautoritäre | |
Erziehung ihres Ex-Mannes. „Bei ihm gab es keine Regeln“, sagt sie. | |
1979 lernt Nikola H.s Mutter einen neuen Mann kennen, er zieht schnell bei | |
ihnen ein. Der neue Mann ist charmant und interessiert an den Kindern. Und | |
ganz anders als der Vater: „Er war im Militär, Major in der US-Luftwaffe, | |
Pilot von Kampfflugzeugen im Vietnamkrieg. Also ganz anders drauf, | |
autoritär und diszipliniert“, sagt Nikola H. Nach seinem Einzug habe die | |
Mutter beschlossen, dass die Kinder den Vater nur noch jedes zweite | |
Wochenende besuchen dürfen – statt wie bisher jederzeit. | |
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem sie die Regel eingeführt | |
hat. Es war geplant, dass ich bei meinem Vater übernachte. Ich bin also | |
hoch zu ihm, meine Mutter hinterher. Sie haben sich heftig gestritten. Ich | |
erinnere mich, dass beide an mir gezogen haben. Dass mein Vater schließlich | |
losließ. Und dass meine Mutter mich aus der Wohnung zog. Danach durfte ich | |
nicht mehr hoch. Ich habe oft in meinem Hochbett gelegen und mir | |
vorgestellt, wie ich ein Loch durch die Decke bohre, damit ich zu meinem | |
Vater kann. | |
An diese Situation erinnert sich Nikola H.s Mutter nicht, sie bestreitet | |
den Vorfall aber auch nicht. „Wenn Nikola das heute noch erinnert, muss es | |
eine traumatische Situation gewesen sein“, sagt sie. | |
1980 heiratet Nikola H.s Mutter den US-Soldaten. Kurze Zeit später bekommt | |
er die Nachricht, dass er in die USA versetzt wird; der Flug soll am 15. | |
Juli 1981 gehen. Die Mutter kündigt an, ihn mitsamt den Kindern zu | |
begleiten. Nikola H.s Vater beantragt das alleinige Sorgerecht, um ihren | |
Fortgang zu verhindern. | |
Wenn sich die Eltern nicht einigen können, bei wem die Kinder aufwachsen | |
sollen, wird vom Gericht ein Gutachten in Auftrag gegeben. Die Psychologin | |
Vicky Witt hat schon etliche davon erstellt. Sie weiß, worauf die | |
Gutachterinnen und Gutachter schauen: „Wie ist die Beziehung zwischen | |
Eltern und Kind? Wie gehen die Eltern mit Stress um, mit Konflikten? Sind | |
sie dem Kind emotional zugewandt? Wie ist die Beziehung zu Geschwistern? | |
Welchen Entwicklungsbedarf hat das Kind?“ Im Fokus stehen demnach Faktoren | |
wie Stabilität, Sicherheit und der Wille des Kindes. Entscheidend ist auch | |
Kontinuität: „Es wird versucht, das Kind nicht aus seiner bisherigen | |
Lebenssituation herauszureißen“, sagt Witt. | |
Auch im Fall von Nikola H. und ihrem Bruder stützt sich das Amtsgericht | |
Charlottenburg in seinem Sorgerechtsbeschluss auf ein solches Gutachten. | |
Darin heißt es, Nikola H. wolle in Berlin bei ihrem Vater bleiben, ihr | |
großer Bruder habe zugestimmt, ein Jahr auf Probe in die USA zu gehen. Doch | |
in beiden Fällen raten die Gutachter von einem Umzug ab. Nikola H. sei | |
emotional instabil, auch ihr Bruder zeige Verhaltensauffälligkeiten. | |
Angesichts dieser Befunde sei von einer Veränderung des sozialen Umfeldes | |
derzeit abzuraten, die Migration stelle eine zusätzliche Belastung dar. | |
Am 13. Juli 1981 wird die Entscheidung verkündet: Das Gericht spricht dem | |
Vater das Sorgerecht für ein Jahr zu, danach soll neu entschieden werden. | |
Doch bei der Urteilsverkündung sind Nikola H., ihr Bruder, ihre Mutter und | |
ihr Stiefvater schon in den USA. Die Ausreisesperre, die für den Tag nach | |
der Urteilsversprechung verhängt wird, kann die Entführung nicht mehr | |
verhindern. | |
Heute wäre Nikola H.s Entführung ein Fall für das Haager | |
Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ), doch die USA traten dem Abkommen erst | |
1988 bei, Deutschland erst 1990. Ziel des Abkommens ist die | |
schnellstmögliche Rückführung des entführten Kindes. | |
„Die Grundidee des HKÜ ist, dass nicht über die Sache selbst, also den | |
Sorgerechtsstreit, entschieden wird, sondern dass das Kind zunächst dahin | |
zurückgeführt wird, wo es seinen Lebensmittelpunkt hatte. Bei wem das Kind | |
auf Dauer lebt, müssen dann die deutschen Gerichte entscheiden“, erklärt | |
die Leiterin des Internationalen Sozialdienstes, Ursula Rölke. „Das ist der | |
richtige Ansatz. Ansonsten würde es noch länger dauern.“ In der Regel | |
dauere es selbst mit HKÜ zwischen drei Monaten und drei Jahren, bis die | |
Kinder zurück in Deutschland seien. | |
Das Abkommen erleichtert das Verfahren für viele Eltern deutlich, denn | |
statt sich selbst einen Anwalt nehmen zu müssen, kümmern sich die Behörden | |
der jeweiligen Länder um die Rückführung. In Deutschland ist das Bundesamt | |
für Justiz zuständig. | |
Nikola H.s Vater ist damals auf sich allein gestellt, er nimmt sich einen | |
Anwalt und macht sich auf die Suche nach den Kindern. Acht Wochen lang weiß | |
der Vater nicht, wo sie sind. In Briefen an seinen Anwalt, die die taz | |
einsehen konnte, bittet er mehrfach um Herausgabe der neuen Adresse. Später | |
erzählt er Nikola H. – so erinnert sie es heute –, er habe in seiner | |
Verzweiflung alle Luftwaffenstützpunkte in den USA abtelefoniert, bis er | |
denjenigen fand, an dem ihr Stiefvater stationiert war. | |
Bis sich Vater und Tochter wiedersehen, dauert es sieben Monate. „Meine | |
Welt war, dass unser Vater gar nicht wusste, wo wir sind“, sagt sie. Doch | |
in der Zwischenzeit hatten ihre Eltern Kontakt. Das zeigen die Schreiben in | |
dem Buch, das ihr Vater ihr geschenkt hat: handschriftliche Briefe, auf der | |
Schreibmaschine getippte Dokumente der Anwälte – datiert im Takt von zwei | |
bis drei Wochen. Verweise auf Telefonate, die stattgefunden haben müssen. | |
„Meine Mutter hat mir davon nichts erzählt“, sagt Nikola H. | |
Diese Form der Abschottung sei klassisch für Entführungsfälle, sagt Rölke. | |
Der entführende Elternteil wisse meist genau, dass er das Kind nicht | |
einfach ins Ausland bringen darf – und habe Angst, der andere könnte es | |
sich auf gleichem Wege zurückholen. „Der Effekt ist: Ich schotte mich ab, | |
ich schotte die Kinder ab, damit er sie mir nicht wegnehmen kann“, sagt | |
Rölke. | |
Für Nikola H. ist die Situation damals schwer zu fassen. Sie habe ihren | |
Vater vermisst, gleichzeitig habe ihre Mutter wahnsinnig schlecht über ihn | |
geredet. „Sie hat immer behauptet, dass unser Vater uns ihr wegnehmen | |
wollte. Dass er die Gutachter manipuliert hat. Und den Richter.“ Irgendwann | |
übernimmt sie die Version ihrer Mutter. „Ich glaube, das ist ein | |
Schutzmechanismus: Wenn zu viel kaputt ist, braucht man irgendetwas, das | |
heil ist“, sagt Nikola H. Deshalb habe sie die Welt in Gut und Böse | |
geteilt. Mutter gut, Vater böse. | |
So ein Verhalten sei typisch für Kinder in dieser Situation, sagt | |
Psychologin Witt. Die Kinder kämen in einen extremen Loyalitätskonflikt. | |
„Beide Seiten reißen an dem Kind, irgendwann hält es den Konflikt nicht | |
mehr aus – und entscheidet sich für eine Seite.“ Oft komme es zu einer | |
Allianzbildung mit einem Elternteil. „Erst wenn das Kind älter wird, kann | |
es sich aus der Abhängigkeit von dem entführenden Elternteil lösen“, sagt | |
Witt. Manche nehmen dann wieder Kontakt zum anderen Elternteil auf, wollen | |
verstehen, was wirklich passiert ist. | |
Als ihr Vater Nikola H. das Buch mit den Briefen und Gerichtsunterlagen | |
schenkt, versteht sie, dass nicht alles, was ihre Mutter in den USA erzählt | |
hat, stimmte. Etliche Stellen in dem Buch sind markiert. Daneben | |
Ausrufezeichen, Fragezeichen, Kommentare wie: „What lies!? You lied so | |
bad!“ und „haha, bitch“. Worte eines wütenden und enttäuschten Kindes. | |
Doch auch an der Version ihres Vaters hat sie Zweifel. Er habe bei den | |
Dokumenten für das Buch natürlich eine Auswahl getroffen. Dennoch lässt | |
sich auf ihrer Grundlage erahnen, was in diesen sieben Monaten, in denen | |
Nikola H. keinen Kontakt zu ihrem Vater hatte, passiert ist: Nikola H.s | |
Mutter zweifelt das Urteil des Berliner Gerichts an, sie lässt ein | |
Gegengutachten in den USA erstellen. Dem Vater teilt sie mit, er könne | |
seine Kinder erst sehen, wenn er auf das Sorgerecht verzichte. Darauf lässt | |
sich der Vater nicht ein. Es geht hin und her und hin und her. Es wird | |
appelliert, gefordert, gedroht. | |
Im Februar 1982 sehen Nikola H. und ihr Bruder den Vater zum ersten Mal | |
wieder. Fotos zeigen sie am Strand in Boston. Der Vater hat den Arm um | |
Nikola H.s Schultern gelegt. Ihr ist die Mütze tief ins Gesicht gerutscht, | |
darunter grinst sie schief. Der Vater ist ihr fremd geworden, sieben Monate | |
sind eine lange Zeit für eine Achtjährige. Sieben Monate hat sie seine | |
Stimme nicht gehört, hat sie nicht mit ihm über die neue Schule geredet, | |
ihre neuen Freunde, ihr neues Leben in Syracuse, New York. Sieben Monate | |
hat er verpasst. Sieben Monate, in denen sich Nikola H.s Welt komplett | |
verändert hat. | |
Ihre Mutter und ihr Stiefvater haben in der Zwischenzeit einen alten | |
Bauernhof gekauft. Ein paar Hektar Land, Kühe, Hühner, Fasane, Wald, | |
Wiesen, ein riesiger Gemüsegarten. Ihrem Stiefvater habe die Vorstellung | |
gefallen, autark zu leben – ohne Strom, ohne fließend Wasser, als | |
Selbstversorger, sagt Nikola H. Da er den ganzen Tag auf dem | |
Militärstützpunkt war, mussten Nikola H.s Mutter und die Kinder ran. Tiere | |
füttern, Holz hacken, Mähen. | |
Wir haben gelebt wie die Amish. An den Wänden hingen Petroleumlampen, und | |
wir haben mit Holz geheizt, das wir selbst gefällt hatten. Wenn ich baden | |
wollte, musste ich das Wasser auf dem Ofen erhitzen und nach oben zur Wanne | |
tragen. Im Winter war es in den Schlafzimmern so kalt, dass man den Atem | |
sehen konnte. | |
Vor Nikola H.s Familie hat ein altes Ehepaar auf dem Hof gelebt; als der | |
Mann verstarb, verkaufte sie ihn. Auf Fotos sieht es aus, als habe sich | |
seitdem nichts verändert. Auch ein Familienbild ist darunter. Aufgereiht | |
sitzen sie auf dem taubenblauen Sofa. In der Mitte der Stiefvater in | |
Uniform und die Mutter mit Fönfrisur und weißer Bluse, er die Hand auf | |
ihrem Bein, links Nikola H., rechts ihr Bruder. Steif und aufrecht sitzen | |
sie vor der Blümchentapete. Das Lächeln wirkt angestrengt. | |
Uns ging es grottenschlecht auf dem Bauernhof. Mein Stiefvater war | |
unheimlich streng, es gab viele Regeln. Wir durften zum Beispiel zu Hause | |
kein Deutsch mehr sprechen. Wenn wir es trotzdem taten, wurde er wütend. Am | |
schlimmsten war es, wenn er betrunken war. Dann hat er geschrien und mit | |
Weingläsern geworfen. Ich habe immer versucht, meine Mutter zu beschützen. | |
Mich hat keiner beschützt. | |
Warum hat sie damals nicht ihren Vater angerufen und ihm alles erzählt? Sie | |
und ihr Bruder hätten sich nie getraut, mit jemandem darüber zu sprechen, | |
was bei ihnen zu Hause los ist, sagt Nikola H. Zu groß war die Sorge vor | |
der Enttäuschung der Mutter und der Wut des Stiefvaters, zu klein die | |
Hoffnung, dass ein Gericht ihnen helfen würde. | |
Als Erwachsene verstehe ich, warum wir uns so hilflos gefühlt haben. Wir | |
waren damals sehr involviert in den Gerichtsprozess. Und wir wussten sehr | |
genau, dass es darum geht, welches Elternteil das Sorgerecht bekommt und ob | |
wir in die USA gehen oder nicht. Bevor es zur Entscheidung kam, wurden wir | |
entführt. Das kreiert das Gefühl, dass dir niemand helfen kann. Durch ihr | |
Verhalten hat uns unsere Mutter gelehrt: Das Gesetz kann dir nicht helfen, | |
das Gericht nicht und das Jugendamt nicht. Ich entscheide, was dir | |
passiert. Ich bin die höchste Gewalt. | |
Am 2. Juli 1982 verliert Nikola H.s Vater den Sorgerechtsstreit. Im | |
Beschluss des Amtsgerichts Charlottenburg heißt es: „Dem Antrag des Vaters, | |
ihm die elterliche Sorge zu übertragen, kann trotz der gutachterlichen | |
Empfehlung nicht entsprochen werden, da zwischenzeitlich die Kinder ihren | |
tatsächlichen Lebensbereich bereits gewechselt haben und sie sich in eine | |
neue Umgebung einzuleben hatten.“ Da in dem Gutachten der Wechsel des | |
sozialen Umfelds als Belastung bezeichnet worden sei, könne ein erneuter, | |
durch Gerichtsbeschluss erzwungener Wechsel ebenfalls nicht zum Wohle der | |
Kinder sein. | |
Mit dem Urteil wird die Mutter für die Entführung belohnt, so scheint es. | |
Doch das ist nicht der Punkt. „Im Familienrecht geht es nicht darum, einen | |
Elternteil zu bestrafen, sondern es geht immer um das Wohl des Kindes“, | |
erklärt Psychologin Witt. Sorgerechtsverfahren dauern demnach oft so lange, | |
dass die Kinder in dem neuen Land sesshaft werden, Freunde finden. „Da ist | |
es in der Regel nicht im Sinne des Kindes, es wieder aus seinem gewohnten | |
Umfeld zu reißen.“ | |
Das deutsche Gericht scheint zudem keine Kenntnis über die Zustände auf dem | |
Bauernhof zu haben. Es bezieht sich in seinem Urteil lediglich auf das | |
Gutachten, was vor der Entführung in Deutschland erstellt wurde. Darin | |
heißt es: „Der jetzige Ehemann der Mutter ist positiv beurteilt worden.“ | |
Das Gericht geht also davon aus, dass es den Kindern in den USA gut geht. | |
Je älter Nikola H. wird, desto mehr rebelliert sie gegen ihre | |
Lebenssituation. Im Sommer 1986 kommt es zum Eklat. Damals ist sie 13 Jahre | |
alt. | |
Ich musste mal wieder mähen. Abends kam mein Stiefvater zur Kontrolle. Ich | |
hatte eine Schutzkappe vom Rasenmäher verloren. Mein Stiefvater drückte mir | |
eine Taschenlampe in die Hand und sagte: „Geh suchen, du kommst nicht | |
wieder ins Haus, bevor du sie gefunden hast.“ Es war dunkel, die Suche war | |
natürlich völlig aussichtslos. Nach langer Zeit habe ich mich ins Haus | |
geschlichen und meinen Vater in Berlin angerufen. „Ich kann hier nicht mehr | |
wohnen“, habe ich gesagt. Und er hat geantwortet: „Du kannst bei mir | |
wohnen. Jederzeit.“ | |
Ihre Mutter lässt sie gehen. Warum jetzt? Nach all den Bemühungen, sie in | |
den USA festzuhalten, nach all den rechtlichen Streitigkeiten? Darüber kann | |
Nikola H. nur mutmaßen, Unterlagen dazu gibt es keine. „Wahrscheinlich war | |
sie einfach froh, mich endlich los zu sein“, sagt sie. In ihrer Stimme | |
klingt Bitterkeit. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der sich stillschweigend | |
in sein Schicksal gefügt habe, habe sie sich nicht an das neue Leben auf | |
dem Bauernhof gewöhnen und den Launen ihres Stiefvaters beugen wollen. „Ich | |
war immer das Problem“, sagt sie. Ihr Bruder, der zu diesem Zeitpunkt 17 | |
Jahre alt war, habe nach dem Motto „Ich bin hier eh bald raus“ gelebt, sagt | |
Nikola H. Sie selbst hätte noch sehr viel länger dort ausharren müssen. | |
Ihre Mutter sagt zur taz: „Wir hätten Nikola ohnehin nicht mehr festhalten | |
können.“ An eine Regelung kann auch sie sich nicht erinnern. Zu damaligen | |
Zeiten habe es am Flughafen keine Kontrollen gegeben. Nikola H. konnte die | |
USA problemlos verlassen. Ende des Sommers landet sie in Berlin. Ihr Bruder | |
bleibt in den USA. Auf die Erleichterung folgt schnell Ernüchterung. Nach | |
fünf Jahren in den USA ist ihr Deutschland fremd geworden, Berlin ist nicht | |
mehr ihr Zuhause. Es fällt ihr schwer, sich wieder einzuleben, in der | |
Schule kommt sie nicht mit, Deutsch muss sie neu lernen. Und was noch | |
schwerer wiegt: Bei ihrem Vater findet sie nicht das Zuhause, nach dem sie | |
sich so gesehnt hatte. | |
Vorher hatte meine Mutter zu mir gesagt: „Du willst bei dem leben? Das kann | |
der doch gar nicht. Der kann sich doch gar nicht um dich kümmern.“ Da ist | |
vielleicht auch ein Fünkchen Wahrheit dran. Ich habe es dann selbst erlebt. | |
Mein Vater hat eigentlich nur gearbeitet. Tagsüber war er im Büro, abends | |
kam er spät zurück. Gekocht hat er nie, es gab immer nur Käsebrot. Ich war | |
sehr einsam. | |
Fotos zeigen Nikola H. und ihren Vater vor dem Weihnachtsbaum. Blass und | |
ernst schaut sie in die Kamera. Es sei kein schönes Weihnachten gewesen, | |
sagt Nikola H. heute. Sie habe den Baum besorgt und geschmückt, Geschenke | |
daruntergelegt und versucht, ein festliches Essen zu kochen. | |
Mir fehlte meine Mutter, mir fehlte die Geborgenheit, die sie ausstrahlte. | |
Meine Mutter kann das, Kochen, Backen, Kuscheln, Weihnachten feiern, mein | |
Vater kann das nicht. Ich kann nachvollziehen, dass sie uns nicht | |
zurücklassen wollte. Doch was ich meiner Mutter auch heute noch vorwerfe: | |
Sie hätte mit uns in Deutschland bleiben müssen. | |
Nikola H. hat sich oft gefragt, was damals schiefgelaufen ist, was ihre | |
Eltern hätten besser machen müssen. Ihre Mutter habe sich damals für ihre | |
neue Beziehung entschieden und nicht darüber nachgedacht, was das für sie | |
und ihren Bruder bedeutet. Aus dem Zuhause gerissen zu werden, sich nicht | |
verabschieden zu können. Den Vater nicht mehr regelmäßig zu sehen. Sich | |
immer zwischen den Fronten zu fühlen. „Sie hätte mit uns in Deutschland | |
bleiben müssen“, sagt sie wieder – und noch einmal mit Nachdruck: „Sie | |
hätte bleiben müssen.“ | |
Für Kinder könne eine Entführung durch Mutter oder Vater „sehr, sehr | |
belastend und traumatisierend sein“, sagt Psychologin Witt. Das Vertrauen | |
in eine wichtige Bezugsperson werde erschüttert, dazu komme die Trennung | |
vom anderen Elternteil. Diese Verunsicherung könne auch später zu | |
Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen führen. Nikola H. sagt: „Das ist | |
eine Erfahrung, die ein Leben lang Angst macht, dass jedes aufgebaute | |
Vertrauen zu einem Missbrauch führen kann.“ | |
Sie lebt heute in derselben Straße wie damals. Nur wenige hundert Meter | |
entfernt ist das Haus, in dem sie bis zu ihrer Entführung mit ihrer Mutter | |
und ihrem Bruder wohnte. Ihr heute 86-jähriger Vater lebt noch immer dort, | |
in seiner Wohnung im zweiten Stock. | |
Warum ist sie zurückgekehrt? „Ich versuche, mir alles zurückzuholen, was | |
mir weggenommen wurde“, sagt sie. Deshalb umgibt sie sich mit Dingen aus | |
der Vergangenheit. Im Keller reiht sich Fotoalbum an Fotoalbum, sie hat | |
noch ihre Tagebücher aus Kinder- und Jugendtagen und eine Box voll mit | |
Erinnerungsstücken. In ihrem Treppenhaus eine Ahnengalerie: Fotos in | |
Schwarz-weiß hängen neben bunten, ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder, | |
Nikola H. und die vier Kinder. „Ich brauche das, um meine Familie | |
zusammenzuhalten.“ | |
Ihre Eltern reden nicht mehr miteinander, ihr Bruder will keinen Kontakt | |
zum Vater. | |
Und Nikola H.? Die versucht zu reparieren, was zerbrochen ist. | |
Mit ihrer Mutter macht sie seit ein paar Wochen eine Online-Therapie. Sie | |
habe verstanden, dass ihre Mutter sie nicht aus bösem Willen in die USA | |
gebracht hat, sondern weil sie eben dachte, dass es das Beste sei. Dass die | |
Entführung für alle traumatisch war – auch für ihre Mutter. Und dass sich | |
die Vergangenheit nicht mehr ändern lässt, aber die Zukunft. Sie entschied | |
sich, ihrer Mutter zu verzeihen – auch um ihrer selbst willen. „Ich wollte | |
nicht allein sein, ich wollte eine Familie haben“, sagt sie. | |
Nikola H. war zehn Jahre verheiratet, dann die Scheidung. Auch die | |
Beziehung danach ging in die Brüche. Ihre Kinder sollen nicht darunter | |
leiden, sondern ihre Väter sehen können, wann und wie oft sie wollen. Und | |
auch wenn Nikola H. schon das eine oder andere Mal darüber nachgedacht hat, | |
aus Berlin wegzuziehen, würde sie das nie ohne ihre Kinder tun – geschweige | |
denn sie dazu überreden, mit ihr zu gehen und ihre Väter zurückzulassen, | |
sagt sie. „Ich werde bleiben.“ | |
Und wie sie da sitzt, in ihrer Küche, in der es nach Kaffee und Zimt | |
riecht, die graue Katze zu ihren Füßen, im Treppenhaus die Schritte eines | |
ihrer vier Kinder, wird klar: Nikola H. versucht, ihnen das Zuhause zu | |
schaffen, das sie nie hatte. | |
5 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anna-Lena Schlitt | |
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