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# taz.de -- Nach den Bränden in Los Angeles: Verdrängung aus der Traumstadt
> Los Angeles ist nicht nur Glamour, sondern auch Mittelstand und Blue
> Collar. Die Brände könnten nun die Gentrifizierung weiter eskalieren.
Bild: Ein Vater zieht seinen Sohn vor verbrannten Ruinen entlang
Einige Tage, nachdem die Feuer durch Altadena gezogen waren, wurde es
öffentlich: auch [1][der legendäre Musikproduzent Madlib] ist von den
zerstörerischen Bränden in Los Angeles betroffen und mit ihm auch seine
extensive Plattensammlung. Sie legte den Grundstein für die Karriere des
Hiphop- und Jazzmusikers, der Samples aus obskuren Alben zu
vielschichtigen, überraschenden Kompositionen verband. Sein Schicksal teilt
Madlib mit vielen Menschen in Los Angeles und insbesondere mit seinen
Nachbarn im Wohngebiet Altadena, einer historisch afroamerikanischen Gegend
und einem beliebten Wohngebiet für Menschen aus kreativen Industrien, die
eben nicht zu den wenigen Spitzenverdienern in Musik, Film und Kunst
gehören.
Auch ein Madlib gehört nämlich, trotz weltweiten Bekanntheitsgrads, eben
zur Mittelschicht der Musikindustrie. Neben seiner schimmernden, glänzenden
Oberfläche ist Los Angeles nicht trotz, sondern genau wegen seines Nimbus
als eines der weltweiten Zentren für Kulturwirtschaft und Entertainment
eine Stadt, die von Arbeiterschaft und unterem Mittelstand dominiert wird.
„Los Angeles is a proud blue collar city“, heißt es in vielen Tributen an
die Stadt auf Social Media, Los Angeles sei eine stolze Arbeiterstadt, eine
Stadt der Migranten, eine Stadt der Träumer und Hustler.
16,5 Prozent der Einwohnerschaft leben unter der Armutsgrenze, das
durchschnittliche Haushaltseinkommen lag 2023 mit rund 80.000 Dollar mehr
als 16.000 Dollar unter dem Rest Kaliforniens. Bei den höheren
Lebenshaltungskosten in den USA und insbesondere der grassierenden
Wohnungsnot in der Los Angeles Metro Area bedeutet das für viele schon
unter normalen Umständen, am Monatsende nur noch wenig bis nichts auf dem
Konto zu haben. Wie es nach dieser außerordentlichen Naturkatastrophe
aussehen wird, ist noch gar nicht abzuschätzen.
Neben den wenigen Weltstars, die Millionengagen verlangen können, und
Produzentinnen, die Millionenbudgets verwalten, gibt es die
Hunderttausende, die für Lichttechnik zuständig sind, für Kostüme oder
Setdesign. Die Sessionmusiker, die Newcomer, die Schauspieler, die noch
auf ihren Durchbruch warten oder bei denen der Durchbruch schon eine Weile
her ist. Die Ausstellungsdesigner und Runner, die Maler und Bildhauer, die
nebenbei noch im Café oder als Nanny arbeiten oder Uber fahren, um in der
sich immer weiter verteuernden Stadt über die Runden zu kommen. Oder jene,
deren Einkommen für ein bequemes Leben reicht, aber eben nicht für mehr.
## Leben alles andere als glamourös
Selbst in dem nahezu vollständig abgebrannten Pacific Palisades und im
Surferparadies Malibu, die zwar durch Jahrzehnte von
Gentrifizierungstendenzen immer homogener geworden sind, leben noch
Familien, die unter den vagen Begriff der „Normalverdiener“ fallen. Der
Glamour der Stadt der Engel basiert auf der Arbeit von Millionen, deren
Leben alles andere als glamourös ist. Der Fokus auf all die sogenannten
Promis, die ihre Häuser haben brennen sehen, auf Bill Kaulitz’
Louis-Vuitton-Kofferset bei der Evakuierung, verdeckt den Blick auf [2][die
Herausforderungen, denen die Mehrheit der Stadt gegenüber steht].
Denn dieses Leben im Prekären zeichnet Los Angeles aus, mehr noch als
Louis-Vuitton-Koffer. Und zwar nicht nur finanziell, sondern auch ideell.
Es braucht eine besondere Form der Risikobereitschaft oder auch
Realitätsverweigerung, um das Leben in der sogenannten Traumfabrik zu
ertragen und das Streben nach diesen Träumen zum Lebenskonzept zu erheben.
## „Teufelswinde“
Neben den wirtschaftlichen Herausforderungen, die das Leben in der sich
immer weiter verteuernden und gleichzeitig von wirtschaftlichem Abschwung
betroffenen Stadt mit sich bringt, zeigt sich das auch in dem Zusammenleben
zwischen Mensch und Natur. Eine Natur, die das Leben in der Stadt
einerseits in ein goldenes Licht taucht, andererseits aber andauernd mit
seiner Zerstörung droht. Durch Erdbeben, Tsunamis oder eben durch die
regelmäßigen Santa-Ana-Winde, die nicht ohne Grund auch „devil winds“, al…
„Teufelswinde“, genannt werden, und Waldbrände anfachen.
Malibu insbesondere gilt, so beschrieb es der Stadtsoziologe Mike Davis in
seinem Buch „Ökologie der Angst“ von 1992, als die „Lauffeuer-Hauptstadt
Nordamerikas und wahrscheinlich der Welt“. Dort brenne es mindestens alle
zwei Jahre, so mancher Hausbesitzer erlebte innerhalb einer Generation
schon mehrere vernichtende Feuer. Die Vegetation der Region, Chaparral
genannt, hat sich daran angepasst: Pflanzen mit kleinen harten Blättern,
die die Verdunstung einschränken, dicker Rinde, die gegen kleinere Feuer
schützt, und Sämlingen, die besonders gerne in nährstoffreicher Asche
wachsen. [3][Der Mensch dagegen hat sich nicht mit der Ökologie der Gegend
arrangiert – im Gegenteil]. In seiner Bauwut und seinem Landhunger ist er
tief in die Feuerregionen eingedrungen, wider besseres Wissen.
## Streben nach Anerkennung und Selbstzerstörung
Wo die Tongva und Chumash, die ursprünglichen Bewohner des Landes,
regelmäßig das Unterholz kontrolliert abbrannten, wuchs stattdessen
Spekulation in die Höhe, die sich von regelmäßig auftretenden
[4][katastrophalen Feuern] nicht abhalten ließ. Auch der Autor Nathanael
West setzte seine Los Angeles gewidmete Schauergeschichte „Tag der
Heuschrecke“ von 1939 vor den Hintergrund der Feuer, die regelmäßig die
Stadt heimsuchten. In dem Roman beschreibt er wenig schmeichelnd
archetypische Angeleños und ihr Streben nach Anerkennung, Karriere und
Glück, das von Selbstzerstörung kaum zu unterscheiden ist.
Und vielleicht ist es eine ähnliche Form der selbstzerstörerischen
Realitätsverweigerung, die dazu einlädt, Häuser und Wohnungen in einer
Region zu bauen, die eine jährliche Feuersaison hat und in der
Erdbebendrills zum Schulunterricht gehören. Oder die junge Menschen aus den
ganzen USA, wenn nicht sogar der Welt, auf der Suche nach Ruhm in die Stadt
lockt und ein Leben ohne soziales Netz, ohne Kranken- oder eben
Feuerversicherung als gerechtfertigten Preis für die Chance auf den großen
Jackpot erscheinen lässt.
## Mieten über 20 Prozent gestiegen
Gleichzeitig werden es eben diese „blue collar“-Angeleños sein, bei denen
es unsicher ist, ob sie in ihre Heimatviertel zurückkehren können. Allein
seit den Neunzigern haben sich Immobilienpreise in vielen Teilen der Stadt
mindestens vervierfacht, schreibt die New York Times. Wer schon lange in
seinem Haus oder seiner Wohnung wohnt, könnte sich eine neue Immobilie im
gleichen Gebiet nicht mehr leisten.
Trotz Gesetzen gegen Preiswucher sind noch während der Feuer vielerorts
Mieten über 20 Prozent gestiegen. Andernorts wird Hausbesitzern, die vor
den sprichwörtlichen Trümmern ihrer Existenz stehen, Bargeld für ihre
Grundstücke angeboten, natürlich weit unter Marktwert. Innerhalb nur
weniger Tage ist dies zu einem derart großen Problem geworden, dass der
kalifornische Gouverneur Gavin Newsom vor wenigen Tagen einen Erlass gegen
unaufgeforderte Kaufangebote unter Wert in bestimmten Wohngegenden
unterschrieben hat.
## „Climate Gentrification“
Naturkatastrophen können zu verschiedenen Gentrifizierungs- und
Verdrängungsmechanismen führen: zum einen gibt es das Phänomen der „Climate
Gentrification“, bei der Nachbarschaften aufgrund ihres relativen Schutzes
vor Konsequenzen des Klimawandels zu neuer Beliebtheit aufsteigen. Zum
anderen aber zeigen Untersuchungen, etwa [5][der Entwicklung von New
Orleans nach dem Hurricane „Katrina“], dass Wohnviertel mit einem hohen
Grad an Zerstörung mit größerer Wahrscheinlichkeit vermeintlich
„aufgewertet“ werden. Die ursprüngliche Bewohnerschaft wird dabei oftmals
verdrängt. Zuletzt hat sich das nach den Bränden auf der hawaiianischen
Insel Maui in 2023 gezeigt: Viele Bewohner der nahezu vollständig
zerstörten Stadt Lāhainā leben anderthalb Jahre nach der Katastrophe an
anderen Orten. Soziale Netze, Gemeinschaften und Historie, zerrissen und
oftmals verloren.
Doch die Tendenz zur Realitätsverweigerung, die Los Angeles auch in dieser
Krise an seine Grenze gebracht hat, könnte auch die Chance auf Veränderung
sein: Über soziale Medien werden längst nicht mehr nur Spendensammlungen
organisiert, sondern auch Townhalls in betroffenen Gegenden der Stadt oder
innerhalb bestimmter Communities wie der Kunst- und Kulturszene. Oftmals
ganz ohne Beteiligung kommunaler Verwaltung.
## Hybris und Risikobereitschaft
Dabei werden etwa gemeinsame Positionen formuliert oder Kritik an
Politikerinnen wie der Bürgermeisterin Karen Bass oder dem ehemaligen
Bürgermeisterkandidaten und umstrittenen Immobilienentwickler Rick Caruso
geübt, der in der Krise durch Falschaussagen zur Wasserversorgung auf sich
aufmerksam machte. Es ist eine einzigartige Mischung aus Hybris und
Risikobereitschaft, die dieser Graswurzelorganisation die Hoffnung
verleiht, Verdrängungsmechanismen Einhalt gebieten zu können.
Dieses südkalifornische Amalgam aus Entschlossenheit, Resilienz und
Unnachgiebigkeit, die das Leben im paradiesischen Hochrisikogebiet
überhaupt ertragen und als erstrebenswert ansehen lässt, könnte also auch
die Lösung sein, um der Stadt ein ähnliches Schicksal wie Lāhainā oder New
Orleans zu ersparen.
Werden Graswurzelbewegungen Los Angeles vor den Mechanismen der
Verdrängung, die so viele andere Städte und Regionen betroffen haben,
schützen können? Realistisch ist das nicht. Aber realistisch war es auch
nicht, mitten in einem Feuergebiet und der Kontinentalplattenverwerfung den
Sehnsuchtsort der Popkultur zu erschaffen. Los Angeles lebt von dem Bravado
jener, die die Realität nicht anerkennen und ihr eigene Weltentwürfe
dagegenstellen.
Von den Madlibs und den Musiklehrern, die die nächste Producerlegende
ausbilden, von Nannys mit kleinen und großen Ambitionen, von seiner
Diversität und seiner Resilienz. Das Feuer und seine Nachwirkungen werden
LA noch lange beschäftigen. Es wäre nicht nur Südkalifornien, sondern auch
allen Regionen, die in Zukunft von solchen Extremwettersituationen
betroffen sein könnten, zu wünschen, dass Los Angeles einen Weg findet, aus
der Katastrophe einen Weg in eine mehr und nicht weniger gerechte Stadt zu
finden.
28 Jan 2025
## LINKS
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[4] /Braende-in-Kalifornien/!6062543
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## AUTOREN
Aida Baghernejad
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